Montag, 4. Januar 2010
Sonntag in deutschen Bahnhöfen
Ich könnte jetzt eine Studie über die Kaffeequalität an diversen deutschen Bahnhöfen schreiben. Zwecks produktiver und bezahlter Arbeit für meinen Chef in Kinshasa – Abgabetermin 15. Januar – bin ich aus der Familienhölle an die Nordsee geflüchtet – leider jedes Mal eine entsetzliche Weltreise voller Hindernisse. Die ersten paar hundert Kilometer sind in diversen Regionalbahnen zu bewältigen, die an jeder Hundhütte halten, ungefähr vierzig Kilometer vor der Küste hat die Bahn jedoch das Schienennetz offenbar schon seit Jahren stillgelegt und so muß man in den Bus umsteigen. Aus jahrelanger leidvoller Erfahrung klug geworden, hatte ich eine viel zu frühe Verbindung rausgesucht und tatsächlich ersparte mir die Bahn, ganz umsonst zwei Stunden früher aufgestanden zu sein und kam schon beim allerersten Zug zu spät. Mit der Insel verbinde ich manche Erinnerung. Irgendwann während der ersten Studiensemester war ich alleine mit unserem Hund eine Woche dort zum lernen, schon nach wenigen Tagen jedoch begann der Hund zu kränkeln, auf der Rückfahrt kotzte er mir kurz nach der Abfahrt das Auto voll, das letzte Autobahnstück war Stau, ich nahm – zunehmend panisch wegen des kranken Tieres und des abartigen Kotzgestanks – die falsche Abfahrt, verfuhr mich auch noch und bei der Ankunft zu Hause war jeglicher Erholungseffekt wieder hin. Ein andermal war ich im Herbst mit meiner damals besten Freundin fünf Tage dort. Auf der Hauptstraße saßen die Kurgäste schon mit Schals und Mänteln und nippten Tee oder Nordseewelle, aber die Nordsee war mit siebzehn Grad Wassertemperatur gerade noch schwimmtauglich und so trabten wir täglich, angetan mit Bademänteln, an den frierenden Urlaubern in Cafés unter ihren Heizstrahlern vorbei zum Strand. Auch auf dem Rückweg, blaugefroren und mit Handtuch-Turban, amüsierten wir uns prächtig und waren stolz auf unsere Zähigkeit. Abend für abend kochten wir aufwendig, saßen mit Büchern vorm Kamin und leerten eine Flasche Martini bei Gesprächen bis in die Nacht. Einige Jahre später waren wir im Sommer noch mal gemeinsam dort, diesmal mit der gesamten Familie und diversen Freundinnen meiner Schwestern. Für die bevorstehenden zwei Wochen hatte ich nicht nur die allerschönsten Hoffnungen auf reichlich Parties und abendliche Aktivitäten im Gepäck, sondern auch entsprechend fast den gesamten Inhalt meines Kleiderschranks. Schon in einem der ersten Züge - einem dieser Doppeldeckerwaggons – brach der Griff und der Koffer purzelte die gesamte Treppe bis zur Tür hinunter und verlor dabei auch noch eines der Füßchen für sicheren Stand. Die Freundin war gleichermaßen schwer bepackt, unter anderem mit einer großen, bunten, steifen Tasche, aus Plastik geflochten und oben offen wie ein Korb. Darin neben allerlei Krams auch ihre Reitkappe und Verpflegung für die lange Fahrt. An einem der unzähligen Umsteigebahnhöfe stellte sie diese Tasche auf das Gepäckband an der Treppe hinunter und widmete ihre Aufmerksamkeit ihrem Koffer. Hinter ihr gehend sah ich, wie sich die Tasche in Zeitlupe über die Kante bewegte, an der das Gefälle des Gepäckbands begann, sich neigte, weiter neigte und über die Mitte hinaus immer weiter neigte. Während ich warnend zu schreien begann, überschlug sich die Tasche, fiel vom Band und verstreute ihren Inhalt auf der gesamten Treppe. Unter den schadenfrohen Blicken der Mitreisenden sammelten wir alles wieder ein, eilten zum nächsten Zug und stand irgendwann im letzten Kuhkaff am Bahnhof. Nachdem ich die Reise schon einige Male gemacht hatte, stellten wir uns zwischen Gleisen und Bahnhofsgebäude auf und warteten. Warteten. Warteten. Zwanzig Minuten nach planmäßiger Abfahrt des Buses stellte sich heraus: der Bus war allerdings pünktlich gefahren, nur leider ohne uns, von der frisch renovierten Haltestelle VOR dem Bahnhofsgebäude. Eine alte Dame teilte unser Problem und am Ende teilten wir uns ein Taxi bis zum Anleger, wo wir im letzten Moment noch das Schiff erreichten und zwischen plärrenden Kindern, Großfamilien in der Sommerfrische und krakeelenden Landschulheimgruppen Käse und Rotwein genossen mit den pappigen Brötchen, die wir an der letzten Bahnhofsgaststätte erworben hatten.

Sieht man davon ab, daß ich dank der morgendlichen Verspätung Gelegenheit hatte, an etlichen Dorfbahnhöfen in der Pause – nicht genug zum Hinsetzen, aber zuviel, um auf dem Bahnsteig zu stehen – scheußlichen Instant Kaffee zu trinken, habe ich die Fahrt genossen. Das Land wurde immer platter, die Wälder wurden Wäldchen, der Himmel wurde blauer, die Ortsnamen immer lispeliger und die Häuser immer weniger Mauern und immer mehr Dach. Nach Norden wurde die Strecke wieder vertrauter, die Käffer entlang der Strecke kenne ich noch von Autobahnschildern und als ich endlich im letzten Kuhkaff ankam, schien mir, als sei die Zeit stehengeblieben. Die Bahnhofsgaststätte ist von der Sorte, die an Wochenenden das soziale Zentrum der Dorftgemeinschaft darstellt: an den Tischen neben mir zwei alternde Pärchen in fester Winterkleidung, die während des Sonntagsspaziergangs eine Kaffeepause machten (Hölle, was für ein Leben, wenn das hier die beste verfügbare Lokalität am Wochenende darstellt). Zwischendurch kamen junge Männer vorbei für ein Sixpack Bier (nur 4,44 Euro!) oder eine Schachtel Zigaretten. Im Regal die übliche Zeitschriftenauswahl von Blitz Illu bis Bild der Frau, Würstchen im Brötchen und Kuchen mit Schokosplitter aus der Backmischung, auf der Theke ein buntes Sammelsurium zum Verkauf: Schneegläser mit Leuchttürmen drin, Pulswärmer mit Glitzerlurex und eine einsame Shisha samt Tabak, außerdem Amulette an Lederbändern, Muscheln eingeschweißt im Bastkörbchen und Weingummi stückweise. Die Bedienungen – drei an der Zahl – plauschten nett mit den Gästen, offenbar außer mir alles Stammgäste. Die Qualität der Brötchen immerhin hat sich sehr verbessert seit meinem letzten Einkauf dort. Auch wenn ich nie hier leben wollte, hege ich doch eine gewisse Sympathie für diese verschlafenen Orte, in denen Straßen so phantasivolle Namen tragen wie Hauptstrasse oder Im Gewerbegebiet, wo es den obligaten Inder-Italiener oder Italiener-Griechen für die fremdländische Küche gibt, drei verbliebene Einzelhändler und sonst nicht viel – dafür aber intakte soziale Strukturen und freundliche, bodenständige Menschen. Am Anleger traumhaftes Wetter und klare Sicht bis zur Insel, der Leuchtturm ein zwinkerndes rotes Auge, ein wunderbarer Sonnentuntergang, der sich neben den Schauspielen meiner kongolesischen Terrasse nicht zu verstecken braucht, eine kleine Handvoll verspäteter Urlauber mit an Bord. Ich hatte mich schon mental darauf eingestellt, mein kleines Köfferchen (hämischer Kommentar der Familie: es reicht, wenn du ein T-Shirt und eine Hose mitnimmst, da oben kannste eh nix machen und nicht ausgehen) aufgeben zu müssen, aber der freundliche Herr an der Gepäckaufgabe bot von selbst an, ich könne ihn mit an Bord nehmen. Die Hafenarbeiter pfiffen fröhlich, während die Kofferkarren an ihrem Kran durch die Luft schaukelten, der Kapitän auf dem entgegenkommenden Schiff grüßte den Kollegen von der Brücke herab – wie habe ich das alles vermisst!

Trotz der Einschränkungen freue ich mich auf eine Woche Ruhe – auch wenn meine Mutter prophezeit, daß mir nach zwei Tagen sterbenslangweilig sein wird. „Bis Anfang nächster Woche bekommst Du vielleicht wegen der letzten Silvesterurlauber noch eine Pommes irgendwo, aber danach?“ Ich bin aber optimistisch, ich werde auf dem Deich laufen gehen, meinen Gedanken nachhängen, dem Meer zuhören, lesen und – wohl oder übel – meine Arbeit machen. Ich werde Sie dann informieren, wenn sich hier den Dünen ein Sandkorn bewegt oder der Wind meine Mütze wegbläst – mehr wird es wohl nicht zu berichten geben.

Permalink (2 Kommentare)   Kommentieren