Sonntag, 28. März 2010
Abschiedsszenen
Der Zug steht schon im Gleis und ich suche mir rechtzeitig ein hübsches Plätzchen mit Tisch am Fenster, könnte ja sein, daß ich in einem ungewöhnlichen Anfall von Motivation lernen möchte. Ich hänge so meinen Gedanken nach und beobachte die anderen Fahrgäste draußen. Ein Pärchen in mittleren Jahren, er knetet ihren Hintern und seine Finger spielen mit den Falten ihrer Hose, er stellt Gepäck rein, geht wieder raus, geht wieder rein und doch wieder raus, um eine letzte Umarmung mit der Liebsten zu tauschen. Ein junges Ehepaar mit Säugling sucht unter großem Hin und Her einen passenden Platz – gottseidank weit weg von mir – am auffälligsten jedoch ist eine Vierergruppe. Ein Ehepaar um die fünfzig, er gepflegt, sportlich elegant gekleidet, Baskenmütze, sie eine Spur alternativ mit kurzem Fransenhaarschnitt, Mütze, Sportschuhen. Außerdem zwei junge Mädchen, um die achtzehn. Die eine mit einem geflochtenen, blonden Zopf, Jeans, flache Schuhe, Mantel. Die andere Asiatin, rundes, blasses Gesicht, die pechschwarzen Haare am Hinterkopf zusammengeknäult, im karierten Faltenrock, dicken Strümpfen, Stiefeln, sehr modisch. Suchend laufen sie den Zug auf und ab, beraten sich offenbar über die Platzwahl, die junge blonde Frau steigt ein, passiert meinen Platz, dann kommen die Mutter und die Asiatin auch herein, alle laufen etwas aufgelöst im Zug hin und her. Irgendwann treffen sie sich draußen wieder auf dem Bahnsteig, Worte werden gewechselt, die Mädchen umarmen sich, dann breitet die Mutter die Arme aus und alle vier bilden einen Kreis. Die Eltern einander gegenüber, die beiden Mädchen dazwischen eingerahmt, die Arme um die Schultern der anderen gelegt, stehen sie minutenlang mit den Gesichtern eng aneinander. Als die Gruppe sich löst, umarmt das blonde Mädchen die Mutter (sicherlich ihre Mutter, den Küssen nach zu schließen, das Verhältnis der beiden Mädchen hingegen gibt mir Rätsel auf – Ziehschwestern? Freundinnen? Gastschwester?), dann die Asiatin. Die weint inzwischen bittere Tränen, das Gesichtchen gerötet, der Vater steht etwas hilflos neben diesem Gefühlsausbruch und weiß nicht recht, was zu tun ist. Die beiden Mädchen liegen sich in den Armen, sehr herzlich und sehr verzweifelt halten sie sich am jeweils anderen und dessen Kleidung fest. Dann verabschiedet sich die blond Bezopfte erneut von ihrer Mutter, der Freundin, dem Vater, steigt in den Zug und setzt sich doch noch einmal um. Der Zug jedoch steht noch immer und so wartet sie in der Tür, halb drinnen, halb draußen und der Abschied zieht sich weiter hin, bis der Zug endlich anruckt. Die Familie samt immer noch schluchzender Asiatin läuft tatsächlich noch einige Sekunden mit dem Zug mit, winkenderweise und ich bin gerührt. Soviel Abschied für eine – dem Gepäck und der Reichweite des Zugs nach zu schließen – eher kurze Reise ist ungewöhnlich, aber herzerwärmend.

Abschiede rühren mich immer, mehr als meiner eigentlich fern vom Wasser gebauten Natur entspricht. Meine erste Abschiedsszene mit sechzehn Jahren war, nun ja, anders. Ein Jahr USA war weiter weg, als jemals jemand in meiner Familie gereist war und länger, als jemals jemand von den anderen getrennt war – ich allerdings von diesen Superlativen wenig beeindruckt. Am Abreisetag standen wir mit unzähligen anderen Austauschschülern, stoischen Vätern und weinenden Müttern in einem Flughafenterminal, die Betreuer suchten für Ordnung zu sorgen, meine Mutter tauschte sich mit der Mutter der mitreisenden Freundin aus (wobei meine den Beileidswettbewerb gewann, ging ich doch für ein Jahr, die Freundin hingegen nur für fünf Monate). In all dem Aufruhr war ich allerdings so von den vor mir liegenden Abenteuern erfüllt, daß ich mich nach durchaus gefaßtem Abschied von den Lieben auf dem Weg durch die Paßkontrolle tatsächlich nicht mehr umdrehte – noch heute beklagt meine Mutter die Hartherzigkeit ihrer Tochter. Inzwischen haben sich die lieben Eltern angepasst, und gleich, ob die Töchter in die USA, nach Argentinien oder Afrika reisen – der Bahnhof des jeweils passenden Flughafenzubringers markiert meistens die Grenzen der elterlichen Abschiedseinsätze.

Wenn ich also nächste Woche mit dem Koffer voller Sommerkleider und Arbeitsunterlagen den Zug nach Frankfurt nehme, von wo aus ich mit Ethiopian über Addis Abbeba nach Kinshasa fliege, gibt meine Mutter mir an der Haustür einen Abschiedskuß und die eindringliche Bitte, sofort nach Landung anzurufen, mit auf den Weg, mein Vater trägt mir bestenfalls – wenn er einen guten Tag hat – die Koffer bis aufs Gleis und den Rest mache ich alleine. Hätten meine Eltern mich im vergangenen Jahr immer zum Flughafen bringen wollen, sie hätten ein Feldbett in FRA aufstellen können - insofern ist das in Ordnung. Zumal ich bei Abschieden bis heute selten rührselige Szenen inszeniere.

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