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Pimp my dress
damenwahl | 10. Juli 11 | Topic 'Liebschaften'
Das Kleid war schon langweilig als ich es gekauft habe. Seinerzeit allerdings war ich so fürchterlich sparsam mit meinem hartverdienten Geld, daß meine Familie schon über mich lachte. Noch weniger als ich heute habe ich es eingesehen, für ein Kleidungsstück, das man höchstens drei Nächte lang trägt (auch wenn Ballnächte immer besonders sind) 300 Euro oder mehr auszugeben.
Damals also war ichgeizig sehr sparsam, ich brauchte dringend ein Kleid, und dieses war reduziert. Immerhin sagte mir die grau-grüne Farbe zu, und angezogen machte es etwas mehr her als auf dem Bügel: obwohl weitgehend hochgeschlossen, hatte es doch einen erstaunlich tiefen Ausschnitt. Kein Kleid, mit dem man Blicke auf sich zieht – aber hat man die Blicke anders angezogen, bietet es doch eine nette Aussicht. Den Aussschnitt. Und einen hohen Schlitz am Bein.
Um nicht gänzlich als grau-grüne Maus dazustehen, kaufte ich einen fuchsiafarbenen Schal und passende Ohrringen dazu und trug das Kleid seinerzeit auf einem kleineren Fest und Anfang dieses Jahres noch einmal in Wien. Jetzt allerdings brauche ich wieder eines und mochte dieses wirklich nicht mehr sehen – aber meine anderen Kleider hatte ich alle schon mehrfach an. Zuviele Festlichkeiten sind auch in den sekundären Kosten ein teurer Zeitvertreib und ein neues Kleid in der Schweiz zu kaufen, kommt schon gar nicht in Frage. Jenes Kleid vom Wiener Shopping-Marathon, das mir am meistens zusagte (dort 380 Euro) hängt auch hier in einem Laden – für 580 Franken. Das sehe ich keinesfalls ein.
Nun besitze ich allerdings seit kurzem eine Nähmaschine. Versuchshalber habe ich soviele Kissen genäht, daß ich einen Einzelhandel eröffnen könnte und fühlte mich damit gewappnet für Höheres. Nämlich die Kleiderverschönerung. Das Kleid hat rund um die Taille einen breiten, gerade Abnäher, der sich für farbliche Akzente anbot, was ich mir außerdem nicht sonderlich schwierig vorstellte. Bunten Stoff draufnähen und gut, dachte ich. Hätte mich jemand dabei beobachtet, wie ich abends in meiner Wohnung Satinbänder und Schals faltete und an verschiedenen Stellen ans Kleid drapierte, um Farbkombinationen zu beurteilen, er hätte sicherlich sehr gelacht. Am Ende fand ich pink immer noch am schönsten und ging anderntags zum Stoffkauf. Als Alternative hatte ich außerdem gelb oder orange, vielleicht mit orientalischer Anmutung, im Hinterkopf, das hatte ich am Vorabend in einem Film gesehen und war sehr angetan. Aber doch unsicher, ob das passen würde. Pink war also ganz klar mein Favorit – aber pink gab es leider nicht. Vom Futterstoff riet mir die patente Verkäuferin ab, und wunderbar schillernde Rohseide gab es in allen Farben, nur nicht in pink. Wohl aber in safrangelb. Und ein Reststück schwarzer Stoff mit Japan-Motiven aufgedruckt war außerdem im Angebot. Ich wußte schon, warum ich für die Stoffabteilung bei Karstadt eine Stunde eingeplant hatte, überzog aber mein Zeitbudget trotzdem, während ich mit der Verkäuferin Machbarkeit und Optik diskutierte.
Daß sie möglicherweise – bei allem Bemühen – nicht die beste Beraterin in Geschmacksfragen war und ich allein würde entscheiden müssen, verstand ich, als sie vorschlug, auf die farbige geplante farbige Schärpe um die Taille noch eine Glitzer-Chiffon-Tüll-Blume aufzunähen, damit das Kleid weniger langweilig sei. Ts. Am Ende schob ich alle Bedenken beiseite, investierte 40 Euro in Stoff und Garn und eilte wieder heim.
Am Sonntag zitterten mir beinahe die Finger vor Sorge, ich könnte sowohl das Kleid als auch die schönen Stoffe mit meinem Dilettantismus ruinieren, aber siehe da: nach vier Stunden Arbeit saß die Schärpe ums Kleid ziemlich so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Kurzzeitig befürchtete ich, zu großzügig genäht zu haben, aber am Ende brauchte es ein bißchen Spiel für Bewegung (man stelle sich vor, ich setze mich zu Tisch und der Stoff reißt ab!). Handwerklich gibt es noch minimales Optimierungspotential, einmal kam ich leicht vom Weg ab, aber das verschwindet in einer Falte (auch Fehler kann man strategisch begehen). Vielleicht war es etwas rabiat, den versehentlich zwischen Naht und Maschine geratenen (und damit fest angetackerten) Futterstoff innen einfach abzuschneiden. Aber egal, innen sieht keiner.
Die verbleibenden Stoffstücke zu einem Schal zusammenzusetzen (vorne Asiatika-Druck, hinten gelbe Rohseide) kostete weitere sieben Stunden an der Nähmaschine. Präziser: sieben Stunden Handarbeiten. Für jede fünf Minuten nähen an der Maschine nämlich hocke ich dreißig Minuten auf dem Fußboden und messe, stecke, markiere, hefte, und bügele. Bei meinen ersten Versuchen habe ich gelernt, daß jede Schlampigkeit sich später rächt. Wann immer ich dachte: wird schon passen, passte am Ende gar nichts, ich vermute beinahe, Stoffe führen ein Eigenleben und krabbeln heimlich wieder auseinander, wenn man sie aus den Augen läßt. Vielleicht waren es aber auch nur meine tolpatschigen Pfoten. Nachdem ich dieses Mal einen konkreten Anlaß vor Augen und wirklich Geld investiert hatte, habe ich lieber alles drei Mal geprüft. Am Ende kann ich es kaum glauben: die Mühe hat sich gelohnt. ICH! Ich höchstselbst, habe mein Kleid verschönt und einen passenden Schal genäht und im Gegensatz zu vielen anderen Dingen gilt hier: wenn man nicht sieht, daß es handgemacht ist, ist es gut. Und das ist es.
Oder?

Damals also war ich
Um nicht gänzlich als grau-grüne Maus dazustehen, kaufte ich einen fuchsiafarbenen Schal und passende Ohrringen dazu und trug das Kleid seinerzeit auf einem kleineren Fest und Anfang dieses Jahres noch einmal in Wien. Jetzt allerdings brauche ich wieder eines und mochte dieses wirklich nicht mehr sehen – aber meine anderen Kleider hatte ich alle schon mehrfach an. Zuviele Festlichkeiten sind auch in den sekundären Kosten ein teurer Zeitvertreib und ein neues Kleid in der Schweiz zu kaufen, kommt schon gar nicht in Frage. Jenes Kleid vom Wiener Shopping-Marathon, das mir am meistens zusagte (dort 380 Euro) hängt auch hier in einem Laden – für 580 Franken. Das sehe ich keinesfalls ein.
Nun besitze ich allerdings seit kurzem eine Nähmaschine. Versuchshalber habe ich soviele Kissen genäht, daß ich einen Einzelhandel eröffnen könnte und fühlte mich damit gewappnet für Höheres. Nämlich die Kleiderverschönerung. Das Kleid hat rund um die Taille einen breiten, gerade Abnäher, der sich für farbliche Akzente anbot, was ich mir außerdem nicht sonderlich schwierig vorstellte. Bunten Stoff draufnähen und gut, dachte ich. Hätte mich jemand dabei beobachtet, wie ich abends in meiner Wohnung Satinbänder und Schals faltete und an verschiedenen Stellen ans Kleid drapierte, um Farbkombinationen zu beurteilen, er hätte sicherlich sehr gelacht. Am Ende fand ich pink immer noch am schönsten und ging anderntags zum Stoffkauf. Als Alternative hatte ich außerdem gelb oder orange, vielleicht mit orientalischer Anmutung, im Hinterkopf, das hatte ich am Vorabend in einem Film gesehen und war sehr angetan. Aber doch unsicher, ob das passen würde. Pink war also ganz klar mein Favorit – aber pink gab es leider nicht. Vom Futterstoff riet mir die patente Verkäuferin ab, und wunderbar schillernde Rohseide gab es in allen Farben, nur nicht in pink. Wohl aber in safrangelb. Und ein Reststück schwarzer Stoff mit Japan-Motiven aufgedruckt war außerdem im Angebot. Ich wußte schon, warum ich für die Stoffabteilung bei Karstadt eine Stunde eingeplant hatte, überzog aber mein Zeitbudget trotzdem, während ich mit der Verkäuferin Machbarkeit und Optik diskutierte.
Daß sie möglicherweise – bei allem Bemühen – nicht die beste Beraterin in Geschmacksfragen war und ich allein würde entscheiden müssen, verstand ich, als sie vorschlug, auf die farbige geplante farbige Schärpe um die Taille noch eine Glitzer-Chiffon-Tüll-Blume aufzunähen, damit das Kleid weniger langweilig sei. Ts. Am Ende schob ich alle Bedenken beiseite, investierte 40 Euro in Stoff und Garn und eilte wieder heim.
Am Sonntag zitterten mir beinahe die Finger vor Sorge, ich könnte sowohl das Kleid als auch die schönen Stoffe mit meinem Dilettantismus ruinieren, aber siehe da: nach vier Stunden Arbeit saß die Schärpe ums Kleid ziemlich so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Kurzzeitig befürchtete ich, zu großzügig genäht zu haben, aber am Ende brauchte es ein bißchen Spiel für Bewegung (man stelle sich vor, ich setze mich zu Tisch und der Stoff reißt ab!). Handwerklich gibt es noch minimales Optimierungspotential, einmal kam ich leicht vom Weg ab, aber das verschwindet in einer Falte (auch Fehler kann man strategisch begehen). Vielleicht war es etwas rabiat, den versehentlich zwischen Naht und Maschine geratenen (und damit fest angetackerten) Futterstoff innen einfach abzuschneiden. Aber egal, innen sieht keiner.
Die verbleibenden Stoffstücke zu einem Schal zusammenzusetzen (vorne Asiatika-Druck, hinten gelbe Rohseide) kostete weitere sieben Stunden an der Nähmaschine. Präziser: sieben Stunden Handarbeiten. Für jede fünf Minuten nähen an der Maschine nämlich hocke ich dreißig Minuten auf dem Fußboden und messe, stecke, markiere, hefte, und bügele. Bei meinen ersten Versuchen habe ich gelernt, daß jede Schlampigkeit sich später rächt. Wann immer ich dachte: wird schon passen, passte am Ende gar nichts, ich vermute beinahe, Stoffe führen ein Eigenleben und krabbeln heimlich wieder auseinander, wenn man sie aus den Augen läßt. Vielleicht waren es aber auch nur meine tolpatschigen Pfoten. Nachdem ich dieses Mal einen konkreten Anlaß vor Augen und wirklich Geld investiert hatte, habe ich lieber alles drei Mal geprüft. Am Ende kann ich es kaum glauben: die Mühe hat sich gelohnt. ICH! Ich höchstselbst, habe mein Kleid verschönt und einen passenden Schal genäht und im Gegensatz zu vielen anderen Dingen gilt hier: wenn man nicht sieht, daß es handgemacht ist, ist es gut. Und das ist es.
Oder?

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Die Individualisierung
Ach! Der Verfall der Gesellschaft im Allgemeinen. Ganz gleich, was die Moderne an materiellen Annehmlichkeiten zu bieten hat, dieses Argument schlägt alles. Von jugendlichen Gewalttätern über böse Investmentbanker ohne Skrupel, von zerschlagenen Gartenzwergen bis hin zu korrupten Politikern: alles gesellschaftlicher Verfall und alles ein Ausfluss der üblen Individualisierung. Jeder kämpft für sich allein. Früher haben Familien und Gruppen noch zusammengehalten und man fühlte sich dem Gemeinwohl verpflichtet. Heute ist alles schlechter.
Kann sein. Ich suche in vielen meiner Studienkollegen vergeblich nach dem protestantischen Arbeitsethos, das meine Eltern mir vermittelt haben. Die eigene Arbeit, das war nicht nur Broterwerb, um ein angenehmes Leben zu finanzieren, es war auch ein Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft im weitesten Sinne – für den Schlachtergesellen ebenso wie für den Arzt. Ich bezweifele, daß die Investmentbanker meines Bekanntenkreises für solche Aspekte besonders empfänglich sind, der höhere Sinn ihres Berufes erschöpft sich für sie in liquiden Kapitalmärkten und effizienter Allokation, bestenfalls.
Andererseits bin ich nicht sicher, ob die Großkapitalisten der industriellen Revolution wirklich so viel altruistischer waren und am Gemeinwohl interessiert. Korruption als Straftat hat keine besonders lange Geschichte: es war früher einfach die Regel und gesellschaftlich kein großer Makel. Man denke nur daran, wie Napoleon seine sämtlichen Geschwister auf europäische Throne brachte, wie Hochzeiten strategisch arrangiert wurden, wie die europäischen Industrienationen die Flächen in Afrika bei der Berliner Konferenz untereinander verschacherten.
Vor hundert Jahren erwarben Kaufleute Adelstitel für ihre Kinder durch geschickte Heiraten bei Mitgiften, heute erwerben sie Doktortitel durch Ghostwriter und Universitätsspenden. Damals wie heute hielten sich die Titelträger für die eigentliche Elite und fühlten sich berufen, die Geschicke des Landes zu lenken -wo ist da der Unterschied? Umgekehrt könnte man auch sagen, es spricht eigentlich für den Fortschritt in unserer Gesellschaft, daß der durch Leistung erworbene akademische Titel vielen heute erstrebenswerter scheint als der Adeltitel. Und daß Korruption immerhin eine Straftat ist.
Vielleicht war die individuelle Moral früher besser. Vielleicht waren aber auch die Maßstäbe ans Wohlverhalten einfach andere und die Informationen schwerer verfügbar, so daß Missetaten nicht so oft, schnell und ausufernd in der Öffentlichkeit breitgetreten wurden. Ich denke zum Beispiel an unmenschliche Erziehungsmethoden inKinderheimenAnstalten für Schwererziehbare, über die sich damals niemand aufregte. So weit her kann es da ja mit der individuellen Moral nicht gewesen sein?
Die Erosion von sozialen Netzen und Gemeinschaften, Nachbarschaften, Familienzusammenhalt – das mag schon zutreffen. Aber dafür haben wir heute staatsfinanzierte soziale Netze, die vieles davon überflüssig machen. Früher mussten Familien nolens volens zusammenhalten, Eltern Kinder ernähren, dann Kinder Eltern ernähren, alleinstehende Onkeln und Tanten gleich mit, es gab ja keine breite Absicherung für alle. In dem Moment aber, wo die wirtschaftliche Notwendigkeit solcher Netze entfällt, sucht man sich vielleicht lieber die Gesellschaft, die einem wirklich behagt – statt an Familienbanden zu hängen, wenn man die heimatliche Provinz als bedrückend empfindet.
Genausowenig braucht man nachbarschaftliche Beziehungen, denn ein Kilo Zucker oder zwei Eier bekommt auch um Mitternacht noch an der Tankstelle und die Pakete kann man auch wochenends aus der Postbox holen. Heute kann sich jeder in totaler Freiheit sein soziales Umfeld selber suchen und das Risiko, mit irgendeinem Lebensentwurf anzuecken, ist viel geringer als früher. Die Möglichkeit, für jede noch so verrückte Neigung gleichgesinnte zu finden, ist hochgradig individuell – und für manche Minderheit sicherlich ein großer Gewinn.
Wir suchen uns die Kontakte, die wir aus Neigung wirklich pflegen wollen, passend zu jeder Lebensphase, alle sehr individuell. Aber ist das zwangsläufig schlechter? Traurig ist es da, wo Brüche am Generationenübergang entstehen: wo alte Menschen alleine zurückbleiben, weil die Jugend weiterzieht, während die alten Leute auf ihre Kinder gezählt haben. Daraus allerdings gleich den Niedergang unserer Zivilisation zu konstruieren, halte ich für übertrieben. Und wer weiß: wenn wir erst mal ganz Europa aufgekauft haben, als Nation Insolvenz anmelden und die staatlichen Sicherungssysteme zusammenbrechen: vielleicht kommt dann ja die schöne alte Zeit der dörflichen oder kleinstädtischen Gemeinschaft wieder, wo man die Nachbarn halbe Tage am Fenster beobachten, ob man auch die Straße pflichtgemäß gekehrt hat und welche Damen wann Männerbesuch hatten.
Auch wenn es an der Gegenwart vieles zu kritisieren gibt, wenn ich mir vieles anders wünsche: so toll war es vielleicht früher auch nicht. Jedenfalls nicht alles. Das muß auch mal gesagt werden.
Kann sein. Ich suche in vielen meiner Studienkollegen vergeblich nach dem protestantischen Arbeitsethos, das meine Eltern mir vermittelt haben. Die eigene Arbeit, das war nicht nur Broterwerb, um ein angenehmes Leben zu finanzieren, es war auch ein Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft im weitesten Sinne – für den Schlachtergesellen ebenso wie für den Arzt. Ich bezweifele, daß die Investmentbanker meines Bekanntenkreises für solche Aspekte besonders empfänglich sind, der höhere Sinn ihres Berufes erschöpft sich für sie in liquiden Kapitalmärkten und effizienter Allokation, bestenfalls.
Andererseits bin ich nicht sicher, ob die Großkapitalisten der industriellen Revolution wirklich so viel altruistischer waren und am Gemeinwohl interessiert. Korruption als Straftat hat keine besonders lange Geschichte: es war früher einfach die Regel und gesellschaftlich kein großer Makel. Man denke nur daran, wie Napoleon seine sämtlichen Geschwister auf europäische Throne brachte, wie Hochzeiten strategisch arrangiert wurden, wie die europäischen Industrienationen die Flächen in Afrika bei der Berliner Konferenz untereinander verschacherten.
Vor hundert Jahren erwarben Kaufleute Adelstitel für ihre Kinder durch geschickte Heiraten bei Mitgiften, heute erwerben sie Doktortitel durch Ghostwriter und Universitätsspenden. Damals wie heute hielten sich die Titelträger für die eigentliche Elite und fühlten sich berufen, die Geschicke des Landes zu lenken -wo ist da der Unterschied? Umgekehrt könnte man auch sagen, es spricht eigentlich für den Fortschritt in unserer Gesellschaft, daß der durch Leistung erworbene akademische Titel vielen heute erstrebenswerter scheint als der Adeltitel. Und daß Korruption immerhin eine Straftat ist.
Vielleicht war die individuelle Moral früher besser. Vielleicht waren aber auch die Maßstäbe ans Wohlverhalten einfach andere und die Informationen schwerer verfügbar, so daß Missetaten nicht so oft, schnell und ausufernd in der Öffentlichkeit breitgetreten wurden. Ich denke zum Beispiel an unmenschliche Erziehungsmethoden in
Die Erosion von sozialen Netzen und Gemeinschaften, Nachbarschaften, Familienzusammenhalt – das mag schon zutreffen. Aber dafür haben wir heute staatsfinanzierte soziale Netze, die vieles davon überflüssig machen. Früher mussten Familien nolens volens zusammenhalten, Eltern Kinder ernähren, dann Kinder Eltern ernähren, alleinstehende Onkeln und Tanten gleich mit, es gab ja keine breite Absicherung für alle. In dem Moment aber, wo die wirtschaftliche Notwendigkeit solcher Netze entfällt, sucht man sich vielleicht lieber die Gesellschaft, die einem wirklich behagt – statt an Familienbanden zu hängen, wenn man die heimatliche Provinz als bedrückend empfindet.
Genausowenig braucht man nachbarschaftliche Beziehungen, denn ein Kilo Zucker oder zwei Eier bekommt auch um Mitternacht noch an der Tankstelle und die Pakete kann man auch wochenends aus der Postbox holen. Heute kann sich jeder in totaler Freiheit sein soziales Umfeld selber suchen und das Risiko, mit irgendeinem Lebensentwurf anzuecken, ist viel geringer als früher. Die Möglichkeit, für jede noch so verrückte Neigung gleichgesinnte zu finden, ist hochgradig individuell – und für manche Minderheit sicherlich ein großer Gewinn.
Wir suchen uns die Kontakte, die wir aus Neigung wirklich pflegen wollen, passend zu jeder Lebensphase, alle sehr individuell. Aber ist das zwangsläufig schlechter? Traurig ist es da, wo Brüche am Generationenübergang entstehen: wo alte Menschen alleine zurückbleiben, weil die Jugend weiterzieht, während die alten Leute auf ihre Kinder gezählt haben. Daraus allerdings gleich den Niedergang unserer Zivilisation zu konstruieren, halte ich für übertrieben. Und wer weiß: wenn wir erst mal ganz Europa aufgekauft haben, als Nation Insolvenz anmelden und die staatlichen Sicherungssysteme zusammenbrechen: vielleicht kommt dann ja die schöne alte Zeit der dörflichen oder kleinstädtischen Gemeinschaft wieder, wo man die Nachbarn halbe Tage am Fenster beobachten, ob man auch die Straße pflichtgemäß gekehrt hat und welche Damen wann Männerbesuch hatten.
Auch wenn es an der Gegenwart vieles zu kritisieren gibt, wenn ich mir vieles anders wünsche: so toll war es vielleicht früher auch nicht. Jedenfalls nicht alles. Das muß auch mal gesagt werden.
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Die Moderne - Facebook
Facebook ist keine Firma, für die ich jemals würde arbeiten wollen, ebensowenig wie irgendeine andere Internet-Unternehmung. Andererseits würde ich auch weder für Rüstungskonzerne, noch für BMW, Coca-Cola oder Loréal arbeiten wollen, einfach weil ich mich mit deren Mission oder Geschäftsgebahren nicht identifizieren kann.
Im Facebook-Fall eher das Geschäftsgebahren. Ich weiß, die klauen meine Daten. Sie locken unschuldige, junge Kinder aufs Glatteis, verführen zur völligen Selbstentblößung („Nutze den Freundefinder! (und gib uns bitte Dein E-Mail-Passwort“), sie ändern die Sicherheitseinstellungen und Vertragsbedingungen heimlich und durchs Hintertürchen, seit neuestem wollen sie sogar per Gesichtserkennung meinen Namen an irgendwelche Fotos dranhängen.
Trotzdem kann ich Facebook etwas Gutes abgewinnen: ich behalte nämlich viele Freunde in Reichweite, in Kontaktweite, und manchmal sogar buchstäblich im Auge. Ich sehe, wer schwanger geworden ist und wer geheiratet hat, wer auf welcher Party war und mit wem. Facebook erinnert mich an Geburtstage und so kann ich mir die Mühe machen, der Freundin oder dem Freund ein paar Sätze zu schreiben (allerdings nicht an die Pinnwand, sondern unter vier Augen, im chambre séparée). Wenn ich in Deutschland auf Reisen gehe, muß ich nicht sämtliche 10 mehr oder weniger guten Bekannten vor Ort einzeln anmailen, nach Verfügbarkeit und Interesse für einen Kaffee fragen und mühsam Termine koordinieren. Ich poste den Termin und meinen Kaffeewunsch in den Status, und schon trudeln Angebote ein für Nachtlager, Unterhaltung, und – natürlich – viele Kaffees. Ich muß nicht einmal koordinieren: das ergibt sich ganz von selbst aus der Reihenfolge, in der Freunde meine Ankündigung sehen und antworten.
Vielleicht hätte ich vor 100 Jahren eine schwunghafte Korrespondenz mit spannenden Menschen auf der ganzen Welt oder in ganz Deutschland geführt (so ich hätte lesen und schreiben können, Geld für die Beförderung gehabt und überhaupt es überhaupt zu Bekanntschaften außerhalb der Dorfgemeinschaft gebracht hätte). Vielleicht hätte ich mir tatsächlich die Zeit genommen, Seite um Seite handschriftlichen zu füllen – vielleicht wäre ich aber auch im Briefeschreiben so maulfaul gewesen wie meine Generation mailfaul ist. Ich habe exakt eine Freundin mit der ich wesentliche Inhalte gelegentlich per Mail kommuniziere - ansonsten beschränken wir uns auf wenige Sätze und telefonieren oder skypen.
Prinzipiell wäre ich durchaus willens, auch längere Mails zu schreiben, aber da mir selten jemand vergleichbar ausführlich antwortet, hätte ich vermutlich bald die Lust verloren und damit über kurz oder lang auch die Beziehung zu Menschen, die weit weg sind. Ich habe viele spannende Menschen getroffen, spannend genug jedenfalls, sie gerne wiedersehen zu wollen. Gleichzeitig war es nicht immer möglich, einen so innigen Kontakt herzustellen, daß er auch bei Entfernung und Kommunikationshürden getragen hätte. Nun kann man sagen: die brauche ich dann auch nicht als Freunde. Man kann aber auch sagen: Facebook ermöglicht mir, den Kontakt mit diesen Menschen über einen dünnen Faden aufrecht zu erhalten. Es ist eine kleine Bereicherung, die es ohne Facebook und Skype nicht gegeben hätte und die ich – trotz der mangelnden Innigkeit – schätze.
Ich muß solchen Datenkraken nicht mehr Informationen zum Fraß vorwerfen als unbedingt nötig. Das ist immer noch weitgehend meine eigene Entscheidung, und die in dieser Hinsicht nachlässigere Jugend muß meine Meinung nicht teilen. Regelmäßig hyperventilieren die Medien: Personaler machen sich in sozialen Netzwerken über Bewerber schlau! Das ist natürlich nicht schön, und wer zwanzig Bilder in halbnackter Pose mit Bier am Swimming-Pool postet, empfiehlt sich damit nicht unbedingt für verantwortungsvolle Positionen. Andererseits: wenn es nur genug Leute so machen, dann wird es irgendwann normal und kein Kriterium mehr sein. Mal ehrlich: wer hat es nicht in seiner Jugend ein paar Mal krachen lassen? Und wer hat nicht schon mal gedacht: Mieser Arbeitstag im Büro und der Chef ist ein dummer Hund?
Wer weiß, wenn die Personalrekruteure dieser Welt irgendwann begreifen, daß jeder so etwas schon mal gedacht hat, weil jeder es irgendwann mal auf Facebook niederschrieb – vielleicht wird die Welt tatsächlich ein bißchen ehrlicher? Wohlgemerkt: ich schätze meine Privatsphäre sehr, hier wie anderswo im virtuellen und realen Leben, ich hüte und schütze sie und wundere mich manches Mal über die Auslassungen anderer in aller Öffentlichkeit. Aber jene, die soziale Netzwerke auf Selbstentblößung ohne gesellschaftlichen Mehrwert reduzieren und immer nur der schönen alten Briefzeit nachweinen, ignorieren die guten Seiten. Da muß man auch mal gegenhalten.
Im Facebook-Fall eher das Geschäftsgebahren. Ich weiß, die klauen meine Daten. Sie locken unschuldige, junge Kinder aufs Glatteis, verführen zur völligen Selbstentblößung („Nutze den Freundefinder! (und gib uns bitte Dein E-Mail-Passwort“), sie ändern die Sicherheitseinstellungen und Vertragsbedingungen heimlich und durchs Hintertürchen, seit neuestem wollen sie sogar per Gesichtserkennung meinen Namen an irgendwelche Fotos dranhängen.
Trotzdem kann ich Facebook etwas Gutes abgewinnen: ich behalte nämlich viele Freunde in Reichweite, in Kontaktweite, und manchmal sogar buchstäblich im Auge. Ich sehe, wer schwanger geworden ist und wer geheiratet hat, wer auf welcher Party war und mit wem. Facebook erinnert mich an Geburtstage und so kann ich mir die Mühe machen, der Freundin oder dem Freund ein paar Sätze zu schreiben (allerdings nicht an die Pinnwand, sondern unter vier Augen, im chambre séparée). Wenn ich in Deutschland auf Reisen gehe, muß ich nicht sämtliche 10 mehr oder weniger guten Bekannten vor Ort einzeln anmailen, nach Verfügbarkeit und Interesse für einen Kaffee fragen und mühsam Termine koordinieren. Ich poste den Termin und meinen Kaffeewunsch in den Status, und schon trudeln Angebote ein für Nachtlager, Unterhaltung, und – natürlich – viele Kaffees. Ich muß nicht einmal koordinieren: das ergibt sich ganz von selbst aus der Reihenfolge, in der Freunde meine Ankündigung sehen und antworten.
Vielleicht hätte ich vor 100 Jahren eine schwunghafte Korrespondenz mit spannenden Menschen auf der ganzen Welt oder in ganz Deutschland geführt (so ich hätte lesen und schreiben können, Geld für die Beförderung gehabt und überhaupt es überhaupt zu Bekanntschaften außerhalb der Dorfgemeinschaft gebracht hätte). Vielleicht hätte ich mir tatsächlich die Zeit genommen, Seite um Seite handschriftlichen zu füllen – vielleicht wäre ich aber auch im Briefeschreiben so maulfaul gewesen wie meine Generation mailfaul ist. Ich habe exakt eine Freundin mit der ich wesentliche Inhalte gelegentlich per Mail kommuniziere - ansonsten beschränken wir uns auf wenige Sätze und telefonieren oder skypen.
Prinzipiell wäre ich durchaus willens, auch längere Mails zu schreiben, aber da mir selten jemand vergleichbar ausführlich antwortet, hätte ich vermutlich bald die Lust verloren und damit über kurz oder lang auch die Beziehung zu Menschen, die weit weg sind. Ich habe viele spannende Menschen getroffen, spannend genug jedenfalls, sie gerne wiedersehen zu wollen. Gleichzeitig war es nicht immer möglich, einen so innigen Kontakt herzustellen, daß er auch bei Entfernung und Kommunikationshürden getragen hätte. Nun kann man sagen: die brauche ich dann auch nicht als Freunde. Man kann aber auch sagen: Facebook ermöglicht mir, den Kontakt mit diesen Menschen über einen dünnen Faden aufrecht zu erhalten. Es ist eine kleine Bereicherung, die es ohne Facebook und Skype nicht gegeben hätte und die ich – trotz der mangelnden Innigkeit – schätze.
Ich muß solchen Datenkraken nicht mehr Informationen zum Fraß vorwerfen als unbedingt nötig. Das ist immer noch weitgehend meine eigene Entscheidung, und die in dieser Hinsicht nachlässigere Jugend muß meine Meinung nicht teilen. Regelmäßig hyperventilieren die Medien: Personaler machen sich in sozialen Netzwerken über Bewerber schlau! Das ist natürlich nicht schön, und wer zwanzig Bilder in halbnackter Pose mit Bier am Swimming-Pool postet, empfiehlt sich damit nicht unbedingt für verantwortungsvolle Positionen. Andererseits: wenn es nur genug Leute so machen, dann wird es irgendwann normal und kein Kriterium mehr sein. Mal ehrlich: wer hat es nicht in seiner Jugend ein paar Mal krachen lassen? Und wer hat nicht schon mal gedacht: Mieser Arbeitstag im Büro und der Chef ist ein dummer Hund?
Wer weiß, wenn die Personalrekruteure dieser Welt irgendwann begreifen, daß jeder so etwas schon mal gedacht hat, weil jeder es irgendwann mal auf Facebook niederschrieb – vielleicht wird die Welt tatsächlich ein bißchen ehrlicher? Wohlgemerkt: ich schätze meine Privatsphäre sehr, hier wie anderswo im virtuellen und realen Leben, ich hüte und schütze sie und wundere mich manches Mal über die Auslassungen anderer in aller Öffentlichkeit. Aber jene, die soziale Netzwerke auf Selbstentblößung ohne gesellschaftlichen Mehrwert reduzieren und immer nur der schönen alten Briefzeit nachweinen, ignorieren die guten Seiten. Da muß man auch mal gegenhalten.
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