Montag, 6. September 2010
Mit Rucksack
Nennen Sie mich in Zukunft Bergziege. Meine Flachlandindianer-Wenigkeit war am Wochenende auf einem Berg. 900 Höhenmeter, zu Fuß, mit Gepäck, in weniger als drei Stunden. Bevor Sie jetzt verächtlich schnauben: ich bin Anfänger, und hätte der elende Stolz es mir nicht verboten, ich wäre nach den ersten 100 m schon wieder umgekehrt. Vielleicht ist Bergziege doch übertrieben, aber ich arbeite an meiner Einstellung.

Die Anschaffung einer Regenjacke zu 60 Franken stellte sich als überflüssig heraus, aber ich hoffe auf zukünftigen Einsatz, handelt es sich doch um ein minikleines Radler-Modell für die Handtasche. Überhaupt habe ich optisch dem Anlaß Zugeständnisse gemacht, Jeans & T-Shirt, Sofa-KuschelFleece-Jacke, Wanderschuhe (geliehen) und Rucksack. Das neu erworbene Modell ist zwar für den zivilen Gebrauch völlig ungeeignet, aber sehr outdoor. Ich habe noch nicht für jede der unzähligen Strippen, Haken und Bänder den Verwendungszweck herausgefunden, aber soviel ist sicher: hochgradig funktional. Regenschutz im Boden eingebaut, vielseitig verstellbar mit Hüftgurten, vom Rücken weggebogen. Ich vermute, er hat auch irgendwo noch Mechanismen für Abseilen und Selbstverteidigung eingebaut und ich spekuliere, ob das Material im Falle der Verirrung eßbar ist. Alles sehr praktisch, doch auch wenn ich das Hände-Freihaben am Ende zu schätzen wußte: ich sehe mich mit dem Teil nun wirklich nicht in Mantel und Pumps am Freitag Nachmittag in den ICE Richtung Frankfurt steigen. Wohl aber in einen Alpenexpress Richtung Berge.

Aus dem Zug heraus sahen die Berge noch sehr hübsch aus, die Schweiz ist wirklich ein schönes Land und im Gespräch mit den lieben Kollegen verging die Zeit wie im Flug. Dann weiter mit dem Post-Bus durch idyllische Dörfer, über Spaghetti-Serpentinen bis ins letzte Dorf unter dem Gipfel. Dort angekommen, waren wir vor lauter Hunger so entscheidungsschwach, daß wir uns wahllos in die nächste Osteria setzten. Dort hätte es Suppe erst ab abends gegeben und so nahm ich wider besseres Wissen die Spaghetti Napoli. Meine persönliche Erfahrung sagt: mit nur gerade nicht-hungrigem Magen schaffe ich Anstrengungen leichter, aber es gab nur Nudeln, alle waren überzeugt, ich redeten mir zur soliden Grundlage für den Aufstieg zu, und so folgte die Strafe auf den Fuß am Berg. Innerhalb von Minuten lief mir der Schweiß über die Stirn, faszinierte schaute ich den Tropfen hinterher, die von meiner Nase spritzen mit mehr Schwung, als mein Tritt zu dem Zeitpunkt noch hatte, und für die Schönheiten der Landschaft hatte ich kein Auge – zu sehr war ich damit beschäftigt, mich weiterzuquälen. Keine Ahnung, wie man so etwas noch als „Sentiero“ bezeichnen kann, für mich sind Wege etwas, das sich optisch von der Wildnis querfeldein unterscheiden läßt. Die anderen plauschten munter vor sich hin, während ich nach dreißig Minuten kein einziges Sauerstoffmolekül für Konversation hätte verschwenden mögen, der Rest meiner Willenskraft ging dafür drauf, nicht ununterbrochen lästerlich zu fluchen und zu schimpfen und zu jammern.

Während das Essen im Bauch brannte, ich immer mehr schnaufte und die lieben Kollegen wohlwollend über meine „gesunde Gesichtsfarbe“ spotteten, konzentrierte ich mich darauf, einen Schritt nach dem anderen zu tun, rhythmisch einen pro Sekunde, immer schön weiter, umkehren geht nicht, immer schön weiter, irgendwann bist Du oben, immer schön weiter, träumte von meinem Bett, immer schön weiter, meinem Buch, immer schön weiter. Und setzte einen Fuß vor den anderen. Allenfalls die kurzen Pausen habe ich genossen, den Fortschritt in Höhenmetern bewundern, dann irgendwann sogar die Hütte weiter oben in Sicht, nur immer schön weiter. Irgendwann bist Du oben, immer schön weiter. Hinter der nächsten Biegung, immer schön weiter, eine Biegung noch, immer schön weiter, gleich dahinter, immer schön weiter.

Oben angekommen wechselte ich das wirklich, ungelogen, unübertrieben, echt wahr! triefend nasse T-Shirt und dann kamen die letzten 100m zum Gipfelkreuz. Und zum Sonnenuntergang.



Da sagt das Bild mehr als alle Worte, die mir zur Verfügung ständen. Die Hütte übertraf an Luxus sämtliche Erwartungen. Das Essen zeichnete sich zwar eher durch Quantität als Qualität aus, dafür gab es Duschen: vier Minuten prickelnd heißes Wasser auf die müden Schultern für einen Franken. Oder acht für zwei. Danach kaltes Alster, ähhhh Radler und einen Trupp zünftige Schweizer Bergdamen, die die übrigen Hüttengäste mit nicht immer jugendfreien Liedern erfreuten - mit zunehmendem Alkohol immer lauter und immer falscher gesungen. Außerdem reichlich Decken und ein halbleeres Zimmer, vier männliche Zimmergenossen, davon null Schnarcher, und ein zuckersüßes Croissant zum Frühstück.

Der nächste Morgen hätte mir eigentlich Gelegenheit geben sollen, ohne viel Steigung Bergpanoramen vom Kamm aus zu bewundern, stattdessen gab es dicke, trübe Nebelsuppe und Sicht unter fünf Meter. Als die Gruppe stimmstarker Bergmannsweiber sich bereit machte, die Seilbahn zu stürmen, reihten wir uns ebenfalls schnell in der Schlange um die begrenzten Kapazitäten ein. Und fuhren den vortags so mühsam erklommenen Berg ganz unsportlich in nur sieben Minuten wieder runter. Die liebevoll vorbereiteten Brötchen für die Sonntagswanderung verspeisten wir am Ende auf den Bänken einer städitschen Promenade, abgerundet später durch Kaffee und Vermicelli, und dann saß ich wieder im Zug Richtung Heimat, guckte mir andere Freiluftfanatiker an und fand mich außerordentlich cool mit meiner neuen Ausstattung, nach vollbrachter Tat.

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