Dienstag, 5. Juli 2011
Die Individualisierung
Ach! Der Verfall der Gesellschaft im Allgemeinen. Ganz gleich, was die Moderne an materiellen Annehmlichkeiten zu bieten hat, dieses Argument schlägt alles. Von jugendlichen Gewalttätern über böse Investmentbanker ohne Skrupel, von zerschlagenen Gartenzwergen bis hin zu korrupten Politikern: alles gesellschaftlicher Verfall und alles ein Ausfluss der üblen Individualisierung. Jeder kämpft für sich allein. Früher haben Familien und Gruppen noch zusammengehalten und man fühlte sich dem Gemeinwohl verpflichtet. Heute ist alles schlechter.

Kann sein. Ich suche in vielen meiner Studienkollegen vergeblich nach dem protestantischen Arbeitsethos, das meine Eltern mir vermittelt haben. Die eigene Arbeit, das war nicht nur Broterwerb, um ein angenehmes Leben zu finanzieren, es war auch ein Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft im weitesten Sinne – für den Schlachtergesellen ebenso wie für den Arzt. Ich bezweifele, daß die Investmentbanker meines Bekanntenkreises für solche Aspekte besonders empfänglich sind, der höhere Sinn ihres Berufes erschöpft sich für sie in liquiden Kapitalmärkten und effizienter Allokation, bestenfalls.

Andererseits bin ich nicht sicher, ob die Großkapitalisten der industriellen Revolution wirklich so viel altruistischer waren und am Gemeinwohl interessiert. Korruption als Straftat hat keine besonders lange Geschichte: es war früher einfach die Regel und gesellschaftlich kein großer Makel. Man denke nur daran, wie Napoleon seine sämtlichen Geschwister auf europäische Throne brachte, wie Hochzeiten strategisch arrangiert wurden, wie die europäischen Industrienationen die Flächen in Afrika bei der Berliner Konferenz untereinander verschacherten.

Vor hundert Jahren erwarben Kaufleute Adelstitel für ihre Kinder durch geschickte Heiraten bei Mitgiften, heute erwerben sie Doktortitel durch Ghostwriter und Universitätsspenden. Damals wie heute hielten sich die Titelträger für die eigentliche Elite und fühlten sich berufen, die Geschicke des Landes zu lenken -wo ist da der Unterschied? Umgekehrt könnte man auch sagen, es spricht eigentlich für den Fortschritt in unserer Gesellschaft, daß der durch Leistung erworbene akademische Titel vielen heute erstrebenswerter scheint als der Adeltitel. Und daß Korruption immerhin eine Straftat ist.

Vielleicht war die individuelle Moral früher besser. Vielleicht waren aber auch die Maßstäbe ans Wohlverhalten einfach andere und die Informationen schwerer verfügbar, so daß Missetaten nicht so oft, schnell und ausufernd in der Öffentlichkeit breitgetreten wurden. Ich denke zum Beispiel an unmenschliche Erziehungsmethoden in KinderheimenAnstalten für Schwererziehbare, über die sich damals niemand aufregte. So weit her kann es da ja mit der individuellen Moral nicht gewesen sein?

Die Erosion von sozialen Netzen und Gemeinschaften, Nachbarschaften, Familienzusammenhalt – das mag schon zutreffen. Aber dafür haben wir heute staatsfinanzierte soziale Netze, die vieles davon überflüssig machen. Früher mussten Familien nolens volens zusammenhalten, Eltern Kinder ernähren, dann Kinder Eltern ernähren, alleinstehende Onkeln und Tanten gleich mit, es gab ja keine breite Absicherung für alle. In dem Moment aber, wo die wirtschaftliche Notwendigkeit solcher Netze entfällt, sucht man sich vielleicht lieber die Gesellschaft, die einem wirklich behagt – statt an Familienbanden zu hängen, wenn man die heimatliche Provinz als bedrückend empfindet.

Genausowenig braucht man nachbarschaftliche Beziehungen, denn ein Kilo Zucker oder zwei Eier bekommt auch um Mitternacht noch an der Tankstelle und die Pakete kann man auch wochenends aus der Postbox holen. Heute kann sich jeder in totaler Freiheit sein soziales Umfeld selber suchen und das Risiko, mit irgendeinem Lebensentwurf anzuecken, ist viel geringer als früher. Die Möglichkeit, für jede noch so verrückte Neigung gleichgesinnte zu finden, ist hochgradig individuell – und für manche Minderheit sicherlich ein großer Gewinn.

Wir suchen uns die Kontakte, die wir aus Neigung wirklich pflegen wollen, passend zu jeder Lebensphase, alle sehr individuell. Aber ist das zwangsläufig schlechter? Traurig ist es da, wo Brüche am Generationenübergang entstehen: wo alte Menschen alleine zurückbleiben, weil die Jugend weiterzieht, während die alten Leute auf ihre Kinder gezählt haben. Daraus allerdings gleich den Niedergang unserer Zivilisation zu konstruieren, halte ich für übertrieben. Und wer weiß: wenn wir erst mal ganz Europa aufgekauft haben, als Nation Insolvenz anmelden und die staatlichen Sicherungssysteme zusammenbrechen: vielleicht kommt dann ja die schöne alte Zeit der dörflichen oder kleinstädtischen Gemeinschaft wieder, wo man die Nachbarn halbe Tage am Fenster beobachten, ob man auch die Straße pflichtgemäß gekehrt hat und welche Damen wann Männerbesuch hatten.

Auch wenn es an der Gegenwart vieles zu kritisieren gibt, wenn ich mir vieles anders wünsche: so toll war es vielleicht früher auch nicht. Jedenfalls nicht alles. Das muß auch mal gesagt werden.

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