Sonntag, 29. November 2009
Theater und Krippe
Diese Stadt überrascht einen immer wieder: es gibt in Kinshasa Theater. Nicht die feudalen Paläste, in denen die Oberschicht ihre feinen Kleider ausführt und Sekt in der Pause schlürft, sondern kleine Centre des Arts, versteckt in den Seitengassen der ärmeren Viertel außerhalb von Gombe. In einem länglichen Hinterhof von der Größe einer Einfahrt waren einfache Plastiktische vor einem schmalen Podest aufgebaut, vier gerichtete Theaterlampen, ein Buffett für die Gäste. Wir waren um kurz nach sieben viel zu früh dort, vertrieben uns die Zeit mit einem Bier und beobachteten junge Mädchen dabei, wie sie für die eintreffenden Gäste weitere Tische aufbauten. Von den anwesenden Gästen waren allenfalls die Hälfte Kongolesen, der Rest alternativ angehauchte Expatriates. Ein junger Mann in einem Schlafanzug Anzug mit lokalpatriotischem Muster (afrikanische Landkarten) sprach einführende Worte, stellte die Autorin des Werkes vor und dann ging es los: Kongolesen im Flugzeug auf dem Weg nach Paris, Kongolesen beim Streit im Taxi, Kongolesen in einer boite, Kongolesen auf der Straße, Mädchen im Geplauder beim Haare einflechten ... Szenen des Alltags, angereichert mit kritischen Anmerkungen zum Zustand des Landes, Einfluß der Industrieländer, Wohl und Wehe von freien Wahlen, und garniert mit gelegentlichen Seitenhieben auf die politische Elite. Die letzte Szene spielte wiederum im Flugzeug, zum Schluß verließen alle fünf Passagiere eilends die Maschine, um ihr Glück im gelobten Land Europa zu suchen. Mein Französisch ist immer noch zu schlecht, als daß ich alle Feinheiten verstanden hätte, aber allein die offensichtliche Spielfreude der Darsteller war ein Vergnügen. Es war beeindruckend zu sehen, wie die Mädchen im einen Moment in heller Freude lachten und tanzten und dabei so umwerfend hübsch und lebendig aussahen, und im nächsten die personifizierte Traurigkeit darstellten, daß ich glaubte, sie würden umgehend in Tränen ausbrechen. Nach der Vorführung stellten sich alle Darsteller namentlich vor, wir klatschten eifrig, kaum hörten wir auf, verbeugten sie sich, dann wurde wieder geklatscht. In den zehn Dollar Eintritt war ein kongolesisches Buffett inbegriffen, ich hatte Glück und konnte mir ein halbwegs mageres Stück Hühnchen angeln. Für die weitere Abendplanung war ich zur Party bei Médecins sans Frontières eingeladen, wo mein umtriebiger Mitbewohner den DJ gab, aber am Ende sind wir statt dessen im La Crèche gelandet. Im Stadtteil Matonge, also etwas ausserhalb gelegen, gibt es auf der Dachterrasse im dritten Stock eines billigen Hotels live Musik, Bier, widerliche Toiletten und reiche Einblicke ins kongolesische Sozialleben. Um die Terrasse herum glühten die Spitzen der Telefonantennen von Vodacom und Zain, am Hotel gegenüber vermittelten Lichterketten in Palmenform afrikanisches Weihnachtsgefühl und von unten zog der Duft einer Bäckerei in unsere Nasen. Schon die fünfköpfige Band war sehenswert: ein Gitarrist in verschossenem braunen Anzug mit verrutschter orange-metallic glänzender Krawatte bediente sein Instrument kunstvoll mit glimmender Kippe im Mund, der Drummer beherrschte diese Fähigkeit ebenfalls und handhabte geplatzte Trommeln wie auch scheppernde Becken mit viel Verve. Bei einem kurzen Ausflug auf die Tanzfläche erfragte der Sänger meinen Namen und flocht diesen danach in jedes zweites Lied ein – ich wünschte irgendwann, ich hätte Waltraud oder Heidrun zur Antwort gegeben, dann wäre mir diese Exposition vielleicht erspart geblieben. Auf der Tanzfläche bewegte ein einsamer Soldat in Uniform rhythmisch die Hüften (und im Gegensatz zu Europäern sehen Kongolesen dabei cool aus), ihm gegenüber wand sich eine magere, verhärmte, schon etwas ältere Kongolesin wie eine Bauchtänzerin. Auf dem Kopf einen Stummelschwanz von Zöpfchen – und zwar wirklich beinahe auf dem Kopf, nicht am Hinterkopf – mit einem überdimensionierten Glitzerhaargummi, schien sie meist alleine völlig zufrieden mit sich und ihrem Tanz. Neben etlichen jüngeren Pärchen, die Mädchen oft in westlicher Kleidung, gab es ein älteres Paar in den Vierzigern, er in gepflegter Bürokleidung, sie in einem giftigroten zweiteiligen Kostüm ebenfalls ausgehfein – vermutlich Kunstfaser Direktimport aus China – und die Art, wie sie ihre Hand flach auf seine Brust legte und die beiden tiefe Blicke tauschten beim Tanzen sprach Bände: ein in die Jahre gekommenes Ehepaar (hoffe ich), das sich begehrt. Schöner Anblick. Das skurrilste Pärchen des Abends jedoch (abgesehen von uns paar Weißnasen-Elefanten zwischen all den afrikanischen Gazellen) waren ein spindeldürrer junger Hänfling von Mann in einem weiten, westafrikanischen Gewand aus silberglänzendem Polyester mit buntem Käppi auf dem Kopf und eine kongolesische Matrone dreifachen Ausmaßes in lokaler Tracht. Trotz des beträchtlichen Körperumfangs der Dame, bewegte sie sich mit einer Eleganz, gleichzeitig beherrscht und doch entspannt der Musik hingegeben, daß man als Europäer nur neidisch sein kann. Obwohl die beiden den größten Teil des Abends gemeinsam tanzten, wirkten sie doch seltsam distanziert und weniger vertraut und entspannt miteinander als die übrigen Gäste. Überhaupt die ganze Atmosphäre in einem solchen Club ist anders als in seinem europäischen Pendant, es scheint auf unbestimmte Art ein Wir-Gefühl zu geben. Auf Clubs und Parties westlicher Prägung läuft die Musik stets durch, aber sobald sie der Gruppe nicht mehr zusagt, leert sich die Tanzfläche nach und nach, während die einzelnen Paare und Tänzer sich zurückziehen. In der Crèche brauchten die Musiker natürlich gelegentlich eine Pause, aber selbst zwischen den Liedern bewegten sich alle Gäste stets in dieselbe Richtung: entweder die Tanzfläche war voll, oder sie war leer und getanzt wird entweder das ganze Lied oder gar nicht. Die Musiker waren nicht externe Dienstleister, sondern Teil der Festivität und alle schienen irgendwie zusammenzugehören, auch wenn es klar getrennte Gruppen an den Tischen gab. Auf der anderen Seite der Terrasse war die Aussicht bis Ma Campagne wunderbar, allerdings überlagerte der intensive Uringeruch der Toiletten selbst die Rauchschwaden der Bäckerei und nahm der Seitenterrasse jegliche romantische Stimmung. Eigentlich steht mir der Sinn im Moment eher nach europäischem Eskapismus, aber es war trotzdem ein interessanter Abend außerhalb der Wohlstandsseifenblase von Gombe, und auch das hat etwas Befreiendes.

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Donnerstag, 26. November 2009
Neue Kleider
Ich trinke Bailey's, die Mücken trinken mich, aber was tut man nicht alles, wenn der Chef Wünsche hat.
Plan A war, den Arbeitstag um acht Uhr zu beenden und mit einem riesigen, sündhaft teuren, aber überaus europäischen, unkongolesischen Brett Sushi und einem Film im Bett zu verschwinden, und mein Heimweh zu pflegen. Ja, wir haben jetzt Sushi in Kinshasa und jeden Mittag stehe ich verlangend vor dem Regal, aber ich sehe nicht ein, 25 Dollar hastig in der Mittagspause vor dem Rechner zu verzehren und denke: heute Abend. Abends ist dann leider alles Sushi ausverkauft und ohnehin bekomme ich gegen sechs Uhr eine Mail "Please call me asap" von meinem Chef und damit ist der gemütliche Abend ohnehin Vergangenheit, ohne jemals Realität gewesen zu sein.

Immerhin habe ich mir heute zwei Stunden Zeit genommen, mit einer Freundin Schneiderin C. zu konsultieren. Wie bereits berichtet, gibt es hier nichts zu kaufen, kein Z*r*, keine Schweden, keine Läden mit CC Logo. Es gibt aber Tuchverkäufer (Direktimport aus China) und Schneiderinnen.
Mein erster Versuch beim vorigen Aufenthalt war ein mäßiger Erfolg: das Hemdblusenkleid sitzt so weit, daß ich noch viele Kilometer schwimmen müßte, um die Schulterweite eines Ringers zu erreichen, der Rock war dafür reichlich knapp bemessen. Handwerklich allerdings gab es nichts zu beanstanden, der Rock ist nämlich noch nicht geplatzt an den Nähten. Noch mehr beeindruckte mich allerdings, daß ich bei Abholung des Kleides das Geld nicht passend hatte und Schneiderin C. beim Abholen des Rockes einige Tage später freiwillig Rückgeld anbot - ein seltener Lichtblick. Jetzt also der zweite Versuch - diesmal den gewünschten Schnitt fotografiert und wenn alles gut geht, habe ich demnächst drei maßgeschneiderte Kleider. Wenn alles schief geht, habe ich 50 USD in den Sand gesetzt und tätige Entwicklungshilfe geleistet.
In der Zwischenzeit male ich mir aus, wie ich in Kürze auf durch und durch europäischen Parties stehe und der Prinzessin neue Kleider ausführe, keine Eiswürfel in den Wein tun muß und abends nach Hause laufen kann.

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Dienstag, 24. November 2009
Die Straße - und wer alles nicht verantwortlich ist
Manches in diesem Land kann man nicht verstehen. Anderes schon. Die Schwierigkeiten, ein Land von der Größe Westeuropas mit Millionen Quadratkilometern undurchdringlichen Urwalds mit einem vernünftigen Straßennetz auszustatten, bedürfen keiner Erklärung. Die Schwierigkeiten hingegen, die Hauptstadt des Landes, wirtschaftliche Kapitale und Wohnsitz eines geschätzten Sechstels der Bevölkerung mit befahrbaren Straßen auszustatten, sind schwer zu begreifen. Das Zentrum politischer Aktivität – Gombe – mit seinen Botschaften, Banken und Repräsentanzen und das Industriegebiet Limete sind über die Straße Route des Poids lourds - annähernd dem Flußlauf folgend - verbunden. Poids lourds ist ungefähr so breit wie eine drei- bis vierspurige Straße zuzüglich schottriger Seitenstreifen, Fahrbahnmarkierungen wären dem Charme des Entwicklungslandes abträglich.



Auf der Mitte jeder wesentlichen Kreuzung steht ein rundes Podest (ähnlich dem des Löwendompteurs im Zirkus) mit Dach darüber, drum herum mindestens drei vier Polizisten die dem Maître de Traffic Gesellschaft leisten und helfen, den Verkehr zu regeln – oder zumindest einen Versuch unternehmen. Das System, dem sie dabei folgenden, erschließt sich nicht leicht, in jedem Fall gelingt es ihnen, endlose Warteschlangen zu produzieren.

Poids Lourds folgend Richtung Flughafen N’Djili passiert man etliche quartiers populaires, schäbige Hütten und kleine Stände, aus Wellblech, schiefen Holzlatten und mit Steinen beschwerten Planen improvisiert und den wasserfallartigen Sturzfluten der Regenzeit vermutlich nicht gewachsen. Am Straßenrand haben Frauen zwei Handvoll Tomaten und drei Bündel Karotten als Marktware ausgelegt, in den kleinen Restos sitzen die Männer und nippen endlos lang an einer einzigen Flasche Primus. Die Straße ist gesäumt von Abwasserkanälen, in denen vor lauter Müll nichts mehr abfließt, zwischendurch aufgebockte Autos zur Reparatur, alle paar Meter eine Quado Station. Erkennbar an vier bis fünf aufeinandergestapelten Autoreifen (eignet sich auch als Abstellfläche für fliegende Händler, die dort Sandwiches belegen und verkaufen), bestenfalls ein handgemaltes Schild, ein Wasserbassin, eine Luftpumpe, ein paar alte Gummischläuche und Klebstoff – damit läßt sich hier jeder Platten beheben. Später passiert man auf Poids Lourds das Areal der Altholz- und Altmetallverkäufer. Hochkant aufgerichtet in undurchschaubarem Chaos Holzlatten und Spanplatten in einem Areal, verrostete Tore, Wellblechplatten und Stangen im nächsten. Ein Rätsel, wie die Verkäufer ihre Ware auseinanderhalten und ihr Eigentum voneinander abgrenzen, denn alles sieht nach einem großen Durcheinander aus, aber vermutlich gibt es ein System und man kennt sich.



Allenthalben überholt man junge bis mittelalte Männer, die die hier typischen Handkarren schieben. Die Karren haben nur eine Deichsel, darauf lagernd eine Kiste für den Stauraum, aber an jedem Ende ein Gestänge zum Schieben (ähnlich wie bei Kinderwagen, nur zweimal). Mit dieser raffinierten Bauart gelingt es erstens, mehr Fässer oder Säcke aufzuladen und festzubinden (unter Ausnutzung beider Gestänge durchaus zwölf Fässer à 250 Liter Fassungsvermögen) und außerdem kann man den Wagen zu zweit leichter bewegen: einer schiebt, einer zieht. Ein seltener Anblick in diesem Land: zwei Personen, die am gleichen Strang ziehen.

Außerdem überholt man die blau-gelben Minibusse mit ihren weißen Nummern auf rotem Grund. Nun darf man nicht annehmen, die Nummern hätten irgendeine Bedeutung – jeder Minibusbetreiber sucht sich eine Nummer aus, die ihm gefällt und malt sie auf alle vier Seiten des Busses. Manchmal verschreibt sich jemand, dann steht auf einer Seite TB KIN 003 4578 und auf der anderen TB KN 0034578. Der Minibusbetreiber legt ein Schild vorne in die Windschutzscheibe mit Angabe der Strecke, sein Conveyeur hängt stets mit einem Arm und dem halben Kopf aus dem Seitenfenster, sammelt Passagiere ein, nimmt das Fahrgeld entgegen, gestikuliert mit den übrigen Verkehrsteilnehmern und gibt notfalls auch den einsteigenden Fahrgästen einen letzten Schubs, damit die seiteliche Schiebetür wieder zugeht. Wenn er Glück hat, kann er nach einigen Jahren einen eigenen Minibus erwerben (möglicherweise Import aus Deutschland vom Handwerkerbetrieb „Deutsche Gründlichkeit“ in 8902 Kleinkleckersdorf) und sich selbständig machen. Ganz besonders hübsch sind die fantasievollen Namen mancher dieser Kleinbetriebe – da steht dann „Bonne Confidance“ oder „Action Hitler“ vorne auf der Windschutzscheibe.* Die Busse halten in regelmäßigen Abständen am Straßenrand, umständlich werden Gäste ein- und ausgeladen, oftmals mit dicken Säcken oder Bündeln als Gepäck, sowieso ist ein- und aussteigen immer ein schieben und drängeln, bis mehr Gäste in den Bus den gequetscht sind, als die Gesetze der Physik vermuten ließen. Das hält natürlich den Verkehr auf und drei Busse hintereinander zu überholen, erfordert halsbrecherischen Mut. Wenn dann noch ein LKW die halbe Straßenbreite blockiert, wird es richtig eng, aber wer will schon das Frachtgut weiter als notwendig schleppen, wenn man unbeschadet mitten auf der Straßen stehen kann? Die Polizisten schließlich sind zumeist damit beschäftigt, die Fahrer der großen, teuren Importautos zu schröpfen und interessieren sich wenig für halbverrottete Schrotthaufen mit Transportfunktionalität.

Verkehrsbehindernde Verkehrsorganisierende Polizisten und Schiebewagen, haltende Minibusse und zu beladende LKWs – das alles gehört zu den unvermeidlichen alltäglichen Hindernissen, mit denen man leben muß – denen man aber immerhin ein gewisses Verständnis entgegenbringen kann. Ganz anders der Zustand der Straße: Direkt am Anfang von Poids Lourds, wo das Business und Botschaftsviertel Gombe und die ersten Ausläufer des lebhaft-bunten Stadtteils Kingabwa ineinanderfließen, gilt es drei Hindernisse zu überwinden.
Erstens gibt es dort ein Schlagloch über die gesamte Breite der Straße, von der Tiefe eines mittleren Gartenteichs, samt dazugehöriger Steindekoration – der Effekt ist ähnlich wie der einer umgekehrten Bodenwelle zur Verkehrsberuhigung in deutschen Spielstraßen, nur rollt man hinein und nicht darüber hinweg. Zweitens kreuzen halb versandete Bahngleise die Straße – dennoch eine Herausforderung für die meisten Fahrzeuge. Und drittens folgt ein Straßenabschnitt ohne Asphalt, für einige hundert Meter verkommt die Straße zur Schotterpiste, faustgroße Steine und Dreck, mit passenden scharfen Abbruchkanten und in der Regenzeit platschenden Tümpeln von Brackwasser. Selbst Geländewagen bremsen an diesen drei Stellen auf Schrittempo und nehmen die Hindernisse mit einem seitlichen Schlenker – , nahezu schrottreife Klapperkarren, überladene Minibusse und altersmüde Auflieger mit Container hingegen kriechen geradezu voran über diese zweihundert Meter Hindernisstrecke. Beinahe ganztags bilden sich folglich von beiden Seiten Staus, die je nach Tageszeit und Verkehrsaufkommen 15 bis 40 Minuten Wartezeiten bedeuten.

Nun ist Poids Lourds keine kleine Seitenstraße, sondern eine der wichtigsten Verkehrsadern Kinshasas. Diesseits – von Gombe aus betrachtet – liegen Botschaften und Banken, Büros und diplomatische Vertretungen, Residenzen, Expatriate Villen, fast alle nennenswerten Restaurants, sämtliche Läden mit Waren für den persönlichen Bedarf des entwicklungshelfenden Europäers wie auch der kongolesischen Kleptokratie sowie fast alle Supermärkte für diese Klientel. Jenseits der Hindernisse von Poids Lourds liegen der Flughafen N’Djili, wo alle eingeflogenen Güter und vor allem frische, verderbliche Lebensmittelimporte eintreffen (Muscheln direkt aus Paris mit Air France), außerdem die Mehrzahl der großen Transitunternehmen mit ihren Umschlaghöfen, wo Container geöffnet und entladen werden sowie die wenigen produzierenden Industrieunternehmen, die das Land zu bieten hat.

In einem Land, in dem Zahlen und Computer immer noch Mangelware sind, ist es schwer, wirtschaftliche Auswirkungen zu schätzen, aber man kann Vermutungen anstellen: Kinshasa hat geschätzte zehn Millionen Einwohner. Die durchschnittliche kongolesische Familie der Unterschicht hat zwischen vier und siebzehn Kindern, folglich ist eine Haushaltsgröße von 9 Personen nicht unrealistisch. Das Familieneinkommen liegt möglicherweise bei ungefähr 120 USD im Monat (immerhin haben in Kinshasa relativ viele Menschen Arbeit) aber gespart wird davon kaum etwas. So gerechnet, würde die lokale Bevölkerung außerhalb von Gombe 135 Millionen USD im Monat konsumieren. Innerhalb von Gombe und in den angrenzenden Vierteln der Schönen und Reichen mag es 10.000 Expatriates und 10.000 Familien der kongolesischen Oberschicht geben – macht 20.000 Einkommen jenseits von 3.000 USD im Monat. Rechnet man die Sparquote heraus, könnte man schätzen, daß diese Elite 45 Millionen USD im Monat konsumiert. Ganz ohne Berücksichtigung von Botschaften, Büros und Wirtschaftsunternehmen wäre die Konsequenz, daß mindestens ein Drittel des Konsums von Kinshasa in Gombe stattfindet, auf dem Weg dahin mit Poids Lourds ein Nadelöhr passiert und dabei mindestens zwanzig Minuten wartet. In dieser Zeit sind teure LKWs und deren Fahrer untätig und können sich nicht anderweitig produktiv nützlich machen. Angestellte langweilen sich abseits des Schreibtisches zum Schaden des Arbeitgebers, von den Kosten des höheren Fahrzeugverschleißes ganz abgesehen. Warten tun natürlich auch sämtliche Expatriates, die in Limete in den großen Unternehmen arbeiten, jede Person, die dort Termine hat, und all jene, die die Stadt mit dem Flugzeug verlassen möchten. Wer im Laufe eines Tages zwei Termine in Limete hat und diese nicht direkt aneinanderlegen kann, verbringt an einem Arbeitstag leicht fünf Stunden im Auto – für eine Strecke von vielleicht siebzig Kilometern. Angestellte, die morgens um sieben Uhr im Büro in Limete auftauchen, sind keineswegs arbeitswütige Workaholics, sondern weichen schlicht dem Verkehr und der reinen Zeitverschwendung auf die einzig mögliche Art und Weise aus. Warten tun auch Hunderttausende von Wachleuten, Putzkräfte und Fahrern, die aus den Vororten zur Arbeit nach Gombe pendeln, aber das ist nicht so schlimm – auf kolonialdeutsch: deren Zeit ist von zu vernachlässigendem Wert.
Wie kann es sein, daß einige wenige hundert Meter auf einer der drei oder vier wichtigsten Straßen Kinshasas mit diesen Schlaglöchern erheblichen wirtschaftlichen Schaden anrichten, ohne daß es jemanden kümmert? Wie schwierig kann es sein, diese fünfhundert Meter zumindest bis auf weiteres soweit in Stand zu setzen, daß nicht jedes einzelne von Tausenden Fahrzeugen derart abbremsen muß, daß sich schon morgens um acht Uhr der Verkehr auf zwanzig Minuten staut? Die Antwort findet sich, wenn man nach den möglichen Interessenten einer Instandsetzung sucht.

Die Angstellten von Botschaften, internationalen Organisationen und gemeinnützigen Organisationen verschlägt es selten ins Industriegebiet zu all dem Dreck und Elend der wirtschaftlichen Produktion. In den wenigen Fällen tröstet immerhin die Gewißheit, für die verschwendete Lebenszeit fürstlich entlohnt zu werden vermittels allerlei Härteposten-Zulagen. Unbequem ist es natürlich, zum Flughafen mindestens drei Stunden vor Abflug aufbrechen zu müssen – aber zur Entschädigung hat man im fernen Europa interessante Anekdoten aus dem rückständigen Entwicklungsland im Gepäck, mit denen man die provinzielle Verwandtschaft unterhalten kann.
Die Wartezeiten von Waren und Gütern wiederum trägt der Konsument, denn die Firmen – gleich ob lokale Produzenten oder Importeure – können es sich leisten, die Kosten für Reifenverschleiß und Ersatzteile, für Gehälter von Fahrern und sämtliche relativ höheren Fixkosten auf das Produkt umzulegen. Solange ein Liter Milch von allen drei Anbietern immer zwei Euro kostet und der Konsument bezahlt, ist der Zustand von Poids Lourds auch für die produzierende und verkaufende Industrie nur eine Unannehmlichkeit, aber keine Katastrophe.

Auch in umgekehrter Perspektive ergibt sich dasselbe Bild: benötigt der in Gombe ansässige Bankangestellte vier Stunden statt zwei für den Besuch beim Kunden in Limete, ist das durch Zinssätze im Bereich dessen, was in Deutschland als sittenwidriger Wucher gelten würde, abgedeckt. Ohnehin sind ja alle diese Parteien kaum in der Position, den Auftrag zur Straßenreparatur aufzugeben. Allenfalls die internationalen Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit hätten möglicherweise einen Hebel in der Hand, aber wer sich mit Projekten zur Kinderhilfe im Wert von 20 Millionen USD befaßt, denkt natürlich nicht über Profanitäten wie den Zustand der Straßen nach.
Bleiben als letzte Hoffnung die Angestellten der Regierung: sicherlich müßten doch Ministerialbeamten oder Kommunalbehördenmitarbeiter sich für den Zustand der Infrastruktur und die übergeordnete volkswirtschaftliche Wohlfahrt interessieren? Daß die geringere Produktivität der Wirtschaftsunternehmen möglicherweise die Besteuerungsbasis für den Staat verringert – das ist schon sehr um die Ecke gedacht. Die Effekte horrender Lebenshaltungskosten einer Stadt auf die Attraktivität als Wirtschaftsstandort ist gleichermaßen umständlich nachzuvollziehen, zumal das ja auch bisher die Vereinten Nationen nicht davon abgehalten hat, Tausende MONUC Mitarbeiter im Kongo zu stationieren, ebensowenig wie es gemeinnützige Organisationen davon abhält, gute Werke zu tun. Der einzelne Staats- und Regierungsangestellte wiederum befindet sich in derselben Situation wie der ausländische Arbeitnehmer: die Wartezeit ist unbequem und man kann sich angenehmere Zeitvertreibe vorstellen, als zwei Stunden im Auto zu sitzen – aber auf das Gehalt wirkt es sich nicht aus und das Mantra der maximalen Effizienz und Produktivitätsoptimierung hat diesen gottverlassenen Flecken in Schwarzafrika auch noch nicht erreicht, so daß die Wartezeit auf Poids Lourds – ebenso wie jene in Läden und Behörden, Restaurants und bei Terminen – mit stoischem Gleichmut hingenommen wird. Ohnehin muß man fragen: würde eine solche Angelegenheit den vergleichbaren Behördenmitarbeiter in Deutschland interessieren? Eher nicht.
Für sich genommen haben sämtliche Personen, die regelmäßig auf Poids Lourds im Stau stehen entweder keine Handhabe, um den Status Quo zu ändern, oder aber kein ausgeprägtes Interesse daran. Das gemeinschaftliche Interesse wiederum hat in diesem Land schon lange keine Lobby mehr und in diesem speziellen Fall ist es außerdem zu klein und unbedeutend – selbst die Chinesen würden sich vermutlich nicht dazu herablassen, für einen so winzigen Kontrakt ein Angebot zu unterbreiten. Ausbau und Renovierung der Straße im großen Stil hingegen sind im Staatsbudget vermutlich nicht vorgesehen und nicht bezahlbar.

Davon abgesehen: würde man die Straße verbessern, staute sich der Verkehr dennoch weiterhin an der nächsten von Polizisten gemißregelten Kreuzung – und da kann man es doch auch gleich lassen und einfach sämtliche Staus aussitzen. Ebenso wie alle anderen Probleme in diesem Land.

*Ich schwöre - heute genauso gesehen.

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