Donnerstag, 4. November 2010
Zivilisation
Gestern habe ich gerade zu einen Clash of Civilizations erlebt: eine junge Frau präsentierte Forschungsergebnisse basierend auf Daten aus Senegal. Man muß kein Held sein, um zu wissen, daß die Datenqualität in solchen Ländern mit dem reichlich sprudelnden Statistikquell eines Bundesamtes nicht zu vergleichen ist, das war schon in Ordnung. Schwieriger war es mit der überaus praktisch orientierten Fragestellung: so praktisch, daß es den hiesigen Wissenschaftlern zum Teil schwerfiel, den Sinn darin zu erkennen.

Es ging um Gesundheit und Sensibilisierung für Risiken und so schön es wäre, könnte man aus bestimmten Maßnahmen weniger Krankheitsfälle herauslesen - so einfach ist die Welt leider nicht. Immerhin: bestimmte Indikatoren wiesen darauf hin, daß verschiedene Informationsmaßnahmen unterschiedlich wirksam sind und das ist für den Praktiker durchaus relevant. In der Präsentation ging es trotzdem hoch her aufgrund fundamentaler Verständnisprobleme, Wissenschaftler aus dem Elfenbeinturm gegen pragmatische Praktiker, ein Kollege exponierte sich mit drastischen Fragen, ein anderer kam heldenhaft angeritten wie der Ritter auf dem weißen Pferd und nahm die junge Wissenschaftlerin in Schutz - das ist heute immer noch das Gesprächsthema des Tages, sonst passiert hier helten sowas aufregendes.

Hier ist es jetzt auch Gesprächsthema, es zeigt nämlich sehr schön das Bemühen von Entwicklungszusammenarbeit, die eigene Arbeit zu verbessern. Interessant in diesem Zusammenhang, wer sich bei der Entwicklungszusammenarbeit vorbildlicher Transparenz befleißigt und wer es bei Lippenbekenntnissen belässt.
Das deutsche BMZ hält sich wacker im oberen Mittelfeld, Niederlande und Vereinigtes Königreich sind die beiden bestplazierten bilateralen Geberländer, und siehe da: die vielgescholtenen multilateralen Organisationen belegen fast durchweg Spitzenplätze. Ganz oben die Weltbank, dahinter die EU, außerdem die Asian Development Bank und - Überraschung! - die African Development Bank. Wie die da oben gelandet sind, ist mir völlig rätselhaft, die Homepage war noch vor gut einem Jahr ein uninformatives Chaos, aber solche Neuigkeiten wärmen mir das Herz.
Auch die Vereinten Nationen schneiden nicht schlecht ab, es wird ja viel geklagt über Geldverschwendung bei den großen Organisationen, über Korruption und Vetternwirtschaft, ohne Beziehungen kommt man ohnehin nicht rein, und für jede Büroklammer muß man Papiere und Projektanträge ausfüllen.

Vor gut einem Jahr unterhielt ich mich mit einer jungen Frau, die gerade sehr ernüchtert von ihrem ersten Einsatz bei einer großen Organisatione zurückgekehrt war und befand: das viele Geld für Bürokratie und Formalia solle doch lieber in Projekte investiert werden. Ich habe vehement protestiert, meine ich doch, daß große Organisationen (ebenso wie Wirtschaftsunternehmen) nicht nur über Vertrauen funktionieren können. Vertrauen als organisatorische Grundlage geht gerade solange, wie eine Handvoll Vorgesetzer alle Mitarbeiter wirklich gut kennt. Wenn das nicht mehr gegeben ist, sind klare Regeln, Vorschriften und Kontrollen sehr viel geeigneter, gewisse Standards zu sichern. Standards, wie die Länge des Arbeitstages, die vertretbaren Reisekosten, die Formate von Unterlagen, die Verfahren zur Einstellung neuer Mitarbeiter - einfach alles. Vierzig Personen können sich da noch einigen und an einem Strang ziehen - 4.000 können das nicht und dann sind Regeln prima. Leider kosten Regeln und deren Durchsetzung Zeit und Geld, produzieren viel Papierkram und natürlich kann man sagen, das ist Verschwendung, wenn es doch um die Umsetzung wohltätiger Zwecke geht.

Ich finde es trotzdem gut, vernünftig, geradezu weise. Vertrauen in die Einhaltung von Regeln ist gut, Kontrolle mit Belegen ist besser, und es freut mich zu sehen, daß die vielen Papierberge, die bei großen Organisationen - unbestreitbar - produziert werden, auch zu etwas führen: einer Transparenz, die man messen kann. Da weiß man immerhin, wo unsere Steuergelder hinwandern, auch wenn solche Studien natürlich nicht viel über interne Effizienz sagen und mancher Mißstand unberücksichtigt bleibt.

Man soll sich ja auch über das Licht in der Finsternis freuen, nicht immer nur jammern und klagen.

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Dienstag, 2. November 2010
Ein Topf voller Überraschungen
Als Kind waren wir gelegentlich wandern, wobei mein Vater sich dadurch auszeichnete, daß er zwar stets im Besitz der aktuellsten Wanderkarten und Busfahrpläne war, jedoch ganz sicher irgendwann eine Abkürzung nahm, die keine war. Wir wanderten dann ein paar Stunden länger, sahen etwas mehr von der Welt und kamen etwas später am Ziel an.
Bedauerlicherweise fürchte ich zunehmend, daß ich nach meinem Vater geraten bin: ich verpasse an den entscheidenden Weggabelungen den richtigen Weg, merke es irgendwann und brauche dann leider für alles etwas länger als andere.

Zehn Jahre nach dem Beginn meiner universitären Karriere (und acht Jahre nach allen andere) habe ich endlich das richtige fachliche Umfeld gefunden, und beobachte grün vor Neid mit leichtem Bedauern jene jugendlichen Überflieger, die schon jetzt mehr über unser Fach wissen, als es bei mir je der Fall sein wird. Berufserfahrungen bei gut beleumundeten Arbeitgebern kann ich inzwischen wohl vorweisen, aber ich habe auch etliche Monate meines Lebens mit Praktika in der zweiten und dritten Liga verbracht – während die junge Elite in diesem Alter längst beim Auswärtigen Amt hospitiert und bei M*Kinsey gerackert hat.

Wäre ich an der richtigen Abzweiung Investmentbanker geworden und hätte die Boomjahre miterlebt, das Rentenalter käme dank üppiger Boni schon beinahe in Sicht, aber stattdessen schufte ich wie ein Hamster im Laufrad und - schreibe Klausuren. Heute morgen, auf dem Weg zur Bank, wo die monatliche Miete ein erschreckendes Loch in mein Budget gerissen hat, dachte ich: es wäre wahrhaftig an der Zeit, daß mal wieder was Nettes, was Überraschendes passiert.

Und ich meine nicht die Sorte von Überraschungen, die Schusseligkeit, Hektik und Überarbeitung mir tagaus tagein bescheren. Morgens reisse ich das Paket Mehl versehentlich mit dem Müsli aus dem Schrank und es fällt – natürlich – in die vorbereitete Joghurtschüssel, der bis unter die Decke spritzt. Kaufe ich auf dem Weg zum Bahnhof ein Gebäckteilchen, gelingt es mir, die Füllung nicht nur harmlos auf der Hose zu verteilen: nein, bis in den Jackenärmel hat es das Klebzeug geschafft. Ganz steifgetrocknet, inzwischen. Wo immer ich im Moment hinkomme, sind garantiert Schlangen, und umso länger, je mehr ich in Eile bin. Ich schütte den Kaffee morgens grundsätzlich neben die Kanne, vergesse Unterlagen im Büro und merke es am Fuße der Treppe, verpasse die Anmeldefrist für den Nebenjob nächstes Jahr, schreibe schwachsinnige Mails, für die ich mich später nur auf Knien entschuldigen kann – kurz, ich bin im Moment voller Überraschungen für mich selbst, ein Trampeltier.

Die Überraschungen, die ich mir wünschen würde, sind anderer Art. Nett wäre zum Beispiel ein Dukatenesel mit rosa Schleifchen um den Hals (Lieferadresse wird auf Anfrage herausgegeben). Die Finanzierung für das Seminar, das ich so rasend gerne besuchen würde. Oder auch die Zuerkennung des verdammten Titels für herausragende – wiewohl von jedermann unbeobachtete – Erkenntnisfortschritte auf dem Niveau eines Bachelor-Studenten im zweiten Jahr. In Ermangelung solcher Wohltaten wird mir aber nun wenigstens die Sorge um die drohende Freizeit ab Mitte November abgenommen: mein alter Vorgesetzter hat Schreibtischaufgaben zu erledigen.

Ursprünglich mal ging es um Arbeiten zu, sagen wir... Thema A, Deadline Mitte des Jahres. Deren fristgerechter Abschluß war aus allerlei Gründen (damals war ich unschuldig!) irgendwann hinfällig, andere Leute wurden miteinbezogen, Daten erhoben, zwischendurch im September waren wir kurz in Verhandlungen. Eine Reise in die Wärme hätte ich keinesfalls abgelehnt, auch nicht das neue Thema B, aber am Ende zogen sich Verhandlungen mit Dritten länger hin und irgendwann war ich nicht mehr abkömmlich, weil ein Visum nicht in drei Tagen zu beschaffen ist, und so blieb ich hier.
Jetzt also ein neuer Anlauf, die Fristen für Thema A sind inzwischen auf Ende des Jahres verschoben worden (das habe ich in gelegentlichen Verteiler-Mails noch mitbekommen), die Mitarbeiterzahl am Projekt ist gewachsen, und Thema A ist nicht mehr Thema A. Ich habe ja noch einige Tage Zeit mir darüber klarzuwerden, wo eigentlich der Berührungspunkt zwischen den neuen Aufgaben und dem ursprünglichen Thema ist. Den muß es geben, das suggeriert die Nachricht des Vorgesetzten ganz deutlich (Sätze wie „as discussed earlier“ weisen darauf hin), ich habe nur noch nicht rausbekommen, wie. Das bißchen mehr Chaos fällt in meinem Chaos-Universum im Moment kaum auf, macht also nix.

Immerhin, das ist schon sehr viel näher dran an den gewünschten Überraschungen als Mehl im Joghurt. Ist wie beim Topfschlagen: Nur weiter so.

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Montag, 1. November 2010
Grusel am Abend
Ich gehe nicht nur nicht ins Kino - ich habe auch keinen Fernseher. Nicht mehr, seit wir vor einigen Jahren ein schwarzes Monstrum vergeblich ins zweite Obergeschoß geschleppt haben und meine Mutter fragte: Wohin damit? Mein Vater meinte: In die Nähe der Buchse, natürlich. Die es nicht gab. Zu dritt krochen wir eine Weile auf dem Fußboden herum, untersuchten Anschlüsse und Steckdosen ohne Erfolg, bis wir nach Rückfrage bei den Nachbarn den Fernseher wieder zurück ins Auto trugen und ich in den folgenden zwei Jahren feststellte: der Fernseher gehört zu den Dingen, deren Abwesenheit einem klarmacht, daß man sie überhaupt nicht braucht.

An dieser Einstellung hat sich grundsätzlich nichts verändert, einzelne Nächte mit unterirdisch schlechtem Programm in Hotels oder zu Hause haben mich in meiner Auffassung nur bestätigt.
Mittlerweile gibt es jedoch Fernsehen auch übers Internet, dieses Wochenende stapelte sich die Arbeit, das neue Buch läßt sich nur mühsam an und in der Not frißt der Teufel bekanntlich Fliegen - und ich schaue Unterschichten-Programm.

"Bauer sucht Frau". Sehen Sie es mir nach, ich war heute Abend wirklich verzweifelt und bin der morbiden Faszination solcher Programme erlegen. Da gibt es "scharmante Schweinewirte", "einsame Schäfer" und "tätowierte Schwäbinnen" (das muß das Fernseh-Pendant zur tätowierten First Lady sein), Damen werden an Bushaltestellen abgeholt, die wirklich nur ein betoniertes Viereck am Straßenrand sind, beim Wiedersehen gebärden sich die Herrschaften als wären sie Königskinder, die endlich das tiefe Wasser überwunden haben, und das Pathos wäre auch Tristans und Isoldes würdig gewesen. Die Sendung ist eine grandiose Lehrstunde in Euphemismen. Man muß nicht sagen, daß ein Hof völlig heruntergekommen ist - "urig" klingt doch viel schöner, arbeitslos wird ersetzt durch das "hübsche Haufrau". Wobei sich meiner Meinung das mit dem hübsch in Grenzen hält - aber ich ja auch eine stutenbissige Ziege. Merken Sie sich: kein Nomen ohne illustrierendes Adjektiv. Da eröffnen sich ungeahnte sprachliche Möglichkeiten. Und wußten Sie, daß "gelernte Melkerin" ein Ausbildungsberuf ist? Die Dame hatte natürlich ein entsprechend hervorragendes Verständnis für das ländliche Umfeld:
"Ich habe noch nie Schafe mit so'm langen Schwanz gesehen! Wo ha'm die die her?" Sprach's, kniete nieder und machte "Putt, putt, putt".

Das tollste sind jedoch die Einblicke in fremde Schlafzimmer: was da an Scheußlichkeiten in Biber-Pseudo-Satin auf Plastik-Furnier geboten wird verschlägt mir glatt die Sprache, da helfen auch keine niedlich auf dem Kopfkissen drapierten Marzipanschweinchen mehr und die Kissen können noch so rührend bemüht vom jeweiligen Bauern (oder seiner Mutti) aufgeschüttelt werden. Daß solche Einrichtung neu gekauft sein soll (ja ehrlich!) kann ich mir kaum vorstellen, aber wenn es im Fernsehen kommt, muß es ja wahr sein. Trotz solcher Widrigkeiten findet der wahrhaft Bemühte auch hier Gelegenheit zu tiefsinnigen Dialogen:
Sie so: "Schönes großes Bett. Da kann man auch zu zweit drin liegen."
Er so: "Ja, kann man, und das ist sogar 2 Meter lang!"
Sie so: "Da kann man aber auch drin liegen, wenn man nur 1,70 groß ist". Das nenne ich mal eine subtile Anmache.

Zwangsläufig frage ich mich: wer guckt sowas? Einschaltquoten können ja nicht nur von verzweifelten Individuen wie mir geschaffen werden - es muß wohl Leute geben, die sich sowas regelmäßig anschauen. Ein Rätsel. Eigentlich wollte ich jetzt lobende Worte über die Hintergrundmusik verlieren, aber da läuft gerade "Modern Talking". Das muß also entfallen. Vielleicht versuche ich es nochmal mit dem Buch. Notfalls nehme ich das "Handbuch Außenpolitik" mit ins Bett - alles ist besser, als das hier.

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