Sonntag, 16. Januar 2011
Märchen aus einer anderen Welt
Wer nicht weit reist, hat natürlich auch nichts zu erzählen, aber dieses Wochenende war ich endlich wieder in fremden Ländern. Sozusagen. Österreich ist natürlich nur ein bißchen fremd (wenn auch fremder, als viele meinen), aber die Wiener Ballkultur ist eine Welt für sich, so daß dieses Wochenende durchaus als exotischer Ausflug qualifiziert.

Die Geschichte beginnt aber eigentlich schon vor etlichen Jahren, als eine enge Freundin ziemlich überstürzt nach Wien zum Studium wechselte. Das Glück ist bekanntlich oft mit den Planlosen und so traf es sich, daß sie auf der Suche nach Kontakten und Ablenkung in der fremden, neuen Stadt nicht in irgendeine Tanzschule ging, sondern bei der Tanzschulinstitution Elmayer landete. Ihre Frage nach geeigneten Kursen für alleinstehende Damen mit passablen Vorkenntnissen wurde positiv beschieden und wenig später war sie Debütantin des Balls der Offiziere. Nachdem das erste weiße Kleid angeschafft war und auch Linkswalzer und stundenlanges Verharren im Hofknicks keine Herausforderung mehr waren, kam eins zum anderen und insgesamt debütierte sie auf etlichen Bällen.
Als ich einige Jahre später beim Elmayer vorstellig wurde, hatte ich für weiße Kleidchen nicht mehr die notwendige jugendliche Blüte, aber ein Tanzkurs gegen Geld schien mir auch nicht schlecht – nur traf ich es dabei nicht so gut wie jene Freundin. Die Teilnehmer ähnelten beklagenswert einer Restetheke dem Club der einsamen Herzen, abgesehen von einigen Pärchen die offensichtlich so innige Beziehungen führten, daß sie das Kommando zum Damentausch im Kurs regelmäßig ignorierten. So blieben die wenigen Single-Damen angewiesen auf die in noch klägerlicherer Zahl anwesenden Single-Herren und das war keine Freude. In besonders grausiger Erinnerung ist mir der Mittfünfziger im Hawaiihemd, dessen spärliche Haarpracht trotzdem davon zeugte, daß er eher selten die Dusche frequentierte. Noch schwieriger war der Fall des jungen Burschen, der nach der ersten Runde regelmäßig Schweißflecken von den Ausmaßen einer Tellermine unter den Achseln hatte (des Jacketts, wohlgemerkt). Leider konnte er sensationell gut tanzen – als einziger, übrigens – so daß die Entscheidung regelmäßig schwer fiel. Immerhin trug er, da aus den Jugendkursen kommend, wo solches verpflichtend ist – stets weiße Handschuhe, so daß zumindest dieser Punkt der Körperhygiene irrelevant war.
Jeden Mittwochmorgen packte ich meine Pumps in die Tasche und zog bedachtsam ein Röckchen ins Büro an, denn Damen in Hosen sind in den heiligen Hallen des Elmayer unerwünscht und tanzte jeden Mittwochabend Walzer, Polka und Foxtrott. Als gegen Ende des Anfängerkurses immer noch keine passenden Junggesellen in Sicht waren, verzichtete ich auf die zweite Runde, kann aber immerhin seither einen passablen Walzer tanzen.

Ich bin ja ein ziemliches Mädchen in mancher Hinsicht, kann sämtliche Sissi-Filme auswendig mitsprechen, tanze leidenschaftlich gerne (wenn auch zu meinem unendlichen Kummer nicht sehr gut) und habe als Teenager jeden Artikel in einschlägigen Klatschzeitschriften über Debütantinnen in Wien verschlungen. Es ist also nicht überraschend, daß ich schon zur Debütantinnenzeit meiner Freundin gerne mitgegangen wäre, es ging sich nur leider nie aus. Auch während der Monate in Wien passte es nicht, denn pünktlich zum Auftakt der Ballsaison mußte ich die Koffer packen und war am neuen Dienstort unabkömmlich.

Jetzt allerdings, endlich, war ich einmal dabei. Nicht im weißen Kleid, versteht sich, die zarte 26 als absolute Obergrenze für jeden anständigen Ball habe ich schon länger hinter mir gelassen, aber ich war da. An meiner Seite bei diesem bedeutungsvollen Anlaß die beste aller Beraterinnen: die ex-Debütantin und langjährige Balldame, die geduldig mit mir zwei Tage nach Schuhen und Kleidern stöberte. Natürlich hatte ich beides dabei, aber in naher Zukunft zeichnet sich Bedarf für ein etwas aufwendigeres Kleid ab und Schuhe hat frau ohnehin nie zuviel. Geduldig schleppte die Freundin ein Modell nach dem anderen an, zog Reißverschlüsse hoch, zupfte Falten zurecht, kritisierte Paßform und Farbe, kleine Makel am Kleid, drapierte Stolas, steckte abgerissene Haken mit Nadeln zusammen und beriet mich mit engelgleicher Geduld. Sollte diese Aktion in meinem Leben the next best thing zum Kauf eines Brautkleides sein, war es ein durchaus adäquater Ersatz. Schon die Abendmodeabteilung im P&C von den Ausmaßen eines durchschnittlichen H&M hätte mich heillos überfordert – umso mehr die Auswahl bei Joppich auf der Mariahilfer Straße. Geschätzte fünf Meter Kleider, ordentlich nach Farbe aufgereiht, allein in meiner ÜberGröße.

Die Mode der Saison läßt sich in zwei Modellen zusammenfassen. Erstens ist der Empire-Stil sehr angesagt: gerafftes Bustier, abgenäht (mit Glitzer) direkt unterm Busen, danach fließende Falten bis Boden, gerne mit mehr Glitzer. Allerdings sind den Glitzermöglichkeiten hier natürlich Grenzen gesetzt, mit tonnenweise Glitzer fließt der zarte Chiffon nicht mehr. Umso toben sich die Designer offenbar beim Modell „Sahnebaiser“ aus, 100% Polyester verträgt das sehr viel besser. Der Rock hat soviele Lagen Tüll und Unterrock, daß ich den Eingang gar nicht gefunden hätte (dazu gleich mehr). Das Modell Sahnebaiser hat natürlich auch ein schulterfreies Oberteil, und an der Taille geht ein Schlitz auf, der mit einem andersfarbigen Stoff unterlegt ist. Hier nun läßt sich ganz viel Glitzer anbringen, Glitzer am Bustier, Glitzer an der Taille, Glitzer entlang des Schlitzes, eventuell kann man hinten unter der (ebenfalls sehr angesagten) Schnürung noch eine Schleife anbringen.

Wer weiße Kleider probieren will, kommt ungeschminkt – andernfalls lassen einen die matronenhaften Verkäuferinnen gar nicht erst in die Nähe der Debütantinnennabteilung. Ansonsten sind sie jedoch sehr hilfsbereit. Mit untrüglichem Riecher erkannten sie einen Anfänger wie mich und tauchten zum genau richtigen Zeitpunkt (als ich fast völlig entkleidet war) in der Kabine auf, um mir ins Kleid hinein zu helfen, die Reißverschlüsse zuzuziehen, das Bustier enger zu halten und den Sitz zu prüfen. Stets sind solche Kleider zu lang und auch sonst ist perfekte Passform eher die Ausnahme: man rechnet einfach 44 Euro fürs Kürzen und 50 fürs zusammennehmen drauf, das gehört dazu. Diese Herrscherinnen kennen jedes Detail ihrer ganzen, opulenten Auswahl und beantworten Fragen nach alternativen Farben oder anderen Größen schneller als Lucky Luke sein Schießeisen ziehen kann. Dafür schnauzen sie einen aber auch im Wild-West-Ton an, wenn man es wagt, mit dem Kleid den sauberen Teppich zu verlassen.

Nach einer Weile verstand die Matrone sogar, daß ich mit „kein Glitzer“ wirklich „kein Glitzer„ meinte, und ein grünes Kleid mit schwarzer Spitze wie auch eines in leuchtendem Pink mit weißem Bustier ließen mich beinahe meine Aversion gegen Tüllmonster in Türbreite vergessen. Aber nur fast, am Ende wurde es doch ein etwas dezenteres Modell aus fließendem Satin, allerdings auch mit Glitzer. Aber wenig. Und einem phänomenalen Rückenausschnitt.

Nicht weniger kompliziert gestaltete sich die Schuhsuche. Nachdem wir sämtliche Filialen der zwei Wiener Standardmarken durchkämmt hatten und immer nur dieselben unmöglich langweiligen Modelle gesichtet hatten, während ich mich hartnäckig fußschädigenden Stilettos verweigerte, schlug die weiseste aller Freundinnen einen Tanzschuhladen vor. Obwohl mir das angesichts meiner mäßigen Künste auf dem Parkett absurd vorkam, stimmte ich aus lauter Verzweiflung zu. Unbestreitbar ist die Mehrzahl der Tanzschuhe eher funktional als ambitioniert im Design, aber dafür auch sagenhaft bequem. Die Wildledersohle – so kann ich inzwischen aus Erfahrung berichten – eignet sich perfekt zum Drehen, und der Komfort ist mit nichts vergleichbar, was ich jemals an meinen krüppeligen, empfindlichen Füßen hatte, vielleicht mit Ausnahme von Hauspuschen.

In der Metropole aller Bälle und Standardtänzer bieten solche Läden aber erfreulicherweise sogar eine Handvoll modischer Modelle an, und mein Glück wäre perfekt gewesen – ohne den Preis, der es eine Tollheit scheinen ließ, so einen Schuh für Spezialanlässe zu kaufen, egal wie schick und modisch. Also machten wir uns auf den Weg ins zweite namhafte Geschäft dieser Art. Vor der Tür fing uns eine andere Kundin ab, die gerade ebenfalls etliche Paare probiert hatte, allerdings mit deutlich größerer Entschlußkraft als ich gleich zwei Paare kaufte. Trotzdem wollte sie auch das andere Geschäft noch besuchen, hatte sogar eine Liste sämtlicher Tanzschuhläden in Wien zusammengestellt, war mit dem Auto unterwegs und bot an, uns mitzunehmen. So erfuhren wir, daß sie schon seit 30 Jahren in Wien sei und gerade die letzten Einkäufe für den ZuckerBäcker-Ball erstand. Der zweite Laden war trist und die Auswahl von zeugte von soviel Interesse an Mode wie ich Quantenphysik habe, der Auswahl nach zu schließen. Also zurück zu Geschäft Nummer 1, wo ich in einem Anfall von Wahnsinn Tanzschuhe kaufte. Was mich nicht davon abhielt, den todschicken schwarzen Lackpumps mit pinkfarbener Sohle des Vormittags, der mangels Bequemlichkeit ausgeschieden war, doch noch am Samstag zu kaufen. Ging nicht anders, stand quasi mein Name drauf.

Am Samstag war es dann endlich so weit. Bestens von der Freundin informiert und in jeder Hinsicht gebrieft, konnte ich die anderen Damen meiner Gesellschaft umgehend hinterm Eingang zum Stamm der Damenspende lotsen, wo wir eine Flasche Haarspray und einen Polyester-Schal geschenkt bekamen – andernfalls hätte keine von uns gewußt, worum es sich dabei handelt. An der Garderobe nahm man mir und meinem Begleiter unsere Schuhsäckchen für 2,20 Euro pro Teil ab, natürlich stehen Stühle zum Schuhwechsel bereit, ist er doch eher die Regel als die Ausnahme. Nachdem wir unsere Tische im Marmorsaal der Hofburg besichtigt hatten, konnten wir uns gerade noch Plätze mit beschränkter Sicht (immerhin!) im großen Festsaal erdrängeln, wo wir eine Stunde lang Rücken und Füße im Stehen strapazierten. Schließlich wolten wir die festliche Eröffnung nicht verpassen. Während der Wartezeit inspizierte ich die Damen um mich herum, vor allem eine Betonfrisur in Engelslocken faszinierte mich so, daß ich verstohlen tatschen mußte um sicherzugehen: hier war eine komplette Flasche Haarspray verbraucht worden. Sehr dreist war auch die freie Fotografin, die sich sehr spät noch zur ersten Reihe durchdrängeln wollte kraft ihres Amtes - was mein Begleiter allerdings zu verhindern wußte.

Dann ging es endlich los: Einzug der Debütantinnen, alle in weiß, die Jungherren im Frack, allen voran der Zeremonienmeister, der mit einem Wedeln seiner weißen Handschuhe die Oberherrschaft führte. Radetzky-Marsch, Einzug der Ehrengäste. Radetzky-Marsch, Einzug des Ballkomitees. Noch mehr Radetzky-Marsch, noch mehr wichtige Personen. Auch ein lebendiges Orchester kann klingen wie ein CD-Player in einer Schleife hängend. Einige salbungsvolle Reden, dankenswerter Weise nur kurz, dann eine Choreographie und ein kitschiges Lied, zu dem die Jungdamen elegant mit farbigen Tüchlein wedeln durften. Manche sahen dabei so gelangweilt aus, daß ich auf Terrormuttis im Hintergrund tippe, andere hingegen richteten einen verklärten Blick an die Kristallüster unter der Decke, als sei dies der Höhepunkt und die Erfüllung ihres jungen Lebens. Mein Begleiter hingegen kommentierte nur trocken, daß seine hanseatische Natur sich wundern müsse, wie sich intelligente junge Menschen hüpfend und tuchwedelnd für so einen Affentanz hergeben könnten.

Danach hieß es endlich „Alles Walzer“ und der Begleiter und ich stürzten uns ins Gewühl. Weite Strecken fühlte es sich eher wie Autoscooter an, wo alle permanent die Kollision suchen, aber irgendwie ging es doch. Zwischendurch saßen wir auf der Treppe am Rand, von wo aus ich mit hungrigen Augen die Paare mit offensichtlichem Turniertanzhintergrund anhimmelte und gerührt die älteren Herrschaften bewunderte, die mit der offensichtlich Vertrautheit von 40 Ehejahren (oder mehr) immer noch über die Tanzfläche schoben.

Den Rest des Abends tanzten wir, tranken überteuerten Wein und noch mehr überteuertes Wasser an unseren Tischen, bewunderten Maßkleider und lästerten über stoffgewordene Scheußlichkeiten, tanzten noch mehr, und dann noch etwas mehr. Kauften Tombola-Lose ohne zu gewinnen, holten unseren Gratis-Sekt in irgendeiner Unternehmens-Lounge ab, probierten auch Rock 'n Roll und Tango in verschiedenen Sälen, aßen gen Mitternacht Sacher-Würstchen mit Kren. Sacher-Würsten sind eigentlich Würstchen im Brötchen, aber sowas kommt nicht in die heiligen Hallen der Hofburg, deswegen müssen sie Sacher-Würstchen heißen und werden mit Meerettich geadelt, der uns reihum bittere Gesichter ziehen ließ, wenn wir ein heftiges Stück erwischten.

Zur Mitternachts-Quadrille, die mit allen willigen Gästen ganz langsam und nachvollziehbar eingeübt wird, konnten wir uns wegen schmerzender Glieder nicht mehr aufraffen, aber ein paar Walzer später gingen doch noch – auf wundersame Weise ließ der Schmerz sofort nach, sobald ich mit der Koordination meiner Füße beschäftigt war, während der Begleiter durch das Getümmel navigierte. Jede Lücke ausnutzend und möglichst immer auf der schnellen Außenbahn (langsamere Paare halten sich möglichst innen – in einer ideal Welt jedenfalls täten sie das).

Es ist übrigens ganz famos, was so ein Smoking mit jungen Herren anstellt. Ganz plötzlich wird ihnen bewußt (notfalls vom Tanzlehrer bewußt gemacht), daß sie ihrer Tanzpartnerin die Tür aufhalten dürfen und besser links als rechts von ihr gehen. Sogar aufstehen, wenn die Damen den Tisch verlassen. In Sälen, in welchen schon Kaiserin Elisabeth tanzte, wirkt das auch gar nicht mehr gestellt – wir haben drüber gelacht und die schöne Höflichkeit hielt sogar noch heute Mittag am Flughafen an, als der andere Begleiter mir den Koffer hob und in den Mantel half.



Ich habe rasend viel getanzt und besser, als ich es mir je erträumt hätte. Wenige Dinge machen mich so glücklich, wie zu einem Strauß-Walzer übers Parkett zu fliegen, bis mir schwindelt und jetzt bin ich endgültig angefixt – jenseits von Hoffnung auf wirkungsvollen Entzug. Am Ende gelang sogar der Linkswalzer ganz passabel und als nächste Herausforderung habe ich Fleckerln ins Auge gefaßt – nicht dies, sondern das hier. Jetzt muß ich nur noch einen willigen Partner in Crime für den nächsten Ball im März finden, möglichst nicht von der traurigen Restetheke. Kann ja nicht so schwer sein – immerhin geht es hier um einen Mädchentraum.

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