Dienstag, 21. Juni 2011
Die Moderne
Früher dachte ich, ich hätte lieber in einem anderen Jahrhundert gelebt. Ich mag Konventionen, gute Umgangsformen und klare Regeln. Nichts kleidet einen Mann in meinen Augen besser als Uniformen und Gesellschaftsanzug, Musik vor 1900 kann ich einwandfrei zuordnen, während mir die moderne Unterhaltungsmusik ein einziger Brei ist. Ich lese Bücher und werde mich nie mit E-Books anfreunden, schreibe gerne Briefe und in Ermangelung derselben zumindest E-Mails und Facebook-Nachrichten im Briefformat. Es spricht also vieles dafür, daß ich mich auch vor 100 oder 200 Jahren wohlgefühlt hätte, und möglicherweise hätte ich nicht mal mit dem damaligen gesellschaftlichen Korsett ein übermäßiges Problem gehabt.

Wenn ich sehe, wie Geburtstagsgrüße in meiner Generation sich fast ausschließlich auf eine knappe Facebook-Pinnwand Nachricht beschränken, weiß ich, mit meinem Bedauern über diesen Errungenschaft der Moderne allein zu stehen. Ich bin dann ein Anachronismus. Und dennoch hoffe ich, niemals dem „früher war alles besser“ Syndrom zu verfallen. Es gibt vieles, worüber man jammern könnte: den Verfall der Demokratie. Der klein- und großbürgerlichen Tugenden. Die neue Egozentrik Individualität. Die Zunahme von Gewalt im Alltag, rechtskonservativer Strömungen in der Politik, Integrationsprobleme, Casino-Banker, die Post-Privacy-Bewegung und den Niedergang der Gesellschaft in toto. Bei meinen Eltern stelle ich gewisse kulturpessimistische Tendenzen fest, und halte dann stets dagegen, weil ich immer gerne dagegen bin. Meinen Eltern die Segnungen der Neuzeit begreiflich zu machen, ist nicht leicht, weil ihnen das Identifikationspotential mit Facebook, unseren arabischen Nachbarn und vielen Stempeln im Reisepass fehlt. Trotzdem würde ich mit ihnen nicht tauschen wollen. Noch weniger mit meiner Ur-Ur-Ur-Großmutter.

Der Beruf

Ich weiß, ehrlich gesagt, gar nicht, was meine Ur-Ur-Ur-Ahnin getan hat. Meine Urgroßmutter väterlicherseits war jedenfalls Hausfrau und Bäuerin auf dem eigenen kleinen Subsistenz-Acker. Mein einer Großvater Fuhrmann. Der andere Waldarbeiter. Die Damen meiner Großelterngeneration waren Mägde auf fremden Höfen, Dienstmädchen in fremden Haushalten. Die bestsituierte unter ihnen ist nie in die Nähe einer höheren, dem Gymnasium vergleichbaren Lehranstalt gekommen. Der Aufstieg ins moderate Bürgertum einer dörflichen Gesellschaft ist ihnen nur mit klugen Heiraten gelungen. Realistischerweise muß ich also annehmen, daß ich vor 100 Jahren nicht als Simone de Beauvoir und vor 150 Jahren nicht als Lise Meitner geboren worden wäre.

Ich hätte niemals studiert. Niemals fremde Länder bereist. Intellektuelle Herausforderungen hätte ich allenfalls in der Führung eines Haushaltsbuches ausleben können, vielleicht bei der abendlichen Lektüre im Bett, so wir uns elektrisches Licht oder Kerzen hätten leisten können. Ich wäre statt blind mit Brille einfach nur blind durchs Leben gegangen. Ich hätte in meinem jetzigen Alter sicherlich schon viele Kinder gehabt, wäre womöglich sogar bereits im Kindbett gestorben – die durchschnittlichen Lebenserwartung um 1850 für Frauen lag bei 37 Jahren.

Die Moderne hingegen hat mir Möglichkeiten verschafft, die noch meiner Mutter qua Herkunft, Gesellschaft und Erziehung praktisch unmöglich waren, weil für Frauen eine eigene Karriere nicht selbstverständlich war. Nachgerade für ungehörig, jedenfalls unnötig gesehen wurden. Es bestand in meiner Familie allerdings nie Zweifel daran, daß ich ein Gymnasium besuchen und studieren würde. Ich weiß noch, daß ich mit 16 Jahren auf einer Familienfeier mit meiner Sandkastenfreundin diskutierte, wie wir unseren Auslandsaufenthalt in der 11. Klasse organisieren würden. Daß wir das tun würden, war für uns beide gleichermaßen selbstverständlich – das „ob“ mußten wir niemals diskutieren.

Ich bin weiter gereist, als meine Großeltern sich jemals hätten träumen lassen, habe Länder gesehen, die sie kaum aus Büchern kannten. Ich bin aufgewachsen in der Gewissheit, daß ich auch Astronautin oder Diplomatin hätte werden können und daß Frauen über die gleiche intellektuelle Kapazität wie Männer verfügen. Obwohl ich manchen Mann getroffen habe, der diese Ansicht nicht teilt, obwohl ich für weniger Geld mehr habe leisten müssen als männliche Angestellte, schätze ich mich glücklich, nicht vor hundert Jahren gelebt zu haben. Ob ich nämlich den Kampfgeist und Ehrgeiz gehabt hätte, mich damals all den Widrigkeiten zu stellen, bezweifele ich. Ich wäre Hausfrau und Mutter geworden, hätte es in Entfernungskilometern maximal bis zur Ostsee geschafft, und ob ich irgendwas vermißt hätte – wer weiß. Vielleicht nicht. Aber ich dankbar, daß mir das erspart blieb.

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Donnerstag, 28. April 2011
Brillenproblem...
... gelöst! Nach all dem Drama mutet die Lösung geradezu lächerlich an, aber wen schert das schon, solange die Optik stimmt? Oder besser: das Preis-Leistungsverhältnis. Und das kam so: nach drei Wochen grübeln fand ich immer noch 500 Euro für eine Alltagsbrille zu teuer - so oft scheint die Sonne hier leider nicht, und falls doch, sitze ich meistens gerade im Büro. 150 Euro (ohne Spezialgläser für mit Kontaktlinsen tragen) fand ich auch zu teuer - angesichts der maximal 20 Tage im Jahr, die ich Linsen benutze.

Heute Abend dann in Kauflaune erneut in den Laden, weil ich so unbedingt! jetzt! sofort! eine braune, große Sonnenbrille haben wollte. Im Zweifel auch ein nicht ganz so luxuriöses NoName-Gestell, wenn es denn dafür weniger als 100 Euro gekostet hätte. Am Ende stand ich mit der Wunschbrille in der einen und einer günstigeren Alternative in der andere Hand vorm Spiegel, schön nah am Glas, Maulwurfkneifaugen, um mich selbst zu erkennen, überlegte hin, überlegte her. Setzte meine normale, randlose Brille auf. Zog die Wunschbrille drüber -

sitzt.

Skurrilerweise passen wirklich beide gleichzeitig problemlos auf mein breites Näschen. Klar, ohne ist immer noch besser, aber die eigentliche Brille sitzt trotzdem völlig normal unter der Sonnenbrille, ist mein Eindruck. Und damit, Herrschaften, ist aus der 150-Euro-15-Tage-Brille eine 150Euro-200-Tage-Brille geworden - und meine Welt wieder in Ordnung. Meine Freude wiederum war so offensichtlich, daß ich sogar die Verkäufer angesteckt habe. Gute Tat für heute inklusive.

Hoffentlich regnet es morgen nicht.

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Montag, 25. April 2011
Knick in der Optik
Ich muss acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als Freunde meiner Eltern sich bei irgendeinem Besuch nach der Schule erkundigten, wie man das so tut. Ich mochte Schule damals wie später im Prinzip ganz gerne, es gab schließlich viele spannende Dinge zu lernen, allein: die Schrift der Lehrer. Ich las gerne und viel, Schreib- und Druckschrift, aber irgendwie, so erklärte ich den Erwachsenen, würden die Lehrer inzwischen viel schlechter schreiben als noch in der ersten Klasse. Unordentlicher und so.

Tage später schleppte meine Mutter mich zum Optiker: das Kind stellte sich als kurzsichtig heraus. Meine erste Brille hatte einen grün-rot-blauen Rahmen, den ich so toll fand, daß ich zwei Jahre später das gleiche Modell noch einmal wählte. Heute würde ich meine Mutter gerne fragen, wie sie diese Scheußlichkeit zulassen konnte, aber fraglos erfüllte das Ding seinen Zweck. Ich erinnere mich noch, wie ich in meinem Kinderzimmer am Fenster stand und feststellte, daß ich jedes Blumenblatt in Nachbars Rabatten erkennen konnte. So scharf! So klar! Die Welt sah plötzlich ganz anders aus und ich war begeistert.

Im Laufe der Jahre gab es etliche Kontaktlinse-Episoden, aber angesichts langer Tage vor dem Bildschirm trage ich schon seit Jahren wieder meistens Brille, außer beim Ausgehen und Sport. Ich kann ohne Brille nicht mal ein Buch lesen, ich würde meine eigenen Eltern nicht erkennen, im Winter ist das Ding beschlagen, im Sommer hantiere ich mit zwei Brillen, und ohnehin dauernd kämpfe ich gegen Patschflecken auf dem Glas – kurz: es ist ein Kreuz. Ich träume von einer Existenz ohne Komplikationen, bin aber zu risikoscheu (und geizig), um zu diesem Zeitpunkt eine Operation zu erwägen. In einigen Jahren, wenn ich Geld haben werde, setzt vermutlich bereits die gegenläufige Altersweitsichtigkeit wieder ein, dann brauche ich es nicht mehr. Egal, manche sagen, ich sehe klug und apart aus mit Brille, und ohnehin nutzt es nichts, über unabänderliche Gegebenheiten zu jammern.

Im Moment jedoch leide ich wieder einmal besonders: ich brauche nämlich eine neue Sonnenbrille. Gerne hätte ich einen dieser großen Fliegenaugenbrummer, allein: so einfach ist das nicht. Ich hätte das Ding nämlich gerne mit Gläsern in meiner Stärke und das ist nicht trivial, wenn man ein multimorbider blinder Fisch ist.

Option 1 habe ich vor Jahren probiert und mir normale, getönte Brillengläser in ein altes Brillengestell einsetzen lassen. Dafür mußte selbiges geradegebogen werden, damit der Blick geradeaus durch die Gläser geht. Danach bekam ich von der Konstruktion regelmäßig Kopfschmerzen und so ist es vielleicht nicht schlimm, daß ich das Ding auf meinen weitläufigen 20 qm trotz aller Bemühungen nicht finden konnte.

Bleiben Optionen 2 und 3: ich könnte ein normales, ohnehin gerade Brillengestell wählen, das halbwegs nach Sonnenbrille aussieht und normale Brillengläser kaufen. Kostenpunkt 240 Euro. Ein mäßiger Kompromiss, denn eine normale Brille sieht nun mal nicht so cool aus wie eine modische Sonnebrille. Oder ich könnte das Gestell meiner Wahl nehmen und spezielle Sportgläser für mich schleifen lassen. Die wären bausteindick (je größer das Glas desto dicker der Rand, habe ich gelernt), ich müßte mich also in die oberen Luxusklassen der Brillenglasschleifkunst begeben und an die 500 Euro investieren. Was mir sehr viel scheint. Dafür könnte ich ja auch genauso gut Variante 2 wählen und noch eine coole Sonnenbrille. und diese ohne Spezialgläser mit Kontaktlinsen tragen.

Dafür spräche, daß ich die Sonnenbrille vor allem trage, wenn ich am Wochenende unterwegs bin, Strand, Sommer, Sonne, Freizeit. Dauernd mit zwei Brillen hantieren zu müssen (rein, raus, auf, ab) nervt mich ohnehin, also wäre es gar nicht dumm, bei solchen Anlässen öfter die Kontaktlinsen zu benutzen. Andererseits trage ich seit drei Jahren wirklich fast immer Brille – das spräche also für Variante 3, da hätte ich dann genau das, was ich will.

Seit Wochen nun klappere ich Optiker ab. Die Kette meines Vertrauens schafft es ohnehin nicht, die Gläser in meiner Stärke zu schleifen. Der High-End-Optiker vor Ort schon, und der ist sogar ausnahmsweise mit den genannten 500 Euro günstiger als der High-End-Optiker daheim in Deutschland. Die Kompromissbrillen gefallen mir eigentlich alle nicht so toll und 300 Euro für einen Kompromiss kommen mir schwachsinnig vor. 500 Euro für ein Accessoire hingegen irgendwie erst recht. Teufel auch, ich weiß beim besten Willen nicht, was ich machen soll, aber irgendeine Lösung muß her: sonst bekomme ich demnächst Falten vom Blinzeln gegen die Sonne, und das geht wirklich gar nicht.

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