Das Diktat der Effizienz
Es ist schön, wenn man seine Vorurteile hegen und pflegen kann. Noch schöner jedoch ist es, seine Vorurteile zum Besseren revidieren zu können. So geschehen vor kurzem, in einer Debatte mit Kollegen über Wissenschaftsphilosophie. Entgegen landläufiger Annahmen gibt es durchaus manchen im Wissenschaftsbetrieb, der nach Sinn und Grenzen von forscherischer Erkenntnis fragt. Während wir in fröhlicher Runde bei einem Glas Wein über die Vor- und Nachteile rationaler Menschenbilder diskutierten und wie gültig diese international in verschiedenen Kulturen seien, streiften wir auch die Frage nach dem allesbestimmenden Konzept der Effizienz als Kernbestandteil westlicher Ideologie, moderner Marktkonzepte und unseres Alltags.

Ich bin manchmal ein bißchen langsam im Kopf und mußte über die Frage länger nachdenken, vor allem ob solche Orientierung anerzogen sei, Zeitgeist, allgemeine Übereinkunft – und als ich fertig gedacht hatte, waren die anderen längst zum nächsten Thema weitergezogen.
Und so nahm ich die Frage mit nach Hause, mit ins Bett und jetzt mit hierher. Ich persönlich gestehe, daß ich gerne effizient arbeite und darüber zumeist nicht einmal nachdenke. Ich schreibe dringende Mails sofort, arbeite kleine Aufgaben zuerst ab, um den Kopf für große frei zu haben, ich mache morgens im Büro zuerst das Fenster auf (frische Luft!), dann den Rechner an, dann lege ich die Jacke ab, logge mich ein, hole als nächstes Kaffee und wenn ich wieder da bin, ist der Rechner startklar. Das ist effizient, weil ich keine Zeit mit warten vergeude. Und ich mag das.
Ich habe als Berufseinsteiger nie den Sinn darin gesehen, drei Stunden für eine Frage zu recherchieren, die der Vorgesetzte am Schreibtisch gegenüber in fünf Minuten beantworten kann – das wäre ineffizient. Ich habe auch kein Verständnis für den ältlichen Kollegen, dem ich beim mühseligen Zusammenbasteln seiner Präsentation zusehen muß, nur falls er Fragen hat – während ich lieber eigenen Aufgaben nachginge. Das ist Zeitverschwendung und die mag ich nicht.

Immerhin kann ich mich damit entschuldigen, daß mein Effizienzwahn zielgerichtet ist: je optimaler ich die Arbeitszeit nutze, desto mehr bleibt frei für die privaten Vergnügen. Bücher ohne Formeln zum Beispiel, Weinabende mit Shiraz und Kollegen bis nachts um halb zwei, auch wenn der Wecker am nächsten morgen um halb sieben klingelt. Muß man halt am nächsten Tag etwas effizienter arbeiten, damit man den verlorenen Nachtschlaf aufholen kann.

Schaue ich mich in meiner Generation um, befinde ich mich mit meiner Einstellung in weitläufiger Gesellschaft. Viele ehemalige Studienkollegen arbeiten, um zu leben, sie arbeiten sogar viel, mehr oder weniger effizient, schielen aber aus dem Augenwinkel zumeist aufs Privatleben. Möglicherweise haben sie das Effizienzprinzip in ihrem Alltag nicht ganz so in kleinen Handlungen veräußerlicht wie ich, aber verinnerlicht ist es allemal. All die Investmentbanker glauben selbstverständlich, daß Kapitalmärkte effizient sind. Derivate und Kreditverbriefungen auch, die sind ja gut für Marktliquidität. Überhaupt sind arbeitsteilige Märkte das Mantra unserer Zeit – es ist ja so effizient, wenn die billigen Analphabeten in China unsere Hosen nähen und wir ihnen dafür deutsche Ingenieurskunst auf vier Rädern liefern. Trotz Transportkosten. Wegen ebenjener Transportkosten ist es sogar wirtschaftliche effizient, Nordseekrabben zum schälen ans Mittelmeer zu verfrachten und wieder zurück ins Fischgeschäft in St.-Peter-Ording – ist ja effizient. Effizienter, als teure Deutsche pulen zu lassen.

In den meisten Paarbeziehungen hört die weibliche Hälfte der Kinder wegen auf zu arbeiten, denn er hat das höhere Gehalt – umgekehrt wäre nicht effizient. Einkaufen bei Aldi ist effizient, wenn man dafür Zeit hat – einkaufen in der Feinkostabteilung vom Kaufh*f aber auch, wenn man wenig Zeit hat und das Geld egal ist. Ins Ausland gehen Schüler während der elften Klasse, denn da verpasst man nichts, und ein paar Jahre später hat der Erstsemester nur eine Frage: welches Buch müssen man auswendig können, um die Klausur zu bestehen? Die Bahn taktet ihre Anschlüsse – oft zum Leidwesen der Kunden – sehr knapp, denn Zeit ist Geld und wer möchte schon auf Bahnhöfen Zeit vertrödeln. Wer zum Arzt geht und einen Termin hat, wird nach zwanzig Minuten unruhig und putzt nach vierzig die unschuldige Praxishelferin runter, in Ämtern (und sogar bei der Bahn) muß man inzwischen kleine Nummern ziehen, damit effizient und geordnet gewartet wird. Meine Postfiliale hat es auf die Spitze getrieben und zeigt die Wartezeit in Minuten an.

Einzig meine überromantische beste Freundin erwägt eine internationale Eheschließung trotz finanzieller Nachteile – obwohl das ineffizient ist. Die ist aber auch anders, mir scheint oft, daß ein wesentlicher Teil westlicher Indoktrination an ihr vorbeigegangen ist.

Als in unserer lustigen Weinrunde ein Kollege fragte, ob wohl dieser Effizienzwahn anerzogen sei, hätte ich natürlich laut zustimmen sollen, wäre meine Leitung nicht so lang gewesen. Denn anderswo sieht die Welt ganz anders aus. Damit meine ich nicht die Söhne aus besserem Hause, die sich dank familiärer Absicherung aus dem Hamsterrad der beruflichen Effizienz und Karriereplanung verabschieden dürfen, die höheren Töchter, deren Ausbildungszeit lediglich Überbrückung ist, bis irgendein anständiger junger Mann ihr Vermögen heiratet.

Vor allem sieht die Welt in Afrika ganz anders aus. Selbstverständlich wägt der deutsche oder amerikanische Taxifahrer bei Beginn einer Fahrt ab, ob die kürzeste Strecke auch die schnellste ist. In Kinshasa waren lediglich die über Jahre gedrillten geschulten Fahrer meines Arbeitgebers so vorausschauend – die Chauffeure der Mietwagenfirma stellten sich jeden Tag unverdrossen in denselben, vorhersehbaren Stau. Warum auch nicht – wartet man doch auf Busse überland schon mal ein paar Stunden oder hofft einfach auf die nächste Mitfahrgelegenheit. Konferenzen gehen grundsätzlich eine Stunde später los als vorgesehen, weil bei den Teilnehmern Wichtigkeit und Verspätung in einem proportionalen Verhältnis stehen und sich alle gegenseitig überbieten.

Ich hatte gemeinsam mit einem lokalen Kollegen einige Termine mit kongolesischen Geschäftsleuten vereinbart. Selbstverständlich hatte ich meine Auswahl nach räumlicher Nähe und Fahrtzeit geplant und rechtzeitig zum Aufbruch gemahnt. Der Kollege hingegen schleppte mich tatsächlich zu einem Termin mit über zwei Stunden Anfahrtszeit und kaum jemals waren wir bei seiner Hälfte pünktlich – aber das machte gar nichts. Die Gesprächspartner schienen unverdrossen, wir kamen eben, wenn wir kamen, dann wurde die Arbeit unterbrochen, wir saßen zusammen, redeten, und dann fuhren wir wieder. Nach einiger Frustration thematisierte ich die Angelegenheit mit dem Kollegen, und mußte tatsächlich – zu meinem eigenen Unglauben – erklären, warum zwei Stunden im Auto nicht gut seien. Das Konzept „Zeit ist Geld“ war ihm völlig fremd, der Gedankengang, was man in den vier Stunden Fahrzeit alternativ hätte machen können, so fern wie der Mond.

Ich kann nur mutmaßen, warum das so ist. Ausbildung, Erziehung, sicherlich. Vielleicht auch, aus wirtschaftlicher Perspektive: mangelnder Anreiz. Die afrikanische Wirtschaft ist nicht so vernetzt und in die Globalisierung eingebunden wie die Industrieländer – hier beschwert sich niemand, wenn Termine platzen, zu spät kommen, Prozesse dauern. Die Handvoll Europäer hat nicht genug Einfluß und arrangiert sich mit den Gegebenheiten. Von außen also gibt es keinen Einfluß. Und von innen tickt die Welt ohnehin anders. Angesichts der frappierenden Arbeitslosigkeit ist für sehr viele Menschen Zeit kein Geld – sie haben sogar viel zu viel Zeit. Und selbst jene, die Arbeit haben, schicken eben für die lästigen Amtsangelegenheiten, bei denen man natürlich ewig wartet, einen der unzähligen arbeitslosen Verwandten – Zeit ist in Afrika für die meisten Menschen kein knappes Gut, scheint mir. Im Gegenteil: Zeit ist so reichlich vorhanden, daß damit gespielt wird. Machtspiele um Verspätungen und Wichtigkeit. Machtspiele mit der Polizei auf der Straße um Bestechungsgelder – in der Hoffnung, der stets eilende Europäer möge weniger Verhandlungszeit mit Geld erkaufen. Der Polizist hingegen hat ja Zeit und kann es sich leisten, zu diskutieren.

Korruption und Vetternwirtschaft hebeln die Marktwirtschaft weiter aus. Wozu sollten sich junge Menschen effizient um eine rasche Ausbildung bemühen – eine Stelle bekommen die einen ohnehin wegen ihrer Beziehungen und die anderen ohnehin ganz sicher nicht. Wozu alle Unterlagen für einen Amtsbesuch ordnungsgemäß vorbereiten, oder sammeln und abheften? Am Ende regiert die beamtliche Willkür, beklagen über Mißwirtschaft kann man sich nirgends, also wandern Belege für bezahlte Gebühren im Zweifel in irgendeine Schublade, um nie wieder verwendet zu werden.

Es ist ein Klischee, aber im Kongo liefen die Uhren anders. Als Europäer, gefangen zwischen dem Effizienzdruck von zu Hause, der Erwartungshaltung an Ergebnisse und Erfolge und andererseits den Hürden und Einschränkungen in Afrika, möchte man manchmal schier wahnsinnig werden. Zwei Welten reiben sich aneinander und man selbst steckt dazwischen und wird zermürbt zwischen Steinen, die beide gleichermaßen unnachgiebig sind. Das europäische Leistungsdenken, fixiert in Vorgaben, Zielvereinbarungen und Abgabefristen – die afrikanische Trägheit, bei der man durch jede Verrichtung, die Afrikaner miteinbezieht, aufgehalten wird, weil die Abläufe unberechenbar sind.

Manchmal jedoch ertappt man sich bei neidischen Blicken auf die Frau, die mit ihrem Brotkorb die Straße entlangwandert, ohne Hast, ohne Eile. Ich selbst galoppiere nach getaner Arbeit stets nach Hause, bestrebt, möglichst viel vom Abend zu haben. Sie hingegen lebt für den Moment, nicht für die Zukunft.

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jean stubenzweig, Donnerstag, 11. November 2010, 11:37
Ich gehe seit je, also auch während meiner beruflich aktiven Zeit, selten einen Gang unüberlegt, nehme alles mit in konsequent logischen Abläufen, aber alleine dieser Effizienz wegen: «je optimaler ich die Arbeitszeit nutze, desto mehr bleibt frei für die privaten Vergnügen.» Und sei es, anderen dabei zuzuschauen, wie sie sich für nichts und wieder nichts als mehr Geld abrackern. Das habe ich von Papa gelernt, während meine Mutter reinem Aktionismus verfallen war. Das am Rande zu den Wurzeln (selbst)bestimmten Lebens oder auch Sozialisation.

damenwahl, Donnerstag, 11. November 2010, 11:44
Ich ticke da ähnlich - und doch wünsche ich mir manchmal, anders zu sein. Entspannter. Ohne dieses Effizienz-Grundrauschen.

ilnonno, Donnerstag, 11. November 2010, 12:11
Oh, schönes Thema und schön beschrieben.

Das kommt jetzt wahrscheinlich wie stinkendes Eigenlob daher, aber in der Grundschule merkte ich bald, dass ich meistens viel weniger Zeit brauchte als vorgegeben. Das führte dazu, dass ich in der vierten Klasse, in der ja angeblich die Weichen für den Rest des Lebens gestellt werden, kaum mehr als zwei Stunden täglich in unserer Dorfschule verbrachte. Die für mich ideale Lehrerin hatte erkannt, dass es wenig Sinn hat, wenn ich mich halbe Tage langweile. So hatte ich unendlich Zeit zu lesen, fußballzuspielen oder wie man sonst den Tag verbringen kann.

Dass ich mich auch den Rest der Schulzeit kaum anstrengen musste hing und hängt mir dauerhaft nach. Führte aber dazu, dass ich alles, was ich tun will, so schnell wie möglich erledige. An Effizienz habe ich dabei nie gedacht, es ging immer nur darum, Freiräume zu schaffen. Es kann allerdings passieren, dass ein Thema derart Besitz von mir ergreift, dass ich mich wie ein Hund in einen Knochen reinbeiße.

Nur "müssen" geht immer wieder sehr schlecht, da verfalle ich regelmäßig in sehr ineffiziente Verweigerung und Aufschieberei. Ein paar Jahre Italien haben das natürlich kein Bisschen verbessert. Ohne drei Stunden Mittagspause geht wenig.

jean stubenzweig, Donnerstag, 11. November 2010, 12:34
Es lebe hoch, das ruhige Leben.

energist, Donnerstag, 11. November 2010, 13:27
Effizient zu sein, werte Frau Damenwahl, ist sehr einfach. Ganz bedeutend schwieriger ist es aber, effizient in den richtigen Kriterien zu sein. Und diese erstmal zu finden.

Zu viele Beispiele kenne ich an Menschen, die Muster der Effizienz sind, ihren Tag mit GTD und 5-Minuten-Slots planen, ihr Mittagessen im Stehen einnehmen oder beim Tippen von Blogkommentaren (Damn, Eigentor.), Termine übergenau einhalten und E-Mails innerhalb von Minuten sinnvoll beantworten. Am Ende vom Tag, bzw. eher am Ende vom Jahr bleibt aber wenig übrig. Effizienz alleine kann einen auch ganz einfach von echt Sinnvollem abhalten.

Als Ingenieur ist das Problem wohlbekannt: wo ziehe ich die Systemgrenzen? Ihr Beispiel – drei Stunden recherchieren gegen fünf Minuten Nachfragen beim Prof – kann ich wunderbar ins Gegenteil verkehren, wenn ich nicht die damit verbratene Zeit sondern den Erkenntnisgewinn als Maßstab nehme. Nur daß wir uns nicht falsch verstehen – ich möchte Ihnen das nicht unterstellen, ich kenne Ihre Maßstäbe ja gar nicht.

Außerdem: Glückwunsch zu Ihrer ineffizienten besten Freundin. Wenn alle um einen herum gleich ticken und denken fehlen doch ganz wichtige Anstöße und Kontraste. (Ich zumindest fühlte mich dann verarmt. Gottseidank ist meine beste Freundin ebenfalls ineffekitv. Und wunderbar verrückt.)

damenwahl, Donnerstag, 11. November 2010, 15:19
Die Systemgrenzen sind immer gerade da, wo ich sie brauche. Und natürlich macht Effizienz gerade dann besonderen Spaß, wenn man am Ende mehr Zeit für sich gewinnt!

strelnikov, Donnerstag, 11. November 2010, 14:28
Deshalb fahre ich gerne beruflich mit der Bahn. Die Reise ist bestimmt durch ein höhrere Macht, es gibt kein schneller fahren, kein Überholen, kein Akürzung. Das empfinde ich als ein echte Freiheit im Hamsterrad Arbeit.

damenwahl, Donnerstag, 11. November 2010, 15:20
Mittlerweile sehe ich das ähnlich - aber manchmal, wenn ich es wirklich eilig habe, werde ich fast genauso hibbelig wie im Auto. Letztlich doch eher Effizienz: in der Bahn kann ich wenigstens arbeiten und die Reisezeit nutzen.

terra40, Donnerstag, 11. November 2010, 18:05
Sehr interessant!
Zwei Fragen die (wie bei Ihnen) sich bei mir lange im Kopf aufhalten:
(1) was, bitte, ist der genaue Unterschied zwischen Effizienz und Effektivität?
(2) Stimmt diese Reihenfolge:
(a) homo ludens (b) homo faber (c) homo sapiens (d) homo effizientis (?)
Gruß, T.

destello, Donnerstag, 11. November 2010, 18:34
In der IT bedeutet Effektivität schlicht, dass das Programm macht was es machen soll (hört sich selbstverständlich an, ist es aber bei komplexen Algorithmen überhaupt nicht). Effizienz bedeutet, dass es das Programm mit so wenig Ressourcen wie möglich tut (Zeit, Speicherplatz, CPU-Nutzen).
Anderes Beispiel: in der Pharmazeutik bedeutet Effektivität, dass ein Medikament wirksam gegen die spezifische Krankheit ist. Effizienz bedeutet mit sowenig Nebenwirkungen wie möglich.
In der Umgangssprache werden Effektivität und Effizienz hingegen oft gleichwertig benutzt (im Sinne der Effizienz).

damenwahl, Donnerstag, 11. November 2010, 19:29
Haha, wie immer sind die Wirtschaftswissenschaften der Verlierer vom Dienst. In der Ökonometrie ist ein "effizienter Schätzer" einer, der den Koeffizienten "so gut wie möglich" schätzt, wobei es dafür diverse Kriterien gibt.

ilnonno, Donnerstag, 11. November 2010, 22:15
Ich hätte das viel simpler ausgedrückt: wenn ich jemanden umnringen will und er ist dann tot, das ist effektiv. Wenn ich nur einen Messerstich brauche und mir da Hemd nicht versaue (und nicht erwischt werde), dann war das effizient.

damenwahl, Freitag, 12. November 2010, 11:42
Sehr pragmatisch zusammengefasst, vielen Dank, lieber ilnonno.

alterbolschewik, Samstag, 13. November 2010, 14:17
Ich halte Effizienz als handlungsleitendes Kriterium für eine wahre Geissel der Menschheit. Effizienzdenken tötet genau das ab, was zumindest in meinem Menschenbild, ganz wesentlich das Menschsein ausmacht: Phantasie. Letztendlich läuft das Streben nach Effizienz immer darauf hinaus, daß man Prozesse versucht zu optimieren, Leerläufe zu eliminieren, sich überlegt, wie man das, was man schon immer machte, in weniger Zeit und mit weniger Aufwand machen kann. Statt vielleicht einen Schritt zurückzutreten, und die Prozesse selbst in Frage zu stellen.

Ein schönes und einfaches Beispiel liefert der Text selbst: Man kommt ins Büro, schaltet erst den Rechner ein und holt sich dann einen Kaffee, nicht umgekehrt, weil das nicht effizient wäre. Die Parameter selbst werden nicht hinterfragt: Der Rechner braucht halt zu lange, um zu booten, also nutzt man diese Zeit, um etwas anderes zu tun, was man so oder so auch getan hätte. Man könnte aber auch einmal einen Schritt zurücktreten und sich die Frage stellen: Warum braucht der Rechner so lange? Könnte man das nicht beschleunigen? Dann setzt man sich hin, schaut, ob man mit den BIOS-Einstellungen herumspielen kann, ruft die IT-Abteilung an, ob man die Kiste statt herunterzufahren nicht irgendwie in einen Sleep-Modus versetzen kann, der sich deutlich schneller wieder reaktivieren läßt etc. Vielleicht bringt das alles nichts und ich habe am Ende ein, zwei Stunden vertrödelt. Aber ich habe einiges gelernt über die BIOS-Einstellungen meines Rechners, habe mal wieder mit denen aus der IT geredet, die ich sonst nur beim Betriebsauflug sehe, und so weiter. Ich habe meinen Horizont und damit auch meinen zukünftigen Handlungsspielraum erweitert.

Effizienzdenken läßt mich Dinge immer so machen, wie sie immer schon gemacht wurden, denn das ist in der Regel am effizientesten. Man überlegt nicht, ob man Dinge nicht ganz anders machen, oder noch besser: vielleicht überhaupt bleiben lassen kann. Innehalten, zurücktreten, herumspielen und ausprobieren, das alles geht verloren, wenn man sich auf Effizienz kapriziert.

Wenn ich mir alleine die Effizienzsteigerunsbemühungen an den Universitäten anschaue, dieses Bachelor- und Mastergedöns. Ich habe mir während meines Studiums den Luxus geleistet, ein Jahr lang völlig sinnlos Altgriechisch zu lernen. Ich habe Vorlesungen und Seminare in Fächern besucht, wo ich nichts verloren hatte. Ich habe die Regelstudienzeit deutlich überschritten. Ich bereue nichts davon, im Gegenteil, ich bin stolz darauf.

Und wenn ich heute eine Arbeit in Angriff nehme, bin ich in der Regel sehr effektiv, weil ich mir nicht von irgendwelchen Effizienzkriterien das Denken vernebeln lasse.

damenwahl, Samstag, 13. November 2010, 17:56
Lieber alterbolschewik, ich habe im Studium auch lauter unnützes Zeug gemacht, und mit großer Freude. Das konnte ich mir leisten, weil ich die Pflichten so zackig und effizient wie möglich abgearbeitet habe. Mein Bios ist bereits optimiert, davon abgesehen schleppe ich den Rechner aber meistens mit.

Und trotzdem haben Sie recht: weniger Effizienz und mehr Ruhe wäre manchmal auch nicht schlecht. Aber wie zum Teufel polt man eine ganze Gesellschaft um?

energist, Donnerstag, 18. November 2010, 02:43
Diese letzte Frage, werte Frau Damenwahl, düfte wohl von allen die sein, an deren Antwort sie die tatsächliche Geisteshaltung eines Menschen insgesamt am ehesten abschätzen können.

damenwahl, Donnerstag, 18. November 2010, 10:35
Lieber Energist, Diktatorin steht nicht auf der Liste meiner Berufswünsche - jeder soll so leben, wie er es für richtig hält. Manchmal allerdings habe ich das Gefühl, alle würden gerne etwas ändern, aber alle gehorchen auch einem kollektiven Druck, es nicht zu tun - warum auch immer.