Umzüge
Gefühlte siebzig Prozent der Mietverträge in dieser Stadt laufen vom 1. September bis zum 31. August des darauffolgenden Jahres. Entsprechend habe ich noch nie soviele Umzugswagen, Leute mit Möbeln auf dem Pick-up Truck und matratzenschleppende Studenten gesehen wie in den vergangenen paar Tagen. Es ist fast wie Reise nach Jerusalem: kurzzeitig und auf einmal scheinen sich alle Leute mit ihrem Hausstand auf der Strasse zu befinden - am Sonntag ist der Spuk wieder vorbei. Glücklicherweise habe ich meinen Umzug zu dem Zeitpunkt bereits erledigt.

Dessen Organisation führte mich erneut zu Craigslist: Umzugshelfer. suchen Die Anzeigen und Emails hinterlassen mich deprimiert. „Peter, 25, strong young man with years of moving experience“, bietet seine Dienste und seinen Truck an. Ein anderer hat sein Foto miteingestellt. No job too tough. Ein anderer: no job too small. Dieses Mal muß ich nicht betteln, meine Trefferquote ist enorm: drei Emails, zwei Telefonate, fünf Angebote. Alle haben an meinem Wunschtermin Zeit, ich entscheide mich am Ende für Dan. Wir vereinbaren 100 USD „flatrate“ für maximal zwei Stunden Arbeit inklusive Truck – das scheint für beide Seiten fair zu sein.

Dan kommt ein paar Minuten zu spät, aber da er unsere Verabredung nachmittags noch bestätigt hat, mache ich mir keine Sorgen. Er ist ein junger Mann – vermutlich jünger als ich, sieht allerdings älter aus, vom Leben gebeutelt. Schmal im Gesicht, mit schmutzigen, abgearbeiteten Händen und traurigen Augen. Wir tragen meine paar Gegenstände raus, er organsiert alles auf der Ladefläche seines alten kleinen Trucks. Er bittet, daß ich ihm das Geld vor der Abfahrt zur neuen Wohnung gebe und entschuldigt sich noch dafür – es ginge nicht anders, die Zeiten seien schlecht. Damit habe ich kein Problem, dann rutschen wir auf der Bank zusammen (die helfende Freundin und ich) und fahren los. Nebenbei erfahren wir, daß Dan alleinerziehender Vater eine zweijährigen Tochter ist. Im letzten Jahr waren sie für kurze Zeit im Obdachlosenheim, nachdem Dan seinen Job verloren hatte, jetzt versucht er, mit Kleinumzügen Geld zu verdienen, aber es läuft nicht sehr gut. Tagsüber hütet er die Kinder der Nachbarinnen mit – dafür kann er abends arbeiten gehen. Demnächst wird seine Tochter in die Kindertagesstätte gehen, die allerdings kostet 450 USD pro Woche – unbezahlbar für ihn, wobei er in einem längeren Papierkrieg Gutscheine für bedürftige Familien beantragt hat, so daß das Mädchen demnächst trotzdem hingehen kann. Wer soviel verdient, über 2.000 USD im Monat für die Kinderbetreuung ausgeben zu können, entzieht sich allerdings völlig seiner Vorstellungskraft.

Wir brauchen eineinhalb Stunden für die ganze Angelegenheit, wobei der Bettkasten nicht durchs Treppenhaus passt, sodaß wir ihn über die hintere Veranda nach oben ziehen. Am Ende entscheide ich, daß zehn Dollar für Dan mehr bedeuten als für mich (obwohl ich mein Budget längst überschritten habe), gebe noch ein Trinkgeld und fühle mich trotzdem wie ein fieser Ausbeuter.

Die nächsten Tage kann ich dafür ziemlich entspannt damit verbringen, nach den paar Teilen zu suchen, die mir noch fehlen. Gardinen brauche ich auf jeden Fall, und eine kleine Lampe für den Schreibtisch. Ein Fön wäre nicht schlecht, ein Spiegel, und ein Mülleimer, vielleicht noch ein hübsches Bild für die Wand? Ich klappere am frühen Nachmittag einige Umzugsverkäufe ab, die – wieder einmal – auf Craigslist inseriert waren, aber da ist um die Uhrzeit nur noch Schrott. Am Sonntag Morgen stehe ich buchstäblich früher auf, und werde immerhin mit einer Kaffeemaschine für den Herd belohnt. Nachmittags mache ich einen kleinen Spaziergang durchs Viertel und passiere etliche Entsorgungsaktionen. Vor den Häusern, an den Ecken, neben den Mülleimern: überall aussortierte Gegenstände. Säcke mit Bettzeug und Kleidung, auseinanderfallende Möbelstücke, ein paar verranzte Matratzen, Kisten mit Büchern, dazwischen gelegentliches Küchengerät. Am Ende drücke ich mich ein paar Minuten neben einer der Bücherkisten herum und eigne mir noch einen Stadtführer für Zugezogene an. Ich weiß nicht, ob die Second-Hand-Kultur in den USA vor der Krise auch schon so ausgeprägt war, oder ob die Not Menschen erfinderisch macht - es scheint aber gut zu funktionieren.

Danach setze ich mich, zum ersten Mal seit zwei Wochen, wieder an einen Schreibtisch und befasse mich mit den Sachen, für die ich eigentlich hier bin.

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