Sonntag, 13. Dezember 2009
Neue Aussicht
Im Kongo dampften die Eiswürfel manchmal, wenn man das Tonic Water drüberlaufen ließ – hier dampfte gestern Abend der Rotwein im Glas, als ich kurz auf der Terrasse saß. Im Kongo beschlug die Brille beim Verlassen des klimatisierten Autos. Hier hat mich die Normalität wieder, die Brille beschlägt, wenn ich Räume betrete. Vergessen hatte ich, wie früh es im Winter dunkel wird, wie dunkel es überhaupt den ganzen Tag ist, vergessen das Gefühl, ständig kalte Füße zu haben und vergessen auch das feuchtkalte Wetter. Andererseits kann man im Winter Kleidung über die Heizung legen und vorgewärmt aneziehen – ein glücklicher Zufallstreffer gestern Abend im Bad. Ebenso verdrängt hatte ich das wunderbare Gefühl, in einem kalten Schlafzimmer das Federbett bis zur Nase hochzuziehen – die letzten Monate hatte ich allenfalls ein Laken, allenfalls über den Füßen.
Manchmal halte ich inne und wundere mich. Die Zahnbürste in der Hand, ärgere ich mich, daß die Wasserflasche neben dem Bett steht, bevor mir einfällt, daß ich Wasser aus dem Hahn nehmen kann. In der Stadt kaufe ich Noten, drei verschiedene Ausgaben gibt es von dem Werk das ich möchte, neben mir steht ein Ehepaar, das eine Querflöte für die Tochter kauft und endlos mit dem Verkäufer diskutiert. Dieser Überfluß! Zwischen all dem Weihnachtstrubel in der Stadt, mit Glühweinständen, Lichterketten und vielzuvielen Menschen komme ich mir fremd und deplaziert vor. Meine Mitmenschen kommen mir feist, zu wohlgenährt, zu zufrieden vor und ich frage mich, wie oft sie an jene Milliarden Menschen denken, denen es schlechter geht. Ein Mann auf Stelzen verteilt Werbezettel, ein zehnjähriges Kind streckt sich jauchzend danach, hüpft auf und ab, um ihm einen der Zettel abzunehmen und ich kämpfe mich den Tränen, weil ich an die beiden kongolesischen Jungs in ähnlichem Alter denken muß, die ich nachts auf der Straße im Dreck haben schlafen sehen, ineinander gerollt, der Ältere den Jüngeren im Arm. Kein Kind sollte so aufwachsen müssen, keines.

Freitag Abend hatten meine Eltern langjährige Freunde zu Besuch, beide Lehrer, politisch und sozial sehr engagiert, keine Kinder. Kongo verorten sie – ganz richtig – irgendwo in Afrika, über „Kinshasa“ stolpern sie einige Male, und die interessierten Rückfragen versiegen irgendwann – was ich zu erzählen habe ist zu fremd. Die Tischgespräche über Bildung und Familienpolitik, den Umgang mit Suchtkranken und Familienstreits an Weihnachten führen mir vor Augen, wie weit weg mein Leben – nicht nur räumlich – von meinem ursprünglichen Umfeld ist. Ich habe Kollegen, die Langstreckenflüge nach Dubai oder Washington hinnehmen wie die Freunde meiner Eltern eine Fahrt in die nächstgrößere Stadt und die Ex-Kollegen in Frankfurt den Flug nach London. Auch mir geht die naive Unschuld bei Langstreckenflügen langsam verloren: ein Flug ist ein Flug ist ein Flug, und nicht mehr der Anfangspunkt eines großen Abenteuers. Im heimatlichen Umfeld bin ich ein Exot, der weiter und länger gereist ist als die meisten anderen, und erlebt hat, was andere in Büchern lesen. Und damit bin ich die einzige. Es gibt sonst niemanden mit meinem Lebensweg im Bekanntenkreis meiner Eltern, keine ehemaligen Schulkameraden, keine Kinder von Freunden, keine entfernten Verwandten. Mit Details halte ich mich zurück, denn sonst ernte ich verwunderte Blicke und hochgezogene Augenbrauen. Kakerlaken in der Küche? Vierundzwanzig Stunden ohne Strom? Ein eigener Fahrer, tagtäglich? Ich bin dankbar für das Privileg meiner Erfahrungen, aber hier zu Hause macht es mich einsam – ich habe Heimweh nach Kinshasa und nach Kollegen, die meine Erfahrungen teilen.

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