Montag, 21. März 2011
So fern und doch so nah
Meine Eltern waren immer sehr darauf bedacht, ihren Kindern nur pädagogisch wertvolle Lektüren angedeihen zu lassen. Vor einigen Jahren habe ich mit meiner Schwester zusammen auf dem Dachboden gesessen und Kisten sortiert: fünf mit eben jenen wertvollen Büchern (oder solchen, die wir einfach toll fanden), weitere fünf mit unzähligen „Bille und Zottel“, „Tina und Tini“ und „Hanni und Nanni“ Schund. Ich kann mich nicht präzise erinnern, aber ich nehme an, daß „Die Wolke“ und „Die letzten Kinder von Schewenborn“ in den Kisten zugunsten unserer zukünftigen Kinder gelandet sind, weil wertvoll. Wenn, dann allerdings sicher mit Zögern – als Kind nämlich, daran kann ich mich noch sehr gut erinnern, fand ich beide Bücher ganz schrecklich.

Es war sicher schon einige Jahre nach Tschernobyl, die Katastrophe selbst ist ebenso wie der Mauerfall an meinem kindlichen Gemüt vorbeigegangen. Aber so ein Buch vergißt man nicht. Schon damals war mir irgendwie klar, daß es sich um wertvolle Literatur handelt und ich das Werk eigentlich gut finden sollte, um als intelligente junge Dame zu gelten. Vermutlich habe ich mich auch dahingehend geäußert – tatsächlich aber fand ich es einfach nur fürchterlich. Gruselig. Beängstigend. Und kein bißchen berührend. Das war nicht meine Realität.

Schon dieser Name: Janna-Berta. So hießen Kinder nicht. Blöder Name. Dann, daß die Eltern nicht da waren, um sich um ihren Nachwuchs in Krisensituationen zu kümmern – kam mir auch völlig unrealistisch vor, und auch beängstigend. Ich erinnere mich ganz vage an eine Szene auf einer Autobahn, ich hatte schon nicht richtig begriffen, warum die Kinder überhaupt mit Fahrrädern auf der Autobahn unterwegs waren (verboten! hatte ich im Fahrradkurs gelernt!), noch viel weniger verstand ich allerdings, warum sich niemand um die beiden kümmerte. Und warum es auf der Autobahn nicht weiterging mit Autos. Staus, ja, das kannte ich, aber Staus über Tage? Völlig absurd, das gab es doch gar nicht. Jedenfalls nicht in meiner Welt. Einerseits war das alles zwar ziemlich realitätsfern aus der Perspektive einer wohlbehüteten Tochter – andererseits aber auch sehr bedrohlich. Ich hatte Angst vor solchen Szenarien und dolles Mitleid mit den Kindern, häßliche Namen hin oder her. Die Identifikation jedoch blieb aus, ich fand das Buch diffus bedrohlich, aber nicht berührend.

Am meisten zu kämpfen jedoch hatte ich mit dem Konzept der Strahlenkrankheit. Mit meinen elf oder zwölf Jahren wußte ich sehr wohl, daß man nicht nur an äußerlichen Verletzungen mit viel Blut sterben kann, sondern auch an unsichtbaren Sachen wie Pest oder Gift, aber all das war ganz klar physiologisch, das konnte ich mir vorstellen. Sogar Gift und Dämpfe. Aber Strahlen? Etwas, das man nicht anfassen, sehen oder riechen kann, sondern nur mit tickenden Geräten messen? Das zu begreifen fällt mir bis heute schwer. Und damals ging es einwandfrei über mein Verständnis hinaus – so ein Bedrohungsszenario war so völlig weit weg, so unvorstellbar, daß ich damit einfach nichts anfangen konnte. Zu Fantasy-Romanen voller absonderlicher Ungeheuer hatte ich mehr Bezug, das erhob zumindest keinen Anspruch auf Realität, war unterhaltsam und ging trotzdem gut aus.

Dieses grauenvolle Kinderbuch jedoch war nicht unterhaltsam, sondern nur eine endlose, trostlose Quälerei, hilflose Kinder, hilflose Erwachsene, unsichtbare Gefahren, unverständliche Krankheiten – ich habe es natürlich durchgelesen, aber danach nie wieder angerührt und bin weiteren Büchern dieser Autorin wenn möglich aus dem Weg gegangen. Heute würde ich sagen, daß ich dafür einfach noch zu jung und mit der Botschaft überfordert war - frage mich aber trotzdem, ob das wirklich kindgerechte Lektüre ist.

Zwanzig Jahre später stelle ich fest: ich kann mit dem Konzept der Strahlenkrankheit immer noch nichts anfangen. Es entzieht sich mir, damals wie heute. In dem Maße, in dem ich darüber lese, erinnere ich mich an aufgeschnappte Wissenshäppchen: Dekontamination, weil Gegenstände (alle!) die Strahlung aufnehmen und weitergeben. „Walking-Ghost-Syndrom“, damals schon grauenerregender als ein Bataillon Fantasy-Zombies. Natürlich habe ich inzwischen das Vermögen, die physikalischen Erklärungen dahinter zu verstehen: Zellteilung, Schädigung des Erbguts, Krebs. Aber die Ursache, Strahlung, bleibt diffus. Sehr, sehr schwer greifbar.

Vermutlich haben die Japaner im Moment andere Sorgen, aber trotzdem frage ich mich: wie geht man damit um, wenn diese Szenarien aus Alpträumen plötzlich Realität werden? Wenn man weiß, daß man den Rest seines Lebens mit all den gesundheitlichen Risiken leben muß, quasi einer tickenden Zeitbombe im Körper? Und was sind das für Persönlichkeiten, die diese Gefahr bewußt auf sich nehmen in Fukushima? Geht es ihnen auch so, daß die Gefahr nicht faßbar bleibt und eben deshalb irreal? Tut man sowas aus Heldenmut? Schrecklich, nicht zu wissen, wie schnell das Ende kommen wird. Warum machen Menschen sowas? Wie kann man überhaupt nach so einem Übermaß an Katastrophen morgens aufstehen?

Auch das entzieht sich meinem Verständnis. Vor einem Jahr hatte ich Gelegenheit, mit einem Japaner zusammenzuarbeiten. Wir verstanden uns aus vielerlei Gründen nicht übermäßig gut, aber an einem Punkt dann überraschenderweise doch: bei der Feststellung nämlich, daß wir beide Nationen angehörten, die Schuldige des 2. Weltkriegs waren, und wie man damit fast zwei Generationen später umgeht. Das war eine Gemeinsamkeit. Seit einer Woche denke ich an ihn, an sein Volk, an das unfassbare Leid, und wünsche von ganzem Herzen, daß das Schicksal Japan nach all dem Unglück wenigstens eine zweite Atomkatastrophe und die schlimmsten Alpträume meiner Kindheit erspart.

Permalink (48 Kommentare)   Kommentieren