Samstag, 17. Oktober 2009
Congo special edition
Draußen regnet es in Strömen. Kein tropischer Starkregen, aber doch genug, um das Leben auf den Straßen jenseits der Geländewagen weitgehend zum Erliegen zu bringen. Die Menschen sammeln sich unter den wenigen Ständen mit Sonnenschirm und in Hauseingängen, im Cercle Elais bleiben die Sonnenliegen leer und auf der Baustelle gegenüber starren die Arbeiter müßig aus dem Rohbau nach draußen und versuchen nicht einmal mehr, beschäftigt auszusehen. Gerade noch rechtzeitig war ich eben schwimmen und danach schnell im Supermarkt. Auf dem Parkplatz sammelte mich einer der Wächter mit einem riesigen Sonnenschirm ein und geleitete mich bis zum Vordach, während ich über schlierige Pfützen hinwegstieg. Das Wetter paßt zu meiner erschöpften Stimmung und den Kollegen dürfte es nach einer endlosen, hektischen Woche ähnlich gehen. Davon abgesehen wäre am gestrigen weniger Alkohol gut gewesen, mehr Schlaf auch.
Der Höhepunkt der Woche war eine Veranstaltung mit etlichen bedeutenden Ehrengästen und vielen Präsentationen von der Art, bei der sich die 5% der Redner so rasend gerne selbst reden hören, daß sie keinerlei Rücksicht darauf nehmen, daß die übrigen 95 % der zuhörenden Teilnehmer tödlich gelangweilt sind.
Wie immer ging es morgens schon verspätet los. Ich wollte eigentlich vormittags zur Eröffnung gar nicht hingehen, änderte allerdings meine Planung, als der schöne Franzose um halb zehn seinen Aufbruch verkündete. Wir kamen um zehn Uhr an, europäisch pünktlich zum ersten Vortrag nach den für neun Uhr angesetzten Reden der Begrüßungs-Redner – die Veranstaltung hatte jedoch noch nicht einmal begonnen. Die Kollegen verteilten noch Namensschilder und Begrüßungsmappen, während die Teilnehmer in konzentrischen Kreisen um die Kaffeebar herum standen – alles wartete auf die Ehrengäste. Während es normalerweise für eine Veranstaltung sehr schmückend ist, ranghohe Gäste anwesend zu haben, führt dies hier zu unendlichen Problemen. Die Kongolesen sind versessen auf protokollarische und hierarchische Abläufe und lädt man zu viele Ehrengäste ein, verkompliziert sich der Veranstaltungsablauf ungemein aufgrund all ihrer Allüren und Eitelkeiten. Von den fünf oder sechs gleichrangigen Ehrengästen wollte natürlich niemand der erste sein und auf die anderen warten, während unser Chef seine Begleitung für den noch etwas wichtigeren Oberehrengast reservierte – daher also um eine Stunde nach planmäßigem Beginn immer noch aufgelöste Unordnung. Die für solche Veranstaltungen unerläßlichen Fotografen hantierten mit Video- und Fotokameras, lichteten wahllos Teilnehmer ab, während die Techniker mit der Ausrüstung vorne kämpften. Irgendwann defilierten alle bedeutenden Personen gemeinsam herein, zum Schluß der Oberehrengast eskortiert von unserem Chef, wir standen alle auf (das gehört sich hier so, wenn Minister anwesend sind) und dann folgten die unendlich langweiligen Eröffnungsreden. Der Redner war eine Katastrophe, quälte sich stockend von Wort zu Wort, schleuderte dann einige Satzteile hintereinander heraus wie ein stotterndes Maschinengewehr, die Betonungen waren irritierend unpassend – einfach nur schrecklich, ich hatte das Gefühl, er kämpfe gegen die Sprache statt sich ihrer zu bedienen. Falls Sie unsere Politiker im Bundestags auf Phoenix grauenvoll finden, kommen Sie hierher, da tun sich neue Dimensionen von Abgründen auf. Sämtliche Fotografen stürzten bei den ersten Worten nach vorne und gingen vorm Rednertisch auf die Knie, wo sie die gesamten fünfzehn Minuten der Rede verharrten. Aus meiner Perspektive von schräg hinten sahen die Hände auf Gesichtshöhe mit den Kameras aus, als würden sie beten – keine völlig unpassende Assoziation, bedenkt man die Umstände. Erstaunlich gelenkig sprangen sie beim Ende der Rede auf, um keinen Satz des nächsten Redners zu verpassen – ich hätte ja eher erwartet, daß sie nach vorne kippen oder ihnen die Knie wegknicken nach dieser Tortur. Während der schöne Franzose auf der anderen Seite ein Gähnen nur mit Mühe unterdrücken konnte, kam mir ein Termin um elf Uhr zur Hilfe und ich konnte mich guten Gewissens verabschieden. Ähnlich wie bei der deutschen Bahn werden einmal eingefahrene Verspätungen nur selten wieder aufgeholt und als wir uns um eins – zur planmäßigen Mittagspause – bei den Kollegen erkundigten, war die Fragerunde noch lange nicht beendet. Beim Mittagessen wurden fleißig Visitenkarten ausgetauscht, völlig unabhängig davon, ob man die Absicht hat, sich jemals im Leben wiederzutreffen, ich könnte aber jetzt theoretisch einen Angestellten des mittleren Managements der staatlichen Eisenbahn in Lubumbashi anrufen – auf der anderen Seite des Landes, 1.000 km entfernt von mir. Man weiß ja nie. Während der nachmittäglichen Graveyard-Shift hatte ich leider keine guten Ausreden mehr und mußte außerdem fünf endlose Stunden lang auf Französisch Protokolle schreiben. Vor mir faltete einer der Teilnehmer eine durchaus großformatige Zeitung aus und begann zu lesen, teilte diese später großzügig mit seinem Sitznachbarn, alle paar Minuten klingelte irgendein Handy. Neben dem typischen Nokia-Bimmel ist vor allem der Klingelton Destiny unglaublich beliebt – ich kann ihn inzwischen kaum noch ertragen. Es ist gesellschaftlich völlig akzeptiert, für Telefonate kurz vor die Tür zu gehen und viele führen Gespräche in der Konferenz. Dazu kauern sie sich nach vorne zusammen wie im Flugzeug bei der Notwasserung, halten das Handy ganz nahe an den Mund und die Hand davor, was in etwa so aussieht, wie ungezogene Leute, die Zahnstocher bei Tisch benutzen und ihre Mitmenschen mit unerfreulichen Anblicken belästigen. Unerfreulich finde ich auch die Telefonate, denn oft genug hört man in den Rednerpausen Gesprächsfetzen und überhaupt finde ich es unerträglich unhöflich. Aufgrund der Verspätung wurde die Kaffeepause – mein Highlight des Tages – ersatzlos gestrichen, trotzdem zog sich die Veranstaltung bis kurz vor sieben hin und schon um acht waren wir alle bei unserem Chef zur Party zum Empfang eingeladen.

Eine zehnköpfige Band, die stets großzügig bestückte Bar und das wie immer hervorragende Buffet machen diese Veranstaltungen zu einer erträglichen Pflichtübung, leider war ich viel zu müde von der Woche, um mich mit der erforderlichen Verve ins Networking zu stürzen. Nach dem Essen schoben mich meine Kollegen einem unserer Chefs geradezu in die Arme - He’s is XYZ Manager, very important, you should talk to him, der mich wiederum umgehend in den Kreis der Tanzenden zog, wo ich einige Minuten lang orientierungslos herumstolperte, bis er sich einem anderen Kollegen zuwandte und ich den Rückzug antreten konnte. Noch vor dem Essen hatte sich mein ältlicher Teamleiter mit einer für ihre Tanzfreude berüchtigten kongolesischen Kollegin im Paartanz versucht und war nach dem Essen erst recht nicht mehr zu bremsen, während ich mich von einer langweiligen Unterhaltung mit einem unglaublich steifen Madegassen mit Hilfe des Dessertbuffets abzulenken versuchte. Bei der Verteilung diverse Geschenke an ausscheidende Kollege flüsterte ich mit dem neu eingetroffenen verrückten J. in den hinteren Reihen und brachte in Erfahrung, daß die Fortsetzung des Abends in kleiner Gruppe mit meiner ehemaligen Betreuerin im Black and White geplant sei. Dort zu fortgeschrittener Stunde außerdem angetroffen: ein scheidender französischer Kollege Mitte dreißig, mein ehemaliger Oberchef Ende dreißig (den ich zum ersten Mal persönlich getroffen habe), ein belgischer Kollege nahe dem Alter meines Vaters, außerdem ein typischer Ami fortgeschrittenen Alters in Begleitung einer jungen, hübschen – und netten – Kongolesin. Der Ober brachte Caipirinha – in Toilettenpapier eingewickelt! – und viel Cola-Rum. Dabei erhält man ein gut zur Hälfte gefülltes Glas Rum auf Eis und eine Flasche Cola separat, die perfekte Vorlage für strategisches Betrunkenwerden. Das, nachdem ich auf der Party schon mit einer Kollegin gemeinsam die Flasche Martini an der Bar geleert hatte, um meinen Geist von den Blödsinnsreden des Tages freizuspülen. Der verrückte J. wurde allen Erwartungen an absurdes Verhalten gerecht, nachdem wir reihum die Tätowierung unter dem leichten Pullover auf seinem nackten, knochigen Oberkörper inspiziert hatten, stürzte er sich auf die Tanzfläche und knüpfte nahtlos an die Suche nach der Femme de sa vie seines letzten Aufenthalts an, während die Kollegen mir verschwörerisch anvertrauten, vor ihm müsse man sich in Acht nehmen. Nach Mitternacht wechselten wir die Lokalität und fuhren ins Standing, une boîte techno. Erfreulicherweise ist dieses Land auch in Sachen Musik etwas rückständig, was hier als Techno firmiert, wäre in Deutschland Hitparaden Musik, dazwischen auch immer wieder kongolesische Lieder – also entgegen meinen Befürchtungen durchaus erträglich. Während sich die männlichen Kollegen – inklusive dessen, der mein Vater sein könnte – auf die Tanzfläche und die aufreizend gekleideten kongolesischen Damen stürzten und fleißig mit den Hüften wackelten, fragte ich meine ex-Betreuerin, ob ein gewisses Maß an Wahnsinn eigentlich Einstellungsvoraussetzung bei meinem Arbeitgeber sei, woraufhin sie meinte: This is the Congo special edition.

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Donnerstag, 15. Oktober 2009
Babylon
Ich liebe es, in Fremdsprachen zu arbeiten. Am letzten Samstag Abend war ich mit den – vorwiegend ältlichen – Kollegen Abendessen, ein Franzose, ein Belgier, ein Brite und ich und das gesamte Gespräch hindurch wechselten wir von Französisch zu Englisch und wieder zurück, manchmal mitten im Satz. Je pense que c’est vraiment utile de,... il faut considérer, … we should consider to see … . Non, c’est pas comme ca, I have to correct you there…. So ungefähr. Ich liebe es, mehrere Sprachen auf dem Flur zu hören, ich liebe es, mit den Kollegen Französisch oder Englisch zu sprechen, ich liebe die Eigenheiten jeder Sprache. Vor allem die blumigen französischen Floskeln sind mir ein steter Quell der Freude. Hätte ich nicht immer große Sorge um meine vielen Fehler, das Mails schreiben in Französisch wäre ein reiner Spaß.

Madame l’Administrateur Directeur Générale,
merci beaucoup pour prendre le temps de nous recevoir… . Je serais très reconnaissante si vous pouvez… . Je vous prie de.... .Veuillez agréer, Madame l’Administrateur Directeur Générale, mes sentiments le plus distinguées.


Sicherheitshalber bitte ich bei wichtigen Korrespondenten einen muttersprachlichen Kollegen um Korrektur, damit ich mich nicht allzu sehr blamiere. Auf Gespräche bereite ich mich sorgfältig vor, schreibe mir meine Fragen auf, suche Vokabeln vorher raus und notfalls muß ich Dinge eben zwei Mal sagen. Oder zwei mal fragen, bis ich’s verstanden habe. Kongolesen wachsen in der Regel mit einem oder mehreren der afrikanischen Dialekte auf (Amtssprachen im Kongo: Lingala und Kikongo in der Gegend um Kinshasa, Swahili im Osten und Tshiluba in der Mitte, bei irgendwas zwischen 200 und 300 weiteren Dialekten), während Französisch die erste Fremdsprache ist und in der Schule gelernt wird – wenn auch früher als wir mit Englisch anfangen. Während die Eliten meistens ein sehr gutes und eloquentes Französisch sprechen, habe ich mit Wächtern, Taxifahrern und Verkäufern manchmal zu kämpfen, vor allem der Aussprache wegen. Mit Belgiern komme ich gut zurecht, aber Franzosen sind mir ein ständiges Ärgernis. Mit dem schönen Franzosen habe ich es eine Weile versucht, mittlerweile sprechen wir allerdings meistens Englisch. Als ich ihn irgendwann bat, doch mehr Französisch mit mir zu reden erklärte, er müsse ja auf Französisch alles zwei Mal sagen, weil ich es nicht verstehe. Das war das.
Wirklich schlimm ist jedoch der französische Kollege in meinem Team. Er spricht unangenehm leise, so daß ich schon akustisch sehr die Ohren spitzen muß. Außerdem – typisch französisch – sehr schnell und zieht die Wörter ineinander, so daß ich sie nicht mehr unterscheiden kann. Und obendrein – auch typisch französisch – weigert er sich, Englisch zu sprechen. Ihm scheint reichlich egal zu sein, daß ich allenfalls die Hälfte verstehe, und vor einigen Tagen hat er bei mir endgültig alle Sympathien verspielt. Ich hatte im Gespräch eine Vokabel – Fachterminus! – nicht richtig verstanden und der ältliche Kollege Team-Chef korrigierte meine Aussprache. Und der fiese Franzose lachte. Nicht laut, für sich, aber sehr sichtbar.

Nun werde ich gerne korrigiert von Personen, die ich mag. Ich wünschte, der schöne Franzose oder der nette Belgier würden mich öfter berichtigen, das ist nur gut für mich. Ich kann damit leben, daß mich jemand korrigiert, der zwar einen schauderhaften Akzent hat, aber grundsätzlich sehr gut spricht. Aber ich habe innerlich getobt, als dieser Idiot, der kaum fünf Sätze auf Englisch von sich gegeben hat – vermutlich weil sein Englisch Lichtjahre von unserem entfernt ist, keine Ahnung ob er zufällig noch fließend Deutsch oder Chinesisch spricht um sich zu rehabilitieren –, über mich gelacht hat. Gar nicht nett. Ganz schlechte Kinderstube.

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Mittwoch, 14. Oktober 2009
Skurrilitätenkabinett
Aus mir völlig unbegreiflichen Gründen wurde mir eine gewissen Wankelmütigkeit in der Verteilung meiner romantischen Hoffnungen unterstellt. Natürlich ist alles ganz anders als Sie denken. Mehr als jedes andere Land, in dem ich jemals war, zieht die DR Kongo spannende Menschen an wie ein Magnet. Mein Kollege mit den möglicherweise nicht rein kollegialen Interessen zum Beispiel hat Frau und Kinder in den USA, lebt aber seit mehreren Jahren alleine im Ausland und führt eine Ehe auf Distanz. Beim Mittagessen neulich sprach er ausführlich darüber, daß man Arrangements finden müsse, daß ihm die Vertrauensperson an seiner Seite natürlich fehle, auch die körperliche Nähe – dies mit bedeutsamen Blicken garniert – und man sich aber doch irgendwie einrichten könne. Eine andere Bekannte hat einige Jahre mit ihrem Mann zusammen am selben Ort in Afrika gearbeitet, im Moment hingegen ist sie hier und er hat eine Stelle in Kanada – da muß man Ferien und Konferenzbesuche geschickt legen und sich arrangieren. Dann wäre da der schön Franzose Nummer Zwei, der in dem gottverlorenen Kaff vor der Stadt sitzt, wo ihn sicherlich keine Partnerin, die noch bei Sinnen ist, jemals freiwillig hinbegleiten würde. Abgesehen von den Lebensentwürfen sind die Menschen aber überhaupt einen Tick skurriler als in Frankfurt oder Washington.
Der schöne Franzose Nummer Eins zum Beispiel ist eine entsetzliche Diva, eigentlich völlig ungeeignet für das Leben in Entwicklungsländern. Andauernd fummelt er an seinem Mückenrepellent herum, stets und überall führt er kleine Fläschchen mit Hand Sanitizer mit sich herum (und deponiert diese bevorzugt in meiner Handtasche), und klagt andauernd über die mangelnde Infrastruktur, das drittklassige Hotel, und die anstrengenden Flüge, wenn er nicht von Business auf First Class hochgestuft wurde. Er gibt großzügige Trinkgelder, aber erwartet dafür auch entsprechende Leistungen und rückt kein Jota von seinen europäischen Standards ab – wobei ich ersteres für eine sehr löbliche Eigenschaft halte, die vielen Kollegen im Laufe der Karriere verloren geht.
Mein Chef ist ein weiterer Exzentriker: seine Position ist auf jeden Fall einflußreich, er verkehrt mit den Würdenträgern dieses Landes, eilte gestern direkt vom Flughafen hierher, deponierte sein Gepäck in meinem Büro und gewährte mir im anschließenden Gespräch Aussicht auf einen sicherlich fünf Zentimeter langen Riß in seinem Hemd. Die meisten Chauffeure hier sind gepflegter gekleidet als er es heute war – in fröhlicher Mißachtung des abendlichen Meetings mit einigen der oben erwähnten Würdenträgern.
Ein ganz besonders bemerkenswerter Fall ist mein ältlicher Kollege der letzten zwei Wochen. Anfangs bin ich mit der britischen Distanziertheit gar nicht warm geworden, muß aber zunehmend feststellen, daß er ein sehr netter Mensch ist. In jeglichen Treffen hört er grundsätzlich sich selbst am liebsten reden und hat mir vor einigen Tagen einen von mir organisierten Termin im Zuge eines hostile takeover völlig aus den Händen genommen, sich aber im Nachhinein wortreich entschuldigt und mich ausführlich belehrt, wie ich mich besser durchsetzen könne. Beim Meeting des heutigen Abends erklärte er unserem Team in verschwörerischem Ton, es seien wichtige Personen anwesend und wir müßten unsere Worte sorgsam wählen, um keinen Anstoß zu erregen – fand danach aber selbst überaus deutliche Worte. Seine scheinbar endlosen Monologe durchsetzt er gerne mit d’accord oder okay, allerdings ohne jeden fragenden Unterton, was diese Interjektionen zu einer reinen Formalie deklassiert, durch den Tonfall geradezu Lügen straft. Vor allem nach dem Mittagessen sackt ihm bei Terminen gelegentlich das Kinn auf die Brust, aber schon Minuten später ist er wieder völlig präsent, wirft sich mit Verve in die Diskussion und redet alle Gesprächspartner an die Wand. Der andere ältliche Kollege wiederum bemüht sich außerordentlich, mich auch in Themen anzuleiten, die mit unseren gemeinsamen Aufgaben wenig zu tun haben und bekundete am Wochenende beim Abendessen mit traurigem Hundeblick und väterlicher Ernsthaftigkeit seine Enttäuschung ob meines Zigaretten-Lasters: Damenwahl, I am sincerely disappointed to see you smoke – I wouldn’t have expected that. It is not good for you. Do your parents approve of this?. Gleichzeitig hat er offenbar mit dem jüngeren Kollegen im Team in den letzten Tagen Männerfreundschaft geschlossen, wie aus den vertraulichen Scherzen über den Bauchumfang des jeweils anderen heute zu entnehmen war – obendrein benahmen sich die beiden während des bedeutsamen Meetings abends wie die Schuljungs auf der letzten Bank, schrieben sich gegenseitig Briefchen und tauschten verschwörerische Blicke.

Es sind sonderbare Beziehungen, die sich in einem solchen Land anbahnen. Wirklich enge Freundschaften, wie ich sie zu Hause habe, sind selten – angesichts der hohen Fluktuation in der Gemeinschaft der Expatriates ist einfach nicht genug Zeit, sich wirklich kennenzulernen und Vertrauen aufzubauen. Es ist ein bißchen wie im Beraterleben: man wird in einer Zwangsgemeinschaft zusammengeworfen und muß sich mit dem arrangieren, was an Sozialleben verfügbar ist. Viele Gespräche nach Feierabend – und hier eben auch am Wochenende, auf Parties, beim gemeinsamen Frühstück – beschäftigen sich vor allem mit dem Arbeitsleben und dem großen gemeinsamen Nenner: dem Aufenthaltsland und seinen Eigenheiten. Obwohl ich anfangs zwei Wochen mit einer Kollegin zusammengewohnt habe, habe wir uns nie über private Themen, Familie, Lebensplanung ausgetauscht. Mit dem schönen Franzosen war ich inzwischen vier Mal zu zweit Essen – das würde unter allen anderen Umständen als den hiesigen definitiv als Beginn einer Romanze qualifizieren, hier jedoch haben wir beim ersten Mal ausschließlich über den Beruf gesprochen. Beim zweiten Mal ganz am Ende kurz über seine Schwester und Mutter und meine Familie und den innerfamiliären Kleiderschrankraub. Gestern Abend wiederum – viertes gemeinsames Dinner – haben wir mit dem Austausch über die Eigenheiten und handarbeitlichen Aktivitäten unser Mütter und Weihnachtsfeiern gewissermaßen das nächste Level genommen. Obwohl ich mit diesen Menschen viel Zeit verbringe, weiß ich: sobald ich abreise, wird der Kontakt einschlafen. Während meiner oder ihrer Abwesenheiten wechsele ich mit den meisten Kollegen kaum eine Mail. In Washington habe ich unglaublich viel Zeit mit einer Gruppe lateinamerikanischer Kollegen verbracht, ganze Wochenenden durchgefeiert, bin immer wieder eingeladen worden, immer wieder haben sie daran gedacht, mich über ihre Aktivitäten nach Feierabend zu informieren und mitzunehmen. Mit zwei Kollegen war ich außerdem sehr regelmäßig nachmittags Kaffee trinken, aber seither habe ich kein Wort von ihnen gehört (außer einer kurzen Meldung, daß bei dem Metro-Unglück vor einigen Monaten niemand von ihnen zu Schaden gekommen sei). Wenn ich bedenke, mit welchem Bemühen im 18. Jahrhundert handschriftliche Briefe geschrieben und mit Kosten und Aufwand befördert wurden, um Beziehungen zu pflegen, finde ich es beklagenswert, wie wenig in meiner Generation dafür getan wird. Obwohl es in Zeiten von Facebook und Skype so einfach wäre, sich gelegentlich nach dem Befinden des anderen zu erkundigen, macht es kaum jemand. Dabei sind doch hundertfünfzig Kontakte bei Facebook wirklich kein Vergleich mit dem Korrespondentenkreis eines Goethe – aber die Zeit, das Bemühen, das aufrichtige Interesse am anderen scheint verloren zu sein. Ich weiß nicht warum.

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