Ein Vorbild
Am Freitag Abend habe ich mich mit meinem alten Deutschlehrer getroffen, der prägenden Persönlichkeit meiner Schulkarriere. Ich schätze mich noch immer glücklich, seine Schülerin gewesen zu sein: was ich bei ihm über den Umgang mit Texten gelernt habe, hat mich durch mein gesamtes Studium getragen und nutzt mir noch heute. Gemessen an den Maßstäben seiner Familie ein mißratener Sohn aus traditionsreichen Bürgerhaus, war sein Bildungsweg durch diverse Studienfächer und Universitäten auf der ganzen Welt noch disparater als der meinige – und das will etwas heißen. Am Ende nötigte ihn die Familie, irgendein Fach zu Ende zu studieren und so wurde statt er einer Koryphäe seines Faches – welches Faches auch immer, er hätte sicherlich fast alles herausragend bewältigt – Gymnasiallehrer in der Provinz. Aber was für einer! Nie sah ich ihn anders als im dreiteiligen Tweed-Anzug in der Schule, stets waren seine Umgangsformen tadellos und als Lehrer suchte er seinesgleichen. Er mied die einschlägigen Texte des Kurrikulums so weit es irgend ging und las lieber abseitige, gerne zeitgenössische Romane mit seinen Klassen. Die siebte Stunde nutzte er über Jahre hinweg zu Buchvorstellungen durch die Schüler und ich fühlte mich sehr geehrt, als mir Sophies Welt übertragen wurde, aber auch Die Brautprinzessin – vorgestellt durch meine damalige beste Feindin und später beste Freundin – fand seinen Zuspruch und er hätte auch Comics aus Entenhausen enthusiastisch aufgenommen, wenn man es nur mit dem richtigen Anspruch verkauft hätte. Gleich, ob Goethe oder Frank Baer gelesen wurde – wir konnten alles behaupten im Unterricht, solange wir nur mit Textstellen argumentativ gut aufgestellt waren. Am bemerkenswertesten war jedoch sein unendlicher Einsatz für die Schüler: in zwanzig Jahren als Vertrauenslehrer legte er sich mit unzähligen Kollegen an, die Schülerrechte mißachteten, unnachgiebig kämpfte er um jeden Punkt und jede Note, er kümmerte sich besonders und auch über die Verrentung hinaus um ausländische Schüler mit Problemen, ebenso wie er sich behutsam der leistungsstarken Streber mit Beliebtheitsproblemen annahm. Die schwierigsten Chaotenklassen waren für ihn – nachdem er sie etwas besser kennengelernt hatte – reizende junge Leute und nie habe ich ihn über die verkommene Jugend von heute jammern hören – wohl aber über intellektuell schlampige Kollegen und das drittklassige Lehrpersonal nachfolgender Generationen. In intellektuellen und gesellschaftlichen Belangen in mancher Hinsicht von latenter Arroganz, war er doch eine Zierde seines Faches. Als ich ungefähr sechzehn Jahre alte war, äußerte ich die Absicht, Wirtschaft zu studieren und er erklärte damals nachdrücklich: „Damenwahl, Wirtschaft ist nichts für Dich, das ist nicht sinnstiftend... überleg Dir das noch mal.“ Was ich damals nicht recht verstand, ist mir seither oft durch den Kopf gegangen und so rufe ich immer an, wenn ich mehrere Tage bei meinen Eltern bin und lasse mich von ihm einladen. Entweder zu Tee mit Keksen und einem abschließenden Sherry, oder nach dem Abendessen zu Wein und Zigaretten. Stets nimmt er mir den Mantel ab und hängt ihn auf, ich überreiche mein Mitbringsel (meistens Wein oder Schokolade, diesmal jedoch ein Kompendium französischer Literatur, in Kinshasa gefunden). Während er in der Küche Wein oder Tee vorbereitet, trotte ich wie ein Hund hinter ihm her, richte die obligaten Grüße meiner Eltern aus, bevor wir uns setzen. Auf sämtlichen Tischen und Tischchen stehen identische Kristallaschenbecher mit Nickelrand, er nimmt Platz im Schaukelstuhl, ich habe mittlerweile auch einen Stammplatz und dann plaudern wir. In regelmäßigen Abständen nimmt er eine Schachtel filterlose Gauloises aus der silbernen Dose auf dem kleinen Beistelltisch, entnimmt eine Zigarette, steckt die Schachtel zurück, schließt die Dose wieder. Nimmt ein Feuerzeug aus einem silbernen Becher, gibt mir Feuer, zündet seine eigene Zigarette an und dann rauchen wir. Gemeinsam sitzen wir in seiner Junggesellen Wohnung zwischen antiken Möbeln, Stichen mit Zuchtpferden und einem Gemälde irgendeiner Schlacht der napoleonischen Kriege, zwischen zustaubenden Bücherstapeln, Zeitungsbergen - Frankfurter Rundschau, gegen Alterskonservativismus – und Silberbehältnissen und unterhalten uns. Über den Krieg in Afghanistan und die Integrität deutscher Politiker, über den Niedergang des Bildungswsesens im Allgemeinen und in unserem Provinznest im Besonderen, über seine Schul- und Studienzeit im Nachkriegsdeutschland, über Thomas Mann und die verschiedenen Übersetzungen von Tolstoi, über Patricia Highsmith und amerikanische Milieustudien ebenso wie über die Tagebücher vom Klemperer. Ich gebe mir große Mühe, nicht zuviel und möglichst kluge Dinge zu sagen, damit er nicht lange nach meinem Schulabgang seine gute Meinung von mir revidiert und lerne dabei bis heute jedes Mal etwas dazu.

Kommentieren




nnier, Sonntag, 3. Januar 2010, 22:25
Solche sind es, an die man sich gerne erinnert, ich verstehe das sehr gut.

arboretum, Montag, 4. Januar 2010, 22:05
Sie Glückliche. Mein Deutschlehrer in der Mittelstufe war ein Alkoholiker, die Deutschlehrerin in der Oberstufe hatte dafür einen mittleren Knall und redete dauernd von ihrer Tochter (immerhin hat sie in unserem LK nicht aus deren Tagebuch vorgelesen). Mein Mathe- und Physiklehrer in der Mittelstufe war einer von denen, die sich an junge Schülerinnen heranmachen - wir vermieden es kollektiv, mit ihm alleine irgendwelche Physikexperimente vorbereiten zu müssen. Mein Latein- und Russischlehrer war ein Choleriker, ein Jahr musste ich ihn auch in Englisch ertragen, aber zum Glück wechselten die Englischlehrer in den Klassen 7 bis 10 ja jedes Jahr. Die Englischlehrerin in der Oberstufe war dafür auch wieder eine Alkoholikerin.

So einen Lehrer wie Ihren Deutschlehrer würde ich wahrscheinlich auch besuchen.

damenwahl, Montag, 4. Januar 2010, 23:23
Ja, Herr nnier, ich hatte Glück und ich erinnere mich an einige. Natürlich, Frau Arboretum, gab es auch bei uns die üblichen Verdächtigen rechter Gesinnung, oder mit mehr Interesse an den jungen Damen als schicklich, nicht zu reden von etlichen mit magerer beruflicher Qualifikation, aber manche waren wunderbar.

teutobrecht, Dienstag, 5. Januar 2010, 07:06
... ja, solche Lehrer sind leider eine Seltenheit, hatte auch so einen, in Latein und Geschichte, ist aber schon etwas laenger her.

Habe die Volksschule ja in einem Dorf in der Naehe der beruehmten kleinen dummen Stadt an der Donau besucht, an der moeglicherweise afrikanische Zustaende herrschten. Wir "durften" im Herbst noch die Apfel von den Baeumen des Herrn Hauptlehrers pfluecken, von diversen anderen durchweg privaten Besorgungen abgesehen, im Winter den grossen Ofen im Klassenzimmer schueren, hin und und wieder auf Holzscheiten knien, was als paedagogische Sondermassnahme gedacht war, von aehnlichen Massnahmen nicht zu reden. Von Lernfortschritten war nicht allzu viel zu melden, was dann zum ersten mal ruchbar wurde, als die ersten drei Kandidaten in Ingolstadt die Aufnahmepruefung ins Gymnasium bzw. die Oberrealschule, wie das damals noch hiess, zu bestehen suchten.
Aber ist lange her, wie gesagt, aber noch nicht vergessen.

damenwahl, Dienstag, 5. Januar 2010, 11:39
Mein Vorbild war auch autoritär, manchmal - aber nicht so. Wobei es einen Lehrer gab, der ungezogene Schüler mit seinem Schlüsselband bewarf - bis diese Methode bekannt wurde und er vorzeitig in Ruhestand geschickt.