Donnerstag, 3. Juni 2010
Krieg und Frieden
Ich bin natürlich nicht unparteiisch. Sondern indoktriniert. Durch mein Elternhaus, meine Studienwahl, meine Ausbildung, meine Arbeitgeber. Ich glaube an Märkte, freien Kapitalverkehr und die Segnungen von Welthandel, Liberalisierung und Globalisierung. Irgendwie jedenfalls.

Hätte man mich vor einer Woche gefragt, ich hätte selbstverständlich gesagt, daß Welthandel und Frieden in Deutschland untrennbar miteinander verbunden sind. Unser Frieden hat nämlich viel mit Konsum zu tun, Konsum für alle, und möglichst viel. Bananen aus Lateinamerika und Kaffee aus Afrika für jedermann, T-Shirts für die H&M Teenager aus Bangladesh, wenn ich meine Computer-Hotline anrufe melden sich Damen, die irgendwo in Osteuropa sitzen und riefe ich von Amerika aus an, säßen sie in Indien. Wollte man all die Einzelteile zurückverfolgen, würde es richtig kompliziert, das Öl für meinen Joghurtbecher und meine Plastiktüten kommt vielleicht vom kaspischen Meer, oder aus Iran, die Metalle fürs Deckelchen aus Afrika oder Lateinamerika, die Milch kommt von subventionierten Landwirten in Deutschland, die künstlichen Aromen und Zusatzstoffe aus der Rest-EU und die Arbeitskräfte, die alles zusammensetzen, die sind natürlich deutsch. Oder haben zumindest ihren Wohnsitz in Deutschland, vielleicht irgendwo in der baden-württembergischen oder bayerischen Provinz. Ich weiß das, Sie wissen das, und die meisten Deutschen wissen es auch irgendwie. Eine andere Sache ist natürlich, darüber nachzudenken jenseits des eigenen Konsumhorizonts. Zum Glück für uns – und für die Weltwirtschaft – müssen wir darüber meistens nicht nachdenken, das tun hunderttausende Volkswirte, unter anderem beim IMF in Washington.

Die Frage, ob Wohlstand und Frieden zusammenhängen, muß man dort aber nicht mehr stellen, das ist längst beantwortet. Die Frage lautet viel mehr: wie sehr beeinflussen Konflikte das Wirtschaftswachstum? Besonders interessant ist das im Zusammenhang mit dem ewigen Sorgenkind Afrika, das neben vielen traurigen Rekorden auch mehr ethnische Gruppen und bürgerkriegsähnliche Konflikte verzeichnen kann, als die meisten anderen Regionen dieser Welt. Da für die koloniale und postkoloniale Grenzziehung Fragen der Stammes- oder Volkszugehörigkeit nicht übermäßig relevant waren, springen ethnische Konflikte in Afrika schnell auf Nachbarländer über. Der Bürgerkrieg im Kongo, in Rwanda, Uganda und in Burundi hat über die Jahre geschätzte 5 Millionen Opfer gefordert, und wird völlig zurecht manchmal als „afrikanischer Weltkrieg“ bezeichnet. Unter solchen Bedingungen kann Wirtschaft natürlich nicht wachsen.
Bürgerkriege untergraben die Fundamente von Recht und Gesetz, mindern Produktionskapazitäten, sowohl menschliche wie auch maschinelle, und blockieren Handelswege. Ohne Lieferung und ohne Verkauf keine Wirtschaft. Nicht zu reden von den Auswirkungen auf den Staatshaushalt, Militärausgaben und den materiellen Kosten zerstörter Infrastruktur.
Wissenschaftler haben versucht, die Kosten für Konflikte zu schätzen und haben festgestellt, daß ein Bürgerkrieg – basierend auf einem größeren cross-country sample – geschätzte 2 % Wachstum pro Jahr kostet. Dies nur für das bürgerkriegsführende Land, ohne Berücksichtigung von indirekt betroffenen Nachbarstaaten oder regionalen Auswirkungen.
Ein anderes Beispiel: eine empirisch basierte Schätzung der Transitionskonflikte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in verschiedenen osteuropäischen Ländern kam zu dem Ergebnis, daß die Konflikte das Wachstum der Region zwischen 1984 und 1994 um etwa 9% gemindert haben. Wenn man bedenkt, daß wir heute schon über 2 % Wachstum froh wären, sind 9 % wirklich eine ganze Menge – für vergleichsweise harmlose Konflikte.

Etwas detaillierter und in Richtung soziologische Voraussetzungen für Bürgerkriege, kann man auch schauen, wozu ethnische Fragmentation innerhalb von Ländern führt. Ohne die verschiedenen verwendeten Maße für ethnische Diversität zu erläutern, kann man zusammenfassend sagen:

The data indicate that high levels of ethnic diversity are strongly linked to high black market premiums, poor financial development, low provision of infrastructure, and low levels of education. Although ethnic diversity is not significantly correlated with every economic indicator, the evidence is consistent with the hypothesis that ethnic diversity adversely affects many public policies associated with economic growth.

Nun kann man als hartherziger Kapitalist natürlich sagen: was scheren mich die Konflikte in Afrika, das bißchen Kobalt aus dem Kongo und Kaffee aus den Nachbarländern ist nicht von weltmarktbestimmender Bedeutung, aber man kann diese Zahlen als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen nehmen.

Man kann sich auch die Konsequenzen der Piraten vor Somalia anschauen, um ein Gefühl für die endlose Ketten von Verbindungen im Welthandel zu bekommen. In 2008 wurden im Golf von Aden 115 Schiffe gekapert, für etwa die Hälfte wurden Lösegelder von 1 bis 1,5 Mio. USD gezahlt. Das kann man wirklich verschmerzen, das können wir uns locker leisten, und die paar philippinischen Matrosen, die einige ungemütliche Monate verbringen müssen, haben eben Pech gehabt. Zumal umgelegt auf die 20.000 Schiffe, die jedes Jahr durch den Golf von Aden fahren, ist die Piraterie kein Drama. Damit hört das Problem aber nicht auf: die Versicherungen für Schiffe auf dieser Passage vervielfachten sich, von 500 USD in 2008 auf 20.000 USD in 2009. (Daten von hier). Angesichts dieser Kosten – und des bleibenden Risikos – erwägt man als Reeder andere Routen, aber 3.500 Meilen Umweg sind nicht zu verachten. Das dürfte ungefähr zehn Tage Zeit kosten, pro Passage, macht 200.000 Schiffstage mehr im Jahr, wenn alle Schiffe umgeleitet würden. Das ist auch eine Menge. Schiffe liegen nicht einfach untätig auf Reserve in Häfen, Schiffe fallen auch nicht einfach vom Himmel, und wollte man so etwas stringent durchziehen, müssten die 200.000 Tage eingespart werden – bei steigenden Frachtpreisen, denn gestiegene Nachfrage wirkt auf den Preis. Nicht zu reden von dem Kraftstoff, der durch den Umweg verbraucht würde, den Personalkosten, den Umweltfolgen. Mit Sicherheit würden die I-Phones aus China und T-Shirts aus Bangladesh teurer werden, vielleicht müssten wir auch auf ein paar Kisten Bananen aus Lateinamerika verzichten bzw. uns zwischen Bananen oder I-Phones entscheiden. Oder uns würden Container für den Abtransport unserer Exportautos und Exportmaschinen fehlen – auch das wäre weniger gut. Was genau passieren würde, höhere Preise, Containerknappheit, Güterknappheit oder Güterabwägung, kann niemand sagen – aber es würde nicht ohne Konsequenzen bleiben. Weniger vielleicht für Menschen, die ihr Obst nach Saison kaufen, Fleisch vom Bauern ihres Vertrauens und mehr Geld für Bücher als für Technikspielereien ausgeben. Mehr für jene Menschen, denen das I-Phone als Statussymbol wichtig ist, der Fernseher die beste Form der Unterhaltung, und der Einkauf von unverarbeiteten Lebensmitteln ein Abenteuer. Weniger für Ärzte und Buchhändler, mehr für Industriearbeiter und Autofirmen-Manager. Das wäre wirklich nicht schön, und da kann man doch froh sein, daß die internationale Staatengemeinschaft sich entschlossen hat, dieser Piraten-Bedrohung des Welthandels durch militärische Mittel zu begegnen. Es gibt übrigens auch eine Schätzung, was ein Pirat so verdient, dafür daß er seinen Kopf so weit aus dem Fenster streckt: Der Chef Pirat am Schreibtisch mit der Finanzierung im Hintergrund verdient etwa 120.000 USD pro Jahr, die verzweifelten armen Schweine an Bord 15.000 USD pro Jahr. Wobei das in Afrika natürlich viel Geld ist. Trotzdem: für einen reichlich riskanten Job, ohne Sozialversicherung.

Die zwei Prozent Wachstum, die die Wirtschaftskrise gerade gefressen hat, sind ja schon hart und das spüren wir allenthalben, Zeitarbeit, Kurzarbeit, defizitärer Staatshaushalt und so. Man könnte sich zum Beispiel vorstellen, daß wir bei der nächsten Anfrage der NATO um ein paar Überwachungsflugzeuge „nein“ sagen, wir sagen überhaupt „nein“ zu allem, was die Amerikaner von uns wollen, weil wir ein souveräner Staat sind. Der Rest der Welt sieht das anders und betreibt weiterhin strategische, pragmatische Außenpolitik, zieht sogar im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen an einem Strang, aber wir sagen „nein“. Moralisch wäre das vermutlich in vielen Fällen durchaus richtig, aber wenn die Amerikaner eine Angelegenheit zum nationalen Heiligtum erküren und sich nicht darauf beschränken, Volkswagen in Peoplecar umzubenennen (wie seinerzeit die Freedom Fries), sondern Millionen US-Bürger statt Audi, BMW und Volkswagen nun Toyota und Chevrolet kaufen, dann ist es mit der Gemütlichkeit und den Opernhäusern in dummen, kleinen Provinzstädten möglicherweise schnell vorbei.

Niemand weiß, ob, wann und wo die nächste große Krise stattfinden wird. Bestenfalls gar nicht oder wenigstens weit weg von Ölpipelines und Handelswegen, aber selbst dann ist es in einer komplexen Wirtschaftswelt nicht leicht, die Konsequenzen einzuschätzen. Einer unserer großen Politiker würden sagen: We are all sitting in one boat. Meines Wissens hat sich noch niemand die Mühe gemacht, in einem Modell zu simulieren, welche Auswirkungen ein größerer regionaler Konflikt auf den Welthandel und auf einzelne Länder hätte. Aus gutem Grund: die Weltwirtschaft würde in ihrer Komplexität jedes noch so raffinierte Modell und jede noch so umfangreiche Rechnerkapazität sprengen. Und deswegen weiß niemand, was passiert, sollte es unwahrscheinlicherweise irgendwo richtig krachen.
Rationalerweise kann es in niemandes Interesse sein, der Weltwirtschaft zu schaden, aber niemand garantiert, daß nicht irgendein fehlgeleiteter Politiker oder irrer Militärputschist noch rational handeln wird, wenn er am Drücker sitzt.

Ich bin nicht für Wirtschaftskriege. Die amerikanische Strategie, wichtige und unterlegene Ölländer zu besetzen, andere Staaten als Erfüllungsgehilfen ihrer Interessen zu mißbrauchen und dabei gleichzeitig ihrer Souveränität zu berauben ist verachtenswert und schändlich. Umso mehr, wenn sie mit dem Mäntelchen der Demokratisierung behängt wird. Unsere Autos und unser Wohlstand sind auch keine Menschenleben wert, nicht Soldatenleben und nicht Opferleben an irgendeinem gottverlassenen Fleck dieser Erde. Aber zu behaupten, daß internationale Wirtschafts- und Handelspolitik nicht ein Kernbestandteil der deutschen Außenpolitik sind, halte ich für naiv. Das kann nur sagen, wer die Konsequenzen nicht bis zum Schluß durchdacht hat. Denn sollte es irgendwann irgendwo zu einem gravierenden Konflikt kommen, was passiert mit uns in Deutschland, wenn das Öl unbezahlbar wird, wenn wir keine Rohstoffe für all die technischen Spielzeuge mehr bekommen, die wir so schätzen, keine Materialien für die Autos, die wir bauen und in alle Welt verkaufen, und im Winter über jede Vierteldrehung am Heizkörper fünf Mal nachdenken müssen? Wenn sich die Arbeitslosigkeit in Deutschland verdoppelt, gleichzeitig die Staatseinnahmen einbrechen (ohne Unternehmensgewinne keine Staatseinnahmen), und wir ganz nebenbei, sozusagen als Collateral Damage, mehr Asylanträge als jemals zuvor erhalten von alle den verzweifelten Flüchtlingen aus einer zusammenbrechenden Region?
Das ist hoffentlich natürlich ein völlig unrealisitsches Alptraumszenario, aber nach reiflicher Überlegung und Abwägung, scheint es durchaus in unserem Interesse, internationale Krisenherde im Auge zu behalten und uns notfalls auch um Stabilität in entlegenen Regionen zu kümmern. Oder aber wir werden wirklich konsequent, ändern unser Konsumverhalten, hören auf, Billiggüter aus aller Welt über die Meere zu schiffen, reduzieren den Ölverbrauch und werden ein weitgehend export- und importunabhängiges Land. Dann könnte uns die internationale Weltwirtschaft vielleicht egal sein und wir können die Pazifisten werden, die wir gerne wären. Aber beides: den Kuchen essen und gleichzeitig behalten, wird möglicherweise schwierig.

Es gibt aber noch eine andere Perspektive, die ich noch wichtiger finde: nicht nur im eigenen Interesse sollten wir an anderen Regionen in der Welt Anteil nehmen. Sondern vor allem aus Humanismus und Gerechtigkeit und menschlichem Mitleid mit den Schwächeren dieser Welt. Wir schicken deutsche Polizisten und Soldaten zur Stabilisierung in den Kongo, um weitere Kriege zu verhindern – nur kommt da niemand auf die Idee, von Wirtschaftskrieg zu sprechen, weil es keine offensichtlichen wirtschaftlichen Interessen und keine Toten gibt. Davon abgesehen bekommt allein die Demokratische Republik Kongo von uns 12-14 m Euro jährlich. Und Afghanistan 80 m Euro pro Jahr (zwischen 2005 und 2008). Man kann aber nicht alles mit Geld kaufen. Frieden zum Beispiel.

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Dienstag, 1. Juni 2010
Sittenverfall
Meine Eltern werfen meiner Generation oft den allgemeinen Verfall der Sitten vor. Keine Manieren, kein Anstand, keine Werte. Wenn ich mir allerdings die Diskussionen in diversen Blogs anschaue, bei denen ich vermute, daß das Durchschnittsalter etwa zehn Jahre über meinem liegt, kann ich nicht umhin, mich zu fragen, wem es hier an guten Sitten mangelt.

Über die Berechtigung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan kann man geteilter Meinung sein. Über die Auflösung des Bundestags 2005 ebenso wie über allerlei von Köhler unterzeichnete Gesetze. Ich persönlich würde ihm allerdings schon zutrauen, daß er gerade Afghanistan nicht für einen Präzedenzfall des Typus Handelskriegs hält. Deutschland hat in 2009 Güter im Wert von über 800 Milliarden Euro in alle Welt exportiert, davon gingen weniger als 223 Millionen (!) nach Afghanistan – unser Hauptabsatzland scheint das nicht zu sein. Die Importe sind übrigens nicht mal erwähnenswert. Als Handelskorridor für Öl aus dem Kaukasus ist es sicherlich wichtig, aber nachdem Deutschland seine Unabhängigkeit von Rußland auf einzigartige Weise durch die Ostseepipeline untergräbt, kann das wohl auch kein Argument gewesen sein, damals. Und wer, wenn nicht Köhler als IMF Präsident sollte solche Zusammenhänge verstehen? Man kann ihm vieles vorwerfen, aber nicht mangelnde Intelligenz oder die Abwesenheit wirtschaftlichen Sachverstands. Die Rohstoffe, die Afghanistan hat, werden sicherlich noch auf etliche Jahre unter der Erde bleiben, andererseits können sich die Chinesen allerorten auch ohne militärische Beteiligung durchsetzen – kurz: ich glaube Köhler in diesem Fall, daß er andere Fälle im Hinterkopf hatte. Über die Berechtigung dieser anderen Fälle, niedergelegt ( via Che) in den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992, kann man ebenfalls streiten, wie auch über Pragmatismus und Idealismus in der Außenpolitik ganz allgemein.

Ganz unabhängig vom Sachverhalt jedoch finde ich den Ton der Debatte unerträglich, widerlich, populistisch, hämisch, und weit jenseits aller guten Sitten.
Nicht zum ersten Mal, übrigens.

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Demnächst hier: wie ich Windoze untreu wurde. Noch bin ich damit beschäftigt, alles wieder ans Laufen zu bringen. Hab ja sonst nix zu tun. Da kann man sich doch mal drei Tage für den Rechner nehmen, oder?
But now: off for a doze.

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Mittwoch, 26. Mai 2010
Praktische Erwägungen
Meine alte und neue Heimat liegen eher ungünstig zueinander. Zwei nette kleine Provinzstädtchen, mit dem Auto braucht man etwa sechs Stunden, das geht durchaus, aber leider habe ich kein eigenes. Und so teste ich mich langsam durch die zur Verfügung stehenden öffentlichen Verkehrsmittel. Im Januar bin ich mal geflogen, das war ganz angenehm, aber im Ergebnis sind es viele kleine Streckenabschnitte zu einem in der Summe nicht wirklich günstigen Preis: hin zum Flughafen, warten, fliegen, weg vom Flughafen – macht insgesamt sechs Stunden zu über hundert Euro.
Mit der Bahn sind tagsüber acht Stunden, da ist der Tag ganz und gar vorbei. Davon immerhin fünf in einem einzigen Zug abzusitzen bedeutet, daß man im günstigeren Fall – in Abwesenheit von Kegelclubs, schreienden Säuglingen und verreisenden Schulklassen – tatsächlich einfache Arbeiten machen kann. Im ungünstigen sitzt man sich den Rücken krumm und am Ende liegen die Nerven blank. Das zu vermeiden bin ich vor einigen Wochen zum ersten Mal nachts mit dem ICE über Basel und Köln gefahren. Nachts dauert die Fahrt zwar noch länger, eher um zwölf Stunden, aber es hat ganz entschieden seine Vorteile. Bis Basel kann ich noch ein Stündchen arbeiten, der ICE ist dann meist völlig leer, man kann sich ein hübsches Kompartement für sich allein suchen, die Tasche unter den Kopf, die Schuhe aus und sich lang auf einer Dreier-Bank ausstrecken. Bei meinem ersten Versuch stieg gegen zwei ein zahnloser Streckenarbeiter zu, beim zweiten Mal ein junger Bundi – nicht direkt die Gesellschaft meiner Wahl, aber auch keine Katastrophe. Unterträglich ist jedoch, daß der Zug die Großstädte an der Strecke abklappert und stündlich der Schaffner sein Sprüchlein durch die Lautsprecher plärrt: „Meine Damen und Herren, in Kürze gegen 3h25 erreichen wir Karlsruhe. Ihre Anschlüsse... .“ Für alle, die bei der deutschen Version nicht wachwerden, gerne auch noch einmal auf Englisch. Darüber hinaus kommt es in Frankfurt unweigerlich zum Personalwechsel, so daß mitten in der Nacht die Fahrscheine erneut vorgezeigt werden müssen – und nein, das Ticket und die Bahncard demonstrativ auf den Tisch zu legen, reicht nicht aus. DAS würde ja geistige Transferleistung seitens des Zugbegleiters erfordern.
Nach zwei Anläufen muß ich leider sagen: ICE nachts ist bequem genug, aber man döst sich leider nur von einer Stunde zur nächsten. Suboptimal und keine Option für Stressphasen.

Unverdrossen habe ich also die nächste Alternative probiert, CNL im „Ruhesessel im Großraumwagen“. Bevor Sie denken, ich sei zu geizig für Liegewagen: der war nicht mehr verfügbar, nächstes Mal vielleicht. Meine Schwester, vor Jahren ebenfalls CNL gefahren, erinnerte sich nur noch dunkel an besoffene Kerle und unbequeme Sessel. Ganz so schlimm wurde es dann aber nicht. Das Abteil war voll mit europäischen Jugendlichen, Interrail scheint immer noch ein Reisekonzept zu sein, leider brachten die Mitpassagiere Nachtzug nicht mit Ruhe in Beziehung und quasselten zwischendurch ungehemmt. Auch nachdem ich nachdrücklich Ruhe eingefordert hatte. Ansonsten hatte ich aber genug Platz, der Sessel läßt sich tatsächlich ganz angenehm zurücklehnen, es gibt Decken und – für die früh Eingestiegenen – Luftkissen. Vor allem aber: der Zug hält zwar gelegentlich, aber es bleibt dunkel und niemand plärrt durch die Lautsprecher – ein ganz entschiedener Vorteil, weil es drei Stunden Schlaf am Stück ermöglicht, bis man vor lauter Unbequemlichkeit und eingeschlafenen Gliedmaßen aufwacht.

Bisher resümiere ich also: Fliegen ist zu teuer. Bahnfahren tagsüber eine unerträgliche Zeitverschwendung. ICE nachts ist bequem, aber zu laut, Bahnfahren im CNL hingegen ruhig aber unbequem. Sozusagen de Wahl zwischen Pest und Cholera. Nächstes Mal werde ich den Liegewagen versuchen. Und natürlich berichten.

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