Jeder für sich
Gestern Mittag, auf dem Weg zur Standard-Mittagessens-Bäckerei. Gleich vor dem Supermarkt auf der einen und der Patisserie auf der anderen Seite kreuzen sich zwei Straßen. Jene zur Bäckerei, und eine Querstraße. Die Querstraße ist noch einmal geteilt durch einen Grünstreifen, auf der Mitte der Kreuzung steht ein Baum, um den sich der Verkehr herumwindet, Fahrspuren gibt es keine, alles fährt wie es will, ohnehin gibt es dauernd Schlaglöcher und – nach dem flutartigen Regen des Vormittags – teichgroße Pfützen zu umkurven. Folglich knäulen sich die Autos rund um den Baum zusammen, weder stehen sie in Linie hintereinander, noch parallel oder in rechten Winkeln zueinander, sondern einfach nur durcheinander. Das ist hier immer so und nichts Besonderes.
Besonders ist jedoch, daß die Straße zur Bäckerei völlig zugestaut ist – immer mal ein paar Zentimeter, dann wieder anhalten, wir brauchen fast zwanzig Minuten für eine Strecke, die man zu Fuß in zehn bewältigen könnte. Etwa auf Höhe des Baumes steht links neben uns ein Auto, mit gutem Willen könnte man sagen: in diesem Chaos fährt es auf der Querstraße, die relativ frei ist. Oder genauer, es könnte fahren, ständen wir und unser Vordermann nicht im Weg. Im langsamen stop-and-go bewegt sich der Vordermann ein wenig und jetzt könnte sich theoretisch eine Lücke in der Wand von Autos öffnen, die dem Fahrer zur Linken die freie Weiterfahrt verwehrt. Nur rückt unser Fahrer direkt auf. Der Vordermann rückt noch weiter vor, erneut könnte, könnte vielleicht unser Fahrer den Kollegen durchlassen, aber das scheint er gar nicht wahrzunehmen, entschlossen hält er fünf Zentimeter Abstand zwischen den Stoßstangen. Während der Herr zur Linken in seinem Auto sicher flucht.
Eine kleine Episode, aber typisch für dieses Land und ursächlich für die Hälfte der Staus, mindestens. Über den eigenen Horizont (oder in diesem Fall die eigene Windschutzscheibe) hinaus zu denken ist völlig unüblich. Es ist nicht mal böse Absicht, Rücksichtslosigkeit oder Aggressivität (wie so oft in Europa), sondern einfach mangelnde Erfahrung darin, für andere mitzudenken. Das Leben ist so hart, jeder so an totalen Egoismus gegenüber Fremden gewöhnt, daß eine andere Perspektive einfach nicht denkbar ist. Für niemanden.
Nachmittags dann im Büro meines Arbeitgebers, wo ich sei einer Woche sitze. Mit aktuell etwa acht Kollegen zusammen. Bei derartiger Überbelegung sind alle sehr um Rücksichtnahme bemüht. Meistens jedenfalls. Wer telefonieren will, geht raus. Alle Laptops sind lautlos. Wer sich mit Kollegen besprechen will, sucht sich einen anderen Raum oder fragt wenigstens um Erlaubnis. Mal abgesehen von dem einen, dessen Rechner nicht nur im 10-Minuten-Takt verkündet: „Boss, you have new mail“, sondern dessen auf dem Tisch vergessenes Telefon auch über eine halbe Stunde lang beharrlich klingelt, der Kollege scheint gefragt zu sein. Und dann gibt es da noch den jungen Mann von der Putzkolonne, der gegen drei Uhr mit einem Stapel Papier aufläuft, sich vor der Phalanx von Schneide- und Bindemaschinen niederläßt und an die Arbeit macht. Zuerst werden die Stapel von Unterlagen unter lautem Rascheln sortiert. Dann kracht im Minutentakt die Schneidemaschine herunter. Dann hämmert die Bindemaschine die Papiere zusammen. Und das nicht ein oder zwei Mal, nein, als ich mich irgendwann verzweifelt umdrehe, sehe ich dreißig ordentlich gestapelte, noch ungebundene Büchlein. Ich möchte toben, möchte ihn packen und schütteln, möchte schreien und schimpfen. Irgendwann dann hat auch einer der senioreren Kollegen genug vom Lärm und fragt, ob der junge Mann nicht woanders tackern, hämmern und binden könne? Nein, dies seien ja die einzigen Maschinen. Und die könne man nirgendwo anders hinstellen? Nein, die ständen ja hier im Büro. Aber könne man sie nicht vorübergehend woanders aufstellen, um die acht Kollegen in Ruhe arbeiten zu lassen? Hm. Langes Nachdenken. Dann irgendwann Ruhe.
Ich möchte keines der arroganten Arschlöcher sein, die irgendwann allen Afrikanern kollektiv mindere intellektuelle Kapazität oder generelle Rücksichtslosigkeit unterstellen, aber an solchen Tagen kann ich nicht umhin, mich zu fragen, woher das kommt. Sicher, beides kann einem auch zu Hause passieren, aber hier passiert es öfter. Das „um-die-Ecke“, „für-andere-mit“ denken ist ist auf augenfällige Art und Weise abwesend, unüblich und ausgesprochen selten. Ich kann nur vermuten, daß es mit den harten Lebensumständen zusammenhängt, mit der Not jedes Einzelnen im täglichen Überlebenskampf, vielleicht auch mit der immer wieder angeführten Mobutu Mentalität, nach der jeder ein Recht hatte, sich soviel für sich selbst zu nehmen, wie er konnte. Und das sagen mir Kongolesen, nicht die Expats.
Und nachdem ich ohnehin schon begonnen habe, Fragen ohne Antworten zu stellen, ist hier natürlich die spannende Frage: wie erzieht man ein ganzes Land um? Auf daß der Verkehr irgendwann wieder fließen möge, die Wirtschaft nicht mehr über Korruption stolpert und die Menschen der Not entkommen können?
Besonders ist jedoch, daß die Straße zur Bäckerei völlig zugestaut ist – immer mal ein paar Zentimeter, dann wieder anhalten, wir brauchen fast zwanzig Minuten für eine Strecke, die man zu Fuß in zehn bewältigen könnte. Etwa auf Höhe des Baumes steht links neben uns ein Auto, mit gutem Willen könnte man sagen: in diesem Chaos fährt es auf der Querstraße, die relativ frei ist. Oder genauer, es könnte fahren, ständen wir und unser Vordermann nicht im Weg. Im langsamen stop-and-go bewegt sich der Vordermann ein wenig und jetzt könnte sich theoretisch eine Lücke in der Wand von Autos öffnen, die dem Fahrer zur Linken die freie Weiterfahrt verwehrt. Nur rückt unser Fahrer direkt auf. Der Vordermann rückt noch weiter vor, erneut könnte, könnte vielleicht unser Fahrer den Kollegen durchlassen, aber das scheint er gar nicht wahrzunehmen, entschlossen hält er fünf Zentimeter Abstand zwischen den Stoßstangen. Während der Herr zur Linken in seinem Auto sicher flucht.
Eine kleine Episode, aber typisch für dieses Land und ursächlich für die Hälfte der Staus, mindestens. Über den eigenen Horizont (oder in diesem Fall die eigene Windschutzscheibe) hinaus zu denken ist völlig unüblich. Es ist nicht mal böse Absicht, Rücksichtslosigkeit oder Aggressivität (wie so oft in Europa), sondern einfach mangelnde Erfahrung darin, für andere mitzudenken. Das Leben ist so hart, jeder so an totalen Egoismus gegenüber Fremden gewöhnt, daß eine andere Perspektive einfach nicht denkbar ist. Für niemanden.
Nachmittags dann im Büro meines Arbeitgebers, wo ich sei einer Woche sitze. Mit aktuell etwa acht Kollegen zusammen. Bei derartiger Überbelegung sind alle sehr um Rücksichtnahme bemüht. Meistens jedenfalls. Wer telefonieren will, geht raus. Alle Laptops sind lautlos. Wer sich mit Kollegen besprechen will, sucht sich einen anderen Raum oder fragt wenigstens um Erlaubnis. Mal abgesehen von dem einen, dessen Rechner nicht nur im 10-Minuten-Takt verkündet: „Boss, you have new mail“, sondern dessen auf dem Tisch vergessenes Telefon auch über eine halbe Stunde lang beharrlich klingelt, der Kollege scheint gefragt zu sein. Und dann gibt es da noch den jungen Mann von der Putzkolonne, der gegen drei Uhr mit einem Stapel Papier aufläuft, sich vor der Phalanx von Schneide- und Bindemaschinen niederläßt und an die Arbeit macht. Zuerst werden die Stapel von Unterlagen unter lautem Rascheln sortiert. Dann kracht im Minutentakt die Schneidemaschine herunter. Dann hämmert die Bindemaschine die Papiere zusammen. Und das nicht ein oder zwei Mal, nein, als ich mich irgendwann verzweifelt umdrehe, sehe ich dreißig ordentlich gestapelte, noch ungebundene Büchlein. Ich möchte toben, möchte ihn packen und schütteln, möchte schreien und schimpfen. Irgendwann dann hat auch einer der senioreren Kollegen genug vom Lärm und fragt, ob der junge Mann nicht woanders tackern, hämmern und binden könne? Nein, dies seien ja die einzigen Maschinen. Und die könne man nirgendwo anders hinstellen? Nein, die ständen ja hier im Büro. Aber könne man sie nicht vorübergehend woanders aufstellen, um die acht Kollegen in Ruhe arbeiten zu lassen? Hm. Langes Nachdenken. Dann irgendwann Ruhe.
Ich möchte keines der arroganten Arschlöcher sein, die irgendwann allen Afrikanern kollektiv mindere intellektuelle Kapazität oder generelle Rücksichtslosigkeit unterstellen, aber an solchen Tagen kann ich nicht umhin, mich zu fragen, woher das kommt. Sicher, beides kann einem auch zu Hause passieren, aber hier passiert es öfter. Das „um-die-Ecke“, „für-andere-mit“ denken ist ist auf augenfällige Art und Weise abwesend, unüblich und ausgesprochen selten. Ich kann nur vermuten, daß es mit den harten Lebensumständen zusammenhängt, mit der Not jedes Einzelnen im täglichen Überlebenskampf, vielleicht auch mit der immer wieder angeführten Mobutu Mentalität, nach der jeder ein Recht hatte, sich soviel für sich selbst zu nehmen, wie er konnte. Und das sagen mir Kongolesen, nicht die Expats.
Und nachdem ich ohnehin schon begonnen habe, Fragen ohne Antworten zu stellen, ist hier natürlich die spannende Frage: wie erzieht man ein ganzes Land um? Auf daß der Verkehr irgendwann wieder fließen möge, die Wirtschaft nicht mehr über Korruption stolpert und die Menschen der Not entkommen können?
nnier,
Sonntag, 18. April 2010, 19:36
Es sind oft diese Kleinigkeiten, die fürs große Ganze zu stehen scheinen. Und Afrika ist da gar nicht so weit. Ich bemerke jedenfalls seit Jahren eine Tendenz dahin, dass eben nicht mehr auch nur ansatzweise mitgedacht wird: Blinken - wozu? Ich weiß doch, wohin ich fahren will! Und wenn man täglich wieder so ausgebremst wird (oder unnötig gewartet hat, weil man davon ausgehen musste, der andere werde geradeausfahren), dann passt das eben auch zu den Zugfahrgeschichten und -zig anderen Gedanken- und Rücksichtslosigkeiten, die es, da bin ich sicher, vor 20 Jahren so noch nicht gab.
destello,
Montag, 19. April 2010, 05:44
Ich glaube eher, dass dieses Benehmen die Normalität ist, uns unsere mitteleuropäisches Mitdenken und Rücksicht die Ausnahme. Ich lebe seit 9 Jahren in Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern und hier ist es das Gleiche. Eine "Zuerst ich"-Mentalität, gepaart mit einer fast aggressiven Gleichgültigkeit gegenüber dem unbekannten Dritten. Für mich eine der fundamentalen Gründe, warum Länder mit Bevölkerungen dieses Schlages nicht weiterkommen.
damenwahl,
Montag, 19. April 2010, 15:51
Werter nnier, auch daheim gehen Rücksichtnahme und Mitmenschlichkeit zurück, das sehe ich ebenfalls manchmal - allerdings ist es da eher der Verlust einer Tugend, die wir mal hatten. Im Kongo dagegen, destello ist das schon lange verloren gegangen, allerdings, so glaube ich, weil der alltägliche Überlebenskampf so viel härter ist als anderswo - das mag auch für Mexiko gelten. Evolutionstechnisch gesehen: Rücksichtnahme ist hier eine Strategie, bei der man verliert - was ich aber weniger dem Einzelnen vorwerfen würde. Vielmehr finde ich es traurig, daß es Länder gibt, die solche Rücksichtslosigkeit notwendig machen.
aidnography,
Dienstag, 20. April 2010, 23:54
Ich habe in Sued-Asien geforscht und gearbeitet und natuerlich regt man sich auf, wenn an jedem Schalter egal wofuer immer alle nach vorne stuermen und auf die Person hinter dem Schalter einschreien und mit Papieren und/oder Geld wedeln. Im Strassenverkehr ist das prinzipiell aehnlich. Das totale Misstrauen in jede Form von oeffentlicher Organisation ist sicher ein wichtiger Grund. Stehen wir ruhig in einer Schlange, dann bedient der Beamte 4 Leute und macht dann 3 Stunden Pause. Ueben wir alle 8 gleichzeitig Druck aus, dann bemuessigt er sich uns 8 zu bedienen anstatt heimlich zu verschwinden. Jetzt fliesst der Verkehr-also schnell und ohne Ruecksicht los brettern-nachher stehen wir 2 Stunden im Stau und nichts passiert. Diese, vielleicht im klassischen Sinne Weber'sche, Erwartungsverlaesslichkeit der Buerokratie ist ein wesentlicher Faktor fuer das, was ich unter 'good governance' verstehe. Ich zahle Steuern-und Lehrer und Rentner werden auch jeden Monat bezahlt; ich kann mich darauf verlassen, dass oeffentliche Einrichtungen funktionieren. Das funktioniert auch negativ: Anpassung durch Sanktionen. Wenn ich der schnellste sein will und bei Rot ueber die Kreuzung brettere und ein anderer in Erwartung seiner gruenen Ampel in mich reinfaehrt...Polizei, Versicherung, Papierkram, Punkte in Flensburg usw usf. Und das nicht nur bei den 'kleinen Leuten', sondern auch der reiche Mercedes-Fahrer kann nicht einfach Bargeld hinlegen und dann passt das. Klarer trade-off.
Kann man auch etwas wissenschaftlicher Betrachten, z.B. in Bangladesh:
Rude Accountability in the Unreformed State: Informal Pressures on Frontline Bureaucrats in Bangladesh:
'The idea of rude accountability is seductive: when formal governance systems fail, the idea that there are informal mechanisms that are better suited to context and culture is intrinsically attractive. Yet the paper concludes that the gains from rude accountability are often short-lived and may backfire, as public officials fear and resist efforts to enable citizen participation in holding them to account. There are features of contemporary Bangladeshi state-society relations that lend themselves to informal means of accountability, the analysis here of informal accountability mechanisms has wider implications for the move towards citizen involvement in performance-based accountability in other contexts.'
http://www.ntd.co.uk/idsbookshop/details.asp?id=1086
Kann man auch etwas wissenschaftlicher Betrachten, z.B. in Bangladesh:
Rude Accountability in the Unreformed State: Informal Pressures on Frontline Bureaucrats in Bangladesh:
'The idea of rude accountability is seductive: when formal governance systems fail, the idea that there are informal mechanisms that are better suited to context and culture is intrinsically attractive. Yet the paper concludes that the gains from rude accountability are often short-lived and may backfire, as public officials fear and resist efforts to enable citizen participation in holding them to account. There are features of contemporary Bangladeshi state-society relations that lend themselves to informal means of accountability, the analysis here of informal accountability mechanisms has wider implications for the move towards citizen involvement in performance-based accountability in other contexts.'
http://www.ntd.co.uk/idsbookshop/details.asp?id=1086
kittykoma,
Samstag, 24. April 2010, 13:55
unsere aparte westliche distanz ist ein produkt der letzten 50 jahre. eine 100 jahre alte wohnung von 90-120 qm (heute single- oder paarquartier) war in deutschland selbst in wohlhabenden stadtvierteln von 5 bis 7 menschen bewohnt.
es war völlig normal, ständig in unmittelbarer nähe von dienstboten, handwerkern und kindern zu sein - mit allem lärm.
das beschriebene verhalten spricht von sozialisation in der großfamilie. dafür müssen die menschen nicht einmal in übermäßig dicht besiedelten städten aufgewachsen sein. selbst im dorf in einer einsamen steppe wird auf engstem raum gelebt und gearbeitet.
nähe zum anderen menschen war die archaische garantie fürs überleben.
wer mit 8 oder 10 geschwistern in mangel aufwächst, weiß, daß er nur genug zu essen und aufmerksamkeit bekommt, wenn er drängelt und laut schreit.
wenn dann der erwachsene in seinem auto sitzt, verhält er sich nicht anders.
wer in einer einraumhütte alle tätigkeiten von 10 oder 11 menschen mitbekommt: kochen, nähen, waschen, schlafen, vögeln, streiten, feiern, hat überhaupt kein gespür dafür, jemanden mit papiergeraschel zu stören.
es gibt unterschiede zwischen afrika, einigen teilen asiens und indien. die asiatische philosophie, so wenig wie möglich emotionen zu zeigen und den anderen zu berühren, dazu auf engstem raum peinlich genau aufzuräumen und zu putzen, garantiert kontrollierbare strukturen.
auch wenn man es nicht gerne hört: militär und professionelle kriegsführung haben die westeuropäischen gesellschaften maßgeblich strukturiert und diszipliniert. wer lernt, nicht im haufen um sich zu schlagen oder ungeordnet loszurennen und übereinanderzustolpern, hat die chance, zu siegen und einen krieg zu überleben. in der masse macht es nicht die körperliche stärke des einzelnen, sondern die beherrschung der affekte und das effektive einsetzen von energie. nicht umsonst lernen soldaten als erstes marschieren und befehle befolgen.
die straßenverkehrordnung ist von der marschordnung nicht weit entfernt.
unser zivilisationsempfinden beschert uns einfach eine völlig andere sicht der dinge. und auch wir haben dafür viele generationen gebraucht.
ich habe übrigens noch nicht viel von der welt gesehen. aber ich glaube,meine kulturwissenschaftliche ausbildung reicht, um solche thesen aufzustellen.
es war völlig normal, ständig in unmittelbarer nähe von dienstboten, handwerkern und kindern zu sein - mit allem lärm.
das beschriebene verhalten spricht von sozialisation in der großfamilie. dafür müssen die menschen nicht einmal in übermäßig dicht besiedelten städten aufgewachsen sein. selbst im dorf in einer einsamen steppe wird auf engstem raum gelebt und gearbeitet.
nähe zum anderen menschen war die archaische garantie fürs überleben.
wer mit 8 oder 10 geschwistern in mangel aufwächst, weiß, daß er nur genug zu essen und aufmerksamkeit bekommt, wenn er drängelt und laut schreit.
wenn dann der erwachsene in seinem auto sitzt, verhält er sich nicht anders.
wer in einer einraumhütte alle tätigkeiten von 10 oder 11 menschen mitbekommt: kochen, nähen, waschen, schlafen, vögeln, streiten, feiern, hat überhaupt kein gespür dafür, jemanden mit papiergeraschel zu stören.
es gibt unterschiede zwischen afrika, einigen teilen asiens und indien. die asiatische philosophie, so wenig wie möglich emotionen zu zeigen und den anderen zu berühren, dazu auf engstem raum peinlich genau aufzuräumen und zu putzen, garantiert kontrollierbare strukturen.
auch wenn man es nicht gerne hört: militär und professionelle kriegsführung haben die westeuropäischen gesellschaften maßgeblich strukturiert und diszipliniert. wer lernt, nicht im haufen um sich zu schlagen oder ungeordnet loszurennen und übereinanderzustolpern, hat die chance, zu siegen und einen krieg zu überleben. in der masse macht es nicht die körperliche stärke des einzelnen, sondern die beherrschung der affekte und das effektive einsetzen von energie. nicht umsonst lernen soldaten als erstes marschieren und befehle befolgen.
die straßenverkehrordnung ist von der marschordnung nicht weit entfernt.
unser zivilisationsempfinden beschert uns einfach eine völlig andere sicht der dinge. und auch wir haben dafür viele generationen gebraucht.
ich habe übrigens noch nicht viel von der welt gesehen. aber ich glaube,meine kulturwissenschaftliche ausbildung reicht, um solche thesen aufzustellen.
damals,
Sonntag, 25. April 2010, 12:31
Und da auch ich bisher (fast) nur in Deutschland gelebt habe, beantworte ich Ihre spannende Schlussfrage auch aus deutscher Sicht: Amerikaner und Russen hatten ja nach dem Zweiten Weltkrieg ähnliche Ambitionen in Bezug auf uns Deutsche. Gott sei Dank wurde nicht allzu viel draus, wenn man von einigen Unternehmungen der Russen absieht, die sich als Eigentore erwiesen. Umerziehung mündiger Bürger ist der effektivste Demokratiekiller, den man sich vorstellen kann. Nun kann man ja der Meinung sein, dass effektives Funktionieren wichtiger als Demokratie ist. Ich meine aber, dass jedes Land ein Recht auf sein eigenes Elend hat.
vert,
Sonntag, 25. April 2010, 18:51
da muss ich jetzt aber mal ganz vorsichtig nachfragen: haben sie den eindruck, die weimarer republik wäre an umerziehungsfragen gescheitert und nach 1945 habe man seitens der alliierten mit mündigen bürgern zu tun gehabt?
wenn der marshall-plan mangels sowjetischer drohkulisse doch ein morgenthau-plan geworden wäre - dann bräuchten wir diese diskussion jetzt zumindest nicht im internet führen.
wenn der marshall-plan mangels sowjetischer drohkulisse doch ein morgenthau-plan geworden wäre - dann bräuchten wir diese diskussion jetzt zumindest nicht im internet führen.
damals,
Sonntag, 25. April 2010, 20:22
Okay, die Weimarer Republik. Das war Fahrlässigkeit. Wenn die Obrigkeit selbst nicht mehr viel von der Demokratie hält (Präsidialdiktatur), ist es kein Wunder, wenn ein anderer auch auf die Idee kommt und die Macht per Putsch ganz an sich reißt (zumal er sich vorher die Unterstützung einiger Größen und Wählerpotentiale "aus der Mitte der Gesellschaft" gesichert hat). Nach 1945 aber hatten wir es ohne Zweifel mit mündigen Bürgern zu tun, egal wie verblendet oder fatalistisch viele von ihnen waren. Denn mündig ist jeder, der erwachsen ist und nicht durch einen aufwändigen Prozess entmündigt wurde. Einer Bevölkerung pauschal ihr Verhalten vorzuwerfen, führt doch bestenfalls zu einer Untertanen- und Vertuscher-Demokratie, wie es sie in Westdeutschland in den 50er Jahren gab.
Ja, Sie haben Recht: Gott sei Dank ist es der Marshall- statt der Morgenthau-Plan geworden. Aber dass und wie wir hier im Internet diskutieren, verdanken wir doch vor allem auch der allmählichen Demokratisierung in den Sechzigern (angefangen von Leuten wie Fritz Bauer bis hin zu Rudi Dutschke - um es mal plakativ zuzuspitzen).
(Sie sehen, Ihr Widerspruch trifft einen empfindlichen Punkt - getroffene Hunde bellen.)
Ja, Sie haben Recht: Gott sei Dank ist es der Marshall- statt der Morgenthau-Plan geworden. Aber dass und wie wir hier im Internet diskutieren, verdanken wir doch vor allem auch der allmählichen Demokratisierung in den Sechzigern (angefangen von Leuten wie Fritz Bauer bis hin zu Rudi Dutschke - um es mal plakativ zuzuspitzen).
(Sie sehen, Ihr Widerspruch trifft einen empfindlichen Punkt - getroffene Hunde bellen.)
vert,
Dienstag, 27. April 2010, 18:54
ich wage zu behaupten, dass die untertanenmentalität/der autoritäre charakter fester bestandteil der bürgerlichen klasse seit ende des 19 jhs. war.
und ohne die reeducation (die verhältnismäßig differenziert war) hätte man nicht mal das gefühl gehabt, etwas vertuschen zu müssen (s. bauer./.capesius)
(ich hatte nicht im geringsten vor, jdn. zu treten. das ginge wirklich gegen meine mentalität;-)
und ohne die reeducation (die verhältnismäßig differenziert war) hätte man nicht mal das gefühl gehabt, etwas vertuschen zu müssen (s. bauer./.capesius)
(ich hatte nicht im geringsten vor, jdn. zu treten. das ginge wirklich gegen meine mentalität;-)
damenwahl,
Dienstag, 27. April 2010, 21:40
Ich bin überaus erfreut, daß auch in meiner Abwesenheit hier so wunderbar diskutiert wird, ich war sechzig Stunden lost in transit und muß jetzt erst mal umziehen.
Frau Kitty, Sie haben natürlich recht, das hat mit Erziehung, Prägung und Sozialisierung zu tun, das Verhalten ist Notwendigkeit angesichts der Lebensumstände. So gesehen, Herr damals, erübrigt sich möglicherweise die Umerziehung, wenn die Lebensumstände sich ändern. Ich bin allerdings der festen Überzeugung, daß das Leben in einer rücksichtsvollen, weniger egoistischen Gesellschaft angenehmer ist - und auch wirtschaftlich zu mehr Erfolg führt. Im Sinne von weniger Korruption und mehr Kooperation. Das mangelnde Vertrauen und die ständige Kontrolle aller Beteiligten wirken sich nämlich auch an anderer Stelle aus.
Demokratisierung wiederum hat auch viel mit Verantwortung füreinander und das Kollektiv zu tun, meine ich, auch mit Respekt für den anderen - aber das ist ein anderes weites Feld und ich muß weiter packen.
Frau Kitty, Sie haben natürlich recht, das hat mit Erziehung, Prägung und Sozialisierung zu tun, das Verhalten ist Notwendigkeit angesichts der Lebensumstände. So gesehen, Herr damals, erübrigt sich möglicherweise die Umerziehung, wenn die Lebensumstände sich ändern. Ich bin allerdings der festen Überzeugung, daß das Leben in einer rücksichtsvollen, weniger egoistischen Gesellschaft angenehmer ist - und auch wirtschaftlich zu mehr Erfolg führt. Im Sinne von weniger Korruption und mehr Kooperation. Das mangelnde Vertrauen und die ständige Kontrolle aller Beteiligten wirken sich nämlich auch an anderer Stelle aus.
Demokratisierung wiederum hat auch viel mit Verantwortung füreinander und das Kollektiv zu tun, meine ich, auch mit Respekt für den anderen - aber das ist ein anderes weites Feld und ich muß weiter packen.