Dienstag, 2. November 2010
Ein Topf voller Überraschungen
Als Kind waren wir gelegentlich wandern, wobei mein Vater sich dadurch auszeichnete, daß er zwar stets im Besitz der aktuellsten Wanderkarten und Busfahrpläne war, jedoch ganz sicher irgendwann eine Abkürzung nahm, die keine war. Wir wanderten dann ein paar Stunden länger, sahen etwas mehr von der Welt und kamen etwas später am Ziel an.
Bedauerlicherweise fürchte ich zunehmend, daß ich nach meinem Vater geraten bin: ich verpasse an den entscheidenden Weggabelungen den richtigen Weg, merke es irgendwann und brauche dann leider für alles etwas länger als andere.

Zehn Jahre nach dem Beginn meiner universitären Karriere (und acht Jahre nach allen andere) habe ich endlich das richtige fachliche Umfeld gefunden, und beobachte grün vor Neid mit leichtem Bedauern jene jugendlichen Überflieger, die schon jetzt mehr über unser Fach wissen, als es bei mir je der Fall sein wird. Berufserfahrungen bei gut beleumundeten Arbeitgebern kann ich inzwischen wohl vorweisen, aber ich habe auch etliche Monate meines Lebens mit Praktika in der zweiten und dritten Liga verbracht – während die junge Elite in diesem Alter längst beim Auswärtigen Amt hospitiert und bei M*Kinsey gerackert hat.

Wäre ich an der richtigen Abzweiung Investmentbanker geworden und hätte die Boomjahre miterlebt, das Rentenalter käme dank üppiger Boni schon beinahe in Sicht, aber stattdessen schufte ich wie ein Hamster im Laufrad und - schreibe Klausuren. Heute morgen, auf dem Weg zur Bank, wo die monatliche Miete ein erschreckendes Loch in mein Budget gerissen hat, dachte ich: es wäre wahrhaftig an der Zeit, daß mal wieder was Nettes, was Überraschendes passiert.

Und ich meine nicht die Sorte von Überraschungen, die Schusseligkeit, Hektik und Überarbeitung mir tagaus tagein bescheren. Morgens reisse ich das Paket Mehl versehentlich mit dem Müsli aus dem Schrank und es fällt – natürlich – in die vorbereitete Joghurtschüssel, der bis unter die Decke spritzt. Kaufe ich auf dem Weg zum Bahnhof ein Gebäckteilchen, gelingt es mir, die Füllung nicht nur harmlos auf der Hose zu verteilen: nein, bis in den Jackenärmel hat es das Klebzeug geschafft. Ganz steifgetrocknet, inzwischen. Wo immer ich im Moment hinkomme, sind garantiert Schlangen, und umso länger, je mehr ich in Eile bin. Ich schütte den Kaffee morgens grundsätzlich neben die Kanne, vergesse Unterlagen im Büro und merke es am Fuße der Treppe, verpasse die Anmeldefrist für den Nebenjob nächstes Jahr, schreibe schwachsinnige Mails, für die ich mich später nur auf Knien entschuldigen kann – kurz, ich bin im Moment voller Überraschungen für mich selbst, ein Trampeltier.

Die Überraschungen, die ich mir wünschen würde, sind anderer Art. Nett wäre zum Beispiel ein Dukatenesel mit rosa Schleifchen um den Hals (Lieferadresse wird auf Anfrage herausgegeben). Die Finanzierung für das Seminar, das ich so rasend gerne besuchen würde. Oder auch die Zuerkennung des verdammten Titels für herausragende – wiewohl von jedermann unbeobachtete – Erkenntnisfortschritte auf dem Niveau eines Bachelor-Studenten im zweiten Jahr. In Ermangelung solcher Wohltaten wird mir aber nun wenigstens die Sorge um die drohende Freizeit ab Mitte November abgenommen: mein alter Vorgesetzter hat Schreibtischaufgaben zu erledigen.

Ursprünglich mal ging es um Arbeiten zu, sagen wir... Thema A, Deadline Mitte des Jahres. Deren fristgerechter Abschluß war aus allerlei Gründen (damals war ich unschuldig!) irgendwann hinfällig, andere Leute wurden miteinbezogen, Daten erhoben, zwischendurch im September waren wir kurz in Verhandlungen. Eine Reise in die Wärme hätte ich keinesfalls abgelehnt, auch nicht das neue Thema B, aber am Ende zogen sich Verhandlungen mit Dritten länger hin und irgendwann war ich nicht mehr abkömmlich, weil ein Visum nicht in drei Tagen zu beschaffen ist, und so blieb ich hier.
Jetzt also ein neuer Anlauf, die Fristen für Thema A sind inzwischen auf Ende des Jahres verschoben worden (das habe ich in gelegentlichen Verteiler-Mails noch mitbekommen), die Mitarbeiterzahl am Projekt ist gewachsen, und Thema A ist nicht mehr Thema A. Ich habe ja noch einige Tage Zeit mir darüber klarzuwerden, wo eigentlich der Berührungspunkt zwischen den neuen Aufgaben und dem ursprünglichen Thema ist. Den muß es geben, das suggeriert die Nachricht des Vorgesetzten ganz deutlich (Sätze wie „as discussed earlier“ weisen darauf hin), ich habe nur noch nicht rausbekommen, wie. Das bißchen mehr Chaos fällt in meinem Chaos-Universum im Moment kaum auf, macht also nix.

Immerhin, das ist schon sehr viel näher dran an den gewünschten Überraschungen als Mehl im Joghurt. Ist wie beim Topfschlagen: Nur weiter so.

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