Donnerstag, 11. November 2010
Das Diktat der Effizienz
Es ist schön, wenn man seine Vorurteile hegen und pflegen kann. Noch schöner jedoch ist es, seine Vorurteile zum Besseren revidieren zu können. So geschehen vor kurzem, in einer Debatte mit Kollegen über Wissenschaftsphilosophie. Entgegen landläufiger Annahmen gibt es durchaus manchen im Wissenschaftsbetrieb, der nach Sinn und Grenzen von forscherischer Erkenntnis fragt. Während wir in fröhlicher Runde bei einem Glas Wein über die Vor- und Nachteile rationaler Menschenbilder diskutierten und wie gültig diese international in verschiedenen Kulturen seien, streiften wir auch die Frage nach dem allesbestimmenden Konzept der Effizienz als Kernbestandteil westlicher Ideologie, moderner Marktkonzepte und unseres Alltags.

Ich bin manchmal ein bißchen langsam im Kopf und mußte über die Frage länger nachdenken, vor allem ob solche Orientierung anerzogen sei, Zeitgeist, allgemeine Übereinkunft – und als ich fertig gedacht hatte, waren die anderen längst zum nächsten Thema weitergezogen.
Und so nahm ich die Frage mit nach Hause, mit ins Bett und jetzt mit hierher. Ich persönlich gestehe, daß ich gerne effizient arbeite und darüber zumeist nicht einmal nachdenke. Ich schreibe dringende Mails sofort, arbeite kleine Aufgaben zuerst ab, um den Kopf für große frei zu haben, ich mache morgens im Büro zuerst das Fenster auf (frische Luft!), dann den Rechner an, dann lege ich die Jacke ab, logge mich ein, hole als nächstes Kaffee und wenn ich wieder da bin, ist der Rechner startklar. Das ist effizient, weil ich keine Zeit mit warten vergeude. Und ich mag das.
Ich habe als Berufseinsteiger nie den Sinn darin gesehen, drei Stunden für eine Frage zu recherchieren, die der Vorgesetzte am Schreibtisch gegenüber in fünf Minuten beantworten kann – das wäre ineffizient. Ich habe auch kein Verständnis für den ältlichen Kollegen, dem ich beim mühseligen Zusammenbasteln seiner Präsentation zusehen muß, nur falls er Fragen hat – während ich lieber eigenen Aufgaben nachginge. Das ist Zeitverschwendung und die mag ich nicht.

Immerhin kann ich mich damit entschuldigen, daß mein Effizienzwahn zielgerichtet ist: je optimaler ich die Arbeitszeit nutze, desto mehr bleibt frei für die privaten Vergnügen. Bücher ohne Formeln zum Beispiel, Weinabende mit Shiraz und Kollegen bis nachts um halb zwei, auch wenn der Wecker am nächsten morgen um halb sieben klingelt. Muß man halt am nächsten Tag etwas effizienter arbeiten, damit man den verlorenen Nachtschlaf aufholen kann.

Schaue ich mich in meiner Generation um, befinde ich mich mit meiner Einstellung in weitläufiger Gesellschaft. Viele ehemalige Studienkollegen arbeiten, um zu leben, sie arbeiten sogar viel, mehr oder weniger effizient, schielen aber aus dem Augenwinkel zumeist aufs Privatleben. Möglicherweise haben sie das Effizienzprinzip in ihrem Alltag nicht ganz so in kleinen Handlungen veräußerlicht wie ich, aber verinnerlicht ist es allemal. All die Investmentbanker glauben selbstverständlich, daß Kapitalmärkte effizient sind. Derivate und Kreditverbriefungen auch, die sind ja gut für Marktliquidität. Überhaupt sind arbeitsteilige Märkte das Mantra unserer Zeit – es ist ja so effizient, wenn die billigen Analphabeten in China unsere Hosen nähen und wir ihnen dafür deutsche Ingenieurskunst auf vier Rädern liefern. Trotz Transportkosten. Wegen ebenjener Transportkosten ist es sogar wirtschaftliche effizient, Nordseekrabben zum schälen ans Mittelmeer zu verfrachten und wieder zurück ins Fischgeschäft in St.-Peter-Ording – ist ja effizient. Effizienter, als teure Deutsche pulen zu lassen.

In den meisten Paarbeziehungen hört die weibliche Hälfte der Kinder wegen auf zu arbeiten, denn er hat das höhere Gehalt – umgekehrt wäre nicht effizient. Einkaufen bei Aldi ist effizient, wenn man dafür Zeit hat – einkaufen in der Feinkostabteilung vom Kaufh*f aber auch, wenn man wenig Zeit hat und das Geld egal ist. Ins Ausland gehen Schüler während der elften Klasse, denn da verpasst man nichts, und ein paar Jahre später hat der Erstsemester nur eine Frage: welches Buch müssen man auswendig können, um die Klausur zu bestehen? Die Bahn taktet ihre Anschlüsse – oft zum Leidwesen der Kunden – sehr knapp, denn Zeit ist Geld und wer möchte schon auf Bahnhöfen Zeit vertrödeln. Wer zum Arzt geht und einen Termin hat, wird nach zwanzig Minuten unruhig und putzt nach vierzig die unschuldige Praxishelferin runter, in Ämtern (und sogar bei der Bahn) muß man inzwischen kleine Nummern ziehen, damit effizient und geordnet gewartet wird. Meine Postfiliale hat es auf die Spitze getrieben und zeigt die Wartezeit in Minuten an.

Einzig meine überromantische beste Freundin erwägt eine internationale Eheschließung trotz finanzieller Nachteile – obwohl das ineffizient ist. Die ist aber auch anders, mir scheint oft, daß ein wesentlicher Teil westlicher Indoktrination an ihr vorbeigegangen ist.

Als in unserer lustigen Weinrunde ein Kollege fragte, ob wohl dieser Effizienzwahn anerzogen sei, hätte ich natürlich laut zustimmen sollen, wäre meine Leitung nicht so lang gewesen. Denn anderswo sieht die Welt ganz anders aus. Damit meine ich nicht die Söhne aus besserem Hause, die sich dank familiärer Absicherung aus dem Hamsterrad der beruflichen Effizienz und Karriereplanung verabschieden dürfen, die höheren Töchter, deren Ausbildungszeit lediglich Überbrückung ist, bis irgendein anständiger junger Mann ihr Vermögen heiratet.

Vor allem sieht die Welt in Afrika ganz anders aus. Selbstverständlich wägt der deutsche oder amerikanische Taxifahrer bei Beginn einer Fahrt ab, ob die kürzeste Strecke auch die schnellste ist. In Kinshasa waren lediglich die über Jahre gedrillten geschulten Fahrer meines Arbeitgebers so vorausschauend – die Chauffeure der Mietwagenfirma stellten sich jeden Tag unverdrossen in denselben, vorhersehbaren Stau. Warum auch nicht – wartet man doch auf Busse überland schon mal ein paar Stunden oder hofft einfach auf die nächste Mitfahrgelegenheit. Konferenzen gehen grundsätzlich eine Stunde später los als vorgesehen, weil bei den Teilnehmern Wichtigkeit und Verspätung in einem proportionalen Verhältnis stehen und sich alle gegenseitig überbieten.

Ich hatte gemeinsam mit einem lokalen Kollegen einige Termine mit kongolesischen Geschäftsleuten vereinbart. Selbstverständlich hatte ich meine Auswahl nach räumlicher Nähe und Fahrtzeit geplant und rechtzeitig zum Aufbruch gemahnt. Der Kollege hingegen schleppte mich tatsächlich zu einem Termin mit über zwei Stunden Anfahrtszeit und kaum jemals waren wir bei seiner Hälfte pünktlich – aber das machte gar nichts. Die Gesprächspartner schienen unverdrossen, wir kamen eben, wenn wir kamen, dann wurde die Arbeit unterbrochen, wir saßen zusammen, redeten, und dann fuhren wir wieder. Nach einiger Frustration thematisierte ich die Angelegenheit mit dem Kollegen, und mußte tatsächlich – zu meinem eigenen Unglauben – erklären, warum zwei Stunden im Auto nicht gut seien. Das Konzept „Zeit ist Geld“ war ihm völlig fremd, der Gedankengang, was man in den vier Stunden Fahrzeit alternativ hätte machen können, so fern wie der Mond.

Ich kann nur mutmaßen, warum das so ist. Ausbildung, Erziehung, sicherlich. Vielleicht auch, aus wirtschaftlicher Perspektive: mangelnder Anreiz. Die afrikanische Wirtschaft ist nicht so vernetzt und in die Globalisierung eingebunden wie die Industrieländer – hier beschwert sich niemand, wenn Termine platzen, zu spät kommen, Prozesse dauern. Die Handvoll Europäer hat nicht genug Einfluß und arrangiert sich mit den Gegebenheiten. Von außen also gibt es keinen Einfluß. Und von innen tickt die Welt ohnehin anders. Angesichts der frappierenden Arbeitslosigkeit ist für sehr viele Menschen Zeit kein Geld – sie haben sogar viel zu viel Zeit. Und selbst jene, die Arbeit haben, schicken eben für die lästigen Amtsangelegenheiten, bei denen man natürlich ewig wartet, einen der unzähligen arbeitslosen Verwandten – Zeit ist in Afrika für die meisten Menschen kein knappes Gut, scheint mir. Im Gegenteil: Zeit ist so reichlich vorhanden, daß damit gespielt wird. Machtspiele um Verspätungen und Wichtigkeit. Machtspiele mit der Polizei auf der Straße um Bestechungsgelder – in der Hoffnung, der stets eilende Europäer möge weniger Verhandlungszeit mit Geld erkaufen. Der Polizist hingegen hat ja Zeit und kann es sich leisten, zu diskutieren.

Korruption und Vetternwirtschaft hebeln die Marktwirtschaft weiter aus. Wozu sollten sich junge Menschen effizient um eine rasche Ausbildung bemühen – eine Stelle bekommen die einen ohnehin wegen ihrer Beziehungen und die anderen ohnehin ganz sicher nicht. Wozu alle Unterlagen für einen Amtsbesuch ordnungsgemäß vorbereiten, oder sammeln und abheften? Am Ende regiert die beamtliche Willkür, beklagen über Mißwirtschaft kann man sich nirgends, also wandern Belege für bezahlte Gebühren im Zweifel in irgendeine Schublade, um nie wieder verwendet zu werden.

Es ist ein Klischee, aber im Kongo liefen die Uhren anders. Als Europäer, gefangen zwischen dem Effizienzdruck von zu Hause, der Erwartungshaltung an Ergebnisse und Erfolge und andererseits den Hürden und Einschränkungen in Afrika, möchte man manchmal schier wahnsinnig werden. Zwei Welten reiben sich aneinander und man selbst steckt dazwischen und wird zermürbt zwischen Steinen, die beide gleichermaßen unnachgiebig sind. Das europäische Leistungsdenken, fixiert in Vorgaben, Zielvereinbarungen und Abgabefristen – die afrikanische Trägheit, bei der man durch jede Verrichtung, die Afrikaner miteinbezieht, aufgehalten wird, weil die Abläufe unberechenbar sind.

Manchmal jedoch ertappt man sich bei neidischen Blicken auf die Frau, die mit ihrem Brotkorb die Straße entlangwandert, ohne Hast, ohne Eile. Ich selbst galoppiere nach getaner Arbeit stets nach Hause, bestrebt, möglichst viel vom Abend zu haben. Sie hingegen lebt für den Moment, nicht für die Zukunft.

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