Mittwoch, 14. Juli 2010
Landei
Eigentlich bin ich ja ein Landei. Aus einer Familie von Landeiern. Schon meine Mutter feierte die Parties ihrer Jugend im Reitstall, ohne damals selbst reiten zu dürfen – bei mir war es dann umgekehrt: ich bin geritten, ohne auf die Reitstallparties zu gehen.

Mangels alternativer Prrogrammoptionen waren wir am Wochenende ein Stündchen beim Turnier. Die Sonne brannte auf den Sand, die Luft roch nach Sommer, Staub und Pferden, überall Hunde und viele Mädchen in weißen Reithosen. Zwei Quotenjungs waren auch da, ansonsten ausschließlich die typischen Pferdemädchen, voller Ehrgeiz, voller Selbstbewußtsein, voller Hoffnung auf eine große Zukunft als Bereiterin.

Ich war seit Jahrzehnten nicht mehr bei so einer Veranstaltung, aber kaum etwas hat sich geändert. Am Kaffeestand verkaufen die Muttis selbstgebackene Kuchen, einen Pommes-Mann gibt es auch, jeder kennt jeden und die Hälfte der Leute ist irgendwie miteinander verwandt.



In der Pause bekamen meine Mutter und ich von ihrer alten Freundin Pfirsichbowle mit Glitzercocktailstäbchen drin, während die Männer den Parcours fürs Springen umbauten. Jeder packte mit an, ein Tankwagen sprenkelte den Sand, ein Touareg zog die Sprünge herbei (endlich mal ein Geländewagen im Gelände), ein Bengel fegte mit dem Traktor über den Platz und glättete den Boden.

Ich so: Der sieht aber jung aus.
Mutterns Freundin so: Nee, der sieht nur so aus, der ist schon 13.

Während ich meinen Gedanken nachhing, tauschten die Damen Dorfklatsch aus:
Das Mädel mit den langen blonden Haaren, da vorne, ist die Tochter von L.
Ach? Hörst Du, Damenwahl, das ist die Tochter von L.
Und der Bengel in rot, ist U.s Sohn, gerade die Bereiterlehre fertig, jetzt will er Lehramt studieren.
Schicker Junge, da isser sicher stolz... aber der M., ist der nicht zum schiedsen da? Ich dachte, seine Tochter würde die Springen mitreiten?
Neeee, Springen war schon, heut sind die nicht da... aber der F., der kommt da hinten gerade, den kennt ihr doch auch, oder?

Hier wurde ich hellhörig, denn der F., so weiß die Gerüchteküche schon länger, ist der Partner meiner Sandkastenfreundin K. Die K. wohnte im Haus nebenan und ohne sie wäre ich nie ans reiten gekommen – sie war nämlich die erste. In allem. Als Einzelkind hatte sie schon die Figuren von "Mein kleines Pony", als ich noch hungrigen Auges die Kataloge der Spielwarenhandlung meinen Eltern nahezubringen versuchte. Sie hatte ein Pflegepferd, während ich noch auf Reitstallponies saß, ein eigenes Pferd, als ich noch Pflegepferde ritt, und bald auch ein Fohlen zum eigenen Beritt, das ich nie bekam. Während ich zum Studium gar nicht weit genug weg sein konnte, schrieb die K. sich an der nächstgelegenen Uni ein und bekam ein eigenes Auto – um pendeln zu können. Während ich wiederholt für noch unbekannte Berufsziele mein Englisch perfektionierte, studierte die K. Englisch auf Lehramt, ohne jemals mehr als drei Wochen in einem englischsprachigen Land verbracht zu haben. Während ich um einen Job im Ausland kämpfte, bemühte sich die K., als Lehrerin an unsere alte Schule kommen. Und während ich zwar seit Jahren auf keinem Pferd mehr gesessen habe und gerade zum 10. Mal umgezogen bin, reitet die K. regelmäßig auf Lokalturnieren und wohnt noch immer bei ihren Eltern.

Ich schaute versonnen auf den Reitplatz und konnte kaum fassen, wie weit unsere alltäglichen Lebensgewohnheiten auseinandergegangen sind. Vor zwanzig Jahren waren wir einander so ähnlich: etwas mopsige Akademikerkinder, zugezogen aus dem Umland, gut in der Schule, pferdebegeistert. Heute könnten wir unterschiedlicher nicht sein. Während ich dem Treiben um mich herum zusah, beneidete ich sie sachte um die Aufgehobenheit, die sie in diesem Umfeld hat. Immer noch die alten Freunde, der tägliche Weg zum Stall, auf dreißig Jahre dieselben Kollegen in der Schule. Den F. - ihren Freund – kennen wir beide noch aus unseren frühesten Pferdemädchenzeiten, damals wie heute eine Konstante, geradezu der gute Geist des Reitstalls mit all seinen Intrigen. Ein lieber, zuverlässiger Kerl, nicht der schönste, aber verläßlich, verantwortungsbewußt. Die K. hat ganz sicher unzählige Freunde, all die Leute aus Schul- und Unizeiten sind kaum weiter als einen Anruf, vielleicht 20km entfernt, und bei allen Zickereien, Neidereien und Streitigkeiten: man hält zusammen. Irgendwie.

Wenn sie am Wochenende aufs Turnier fährt, ist das vertraute Routine. Pferde einladen, Zeug einpacken, Hänger ziehen, wenn sie ankommt, kennt sie fast jeden, die Konkurrenten, die Richter, die Kuchendamen, vermutlich auch den Typ, der seinen Computer aufbaut und Digifotos anbietet (scheinbar die einzige Neuerung: das gab es zu meiner Zeit nicht). Sie kann heute schon wissen, wo sie in vier Wochen mitreiten wird, für welche Prüfungen sie sich nennen wird, und wahrscheinlich sogar vorhersagen, welche Kuchensorte Frau S. mitbringt. Abends sitzen dann alle zusammen, in irgendeiner Kneipe, hecheln die Fehler des Tages durch, die vermasselten Figuren, die vergebenen Punkte, die Richterbewertungen - aber auf diese Dinge kann man zählen, auf die schönen Regelmäßigkeiten des Alltags.

Beinahe, aber nur beinahe, könnte ich neidisch sein auf soviel Berechnbarkeit und soviele Konstanten. Aber dann denke ich an afrikanische Hitze, an schwarze Menschen in bunten Kleidern, meine geschätzten Kollegen in aller ihrer Vielfalt, die Herausforderungen meiner täglichen Arbeit, die unzähligen Länder, die ich noch sehen will und werde – und möchte lieber doch nicht tauschen.

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