Büroqualen
Lichtjahre und Ewigkeiten – gefühlt – scheint es her zu sein, daß ich einen normalen Bürojob in einem quadratischen, praktischen Gebäude aus Glas und Beton in einer deutschen Goßstadt hatte. Die Erinnerung ist weit weg an Tage, an denen man den Arbeitstag um spätestens acht begann und, wollte man um sechs gehen zwecks Jogging-Verabredung mit Freundin, hochgezogene Augenbrauen erntete und den nur halb spöttischen Kommentar „Halben Tag Urlaub genommen?“. Überhaupt war es nie klug, auf frühes Heimkommen zu spekulieren. Tage gab es, da ich mittags Unterlagen zur Durchsicht dem Chef vorlegte und dann wartete. Schlimmstenfalls hatte ich nicht mal andere Aufgaben, nur diese eine mit der unumgänglichen Chef-Durchsicht, dann vertrödelte ich die Zeit, schrieb ein paar überfällige Mails, bildete mich ein bißchen in fachfremden Themen weiter. Und wartete. Auf die Kaffeepause um drei. Die Raucherpause um fünf. Die Abschiedszigarette mit den Kollegen um sieben oder acht. Und irgendwann die letzte Bahn heim um Mitternacht. Glücklich, wer solche Tage frühzeitig erkannte, und rechtzeitig vor vier Uhr in der Kantine fürs Abendessen vorsorgte, mit Sandwich, Joghurt, vielleicht einer Cola für die späten Stunden. Ein bißchen glücklich, wer es immerhin vor sieben zum Brötchenautomaten schaffte, bevor der leergefegt war, bis auf widerliche Fleischsalat-Matsche. Schlimm, wenn man die Hoffnung auf den zeitigen Feierabend allzu lange hegte und pflegte und dann nicht nur spät arbeiten sondern auch noch hungern mußte.
Am allerschlimmsten jedoch waren solche Tage, an denen man verabredet war und die unumgängliche Chef-Besprechung Stunde um Stunde verschoben wurde. Verabredet vielleicht um acht, mit dem besten Freund in der italienischen Weinbar genau auf halbem Weg zwischen unseren Wohnungen, sorgfältig geplant für eine erwartungsgemäß unaufgeregte und berechenbare Arbeitswoche. Im Zweistundentakt schüchtern beim Chef ins Büro geschaut, der immer beschäftigt, keine Zeit für die kleinen Feuer, nur für die großen Brände. Um sechs wird klar, die Hoffnung, zeitig genug gehen zu können für ein paar Einkäufe, einen Sprint zur Reinigung, eine halbe Stunde zu Hause in Ruhe, war verfrüht. Um halb sieben den Chef besucht, noch immer Arbeitsstau auf dem allerhöchsten Schreibtisch. Um sieben innerlich Abschied genommen von der Idee, zu Hause mehr als nur die Hose wechseln zu können. Um halb acht gedacht: wenn wir jetzt schnell machen, kann ich zumindest noch das Auto abstellen und werde pünktlich sein. Um viertel vor acht eingesehen: es wird Zeit für eine Textnachricht an den Freund, ein paar Minuten Verspätung, wenn man direkt hingeht und im Anzug bleibt. Um acht gehofft, jetzt gleich, jeden Moment, es dauert nicht mehr lange, wir haben ja den Wein ohnehin auf neun Uhr verschoben. Im Gespräch mit dem Chef, endlich!, immer wieder auf die Uhr geschielt, genickt und genickt, ja, alles verstanden, die Beine kribbelig, ich will hier raus. Um halb neun aus unerfindlichen Gründen kein Ende in Sicht. Jetzt den Chef um Auszeit zu bitten für eine weitere Textnachricht – dem Ruf im Büro sehr abträglich und schlimmstenfalls eine Verlängerung der Qualen, der Chef könnte das als Freibrief für detaillierte Erläuterungen anschließend auffassen, aber Nachricht gebietet die Höflichkeit, mindestens. Um kurz vor neun ein Telefonat für den Chef und die goldene Gelegenheit, noch einmal zu verschieben oder gleich abzusagen. Beides könnte gleichermaßen falsch sein, vielleicht sind wir gleich fertig, die Kommentare kann ich morgen einarbeiten, und wenn wir jetzt, gleich, schnell... bliebe noch genug Zeit für ein Glas Wein. Das sprichtwörtliche auf heißen Kohlen sitzen muß für Situationen wie diese erfunden worden sein, man will den Chef nicht verärgern, man will raus aus dem Büro, man will der Verabredung zumindest Nachricht zukommen lassen und irgendwie geht nichts von alledem so, wie es soll. Ich habe es gehaßt, damals wie heute. Nur war ich heute die Wartende. Die um halb zehn die Reißleine zog und das Café nach zwei einsamen Bier unter den Augen einer Horde halbstarker Jugendlicher und eines einsamen Bürohengstes unverrichteter Dinge verließ.
Danke, Schicksal, daß ich das nicht mehr ertragen muß, jedenfalls nicht von der falschen Seite aus. Dies hier ist definitiv die Richtige.

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nnier, Dienstag, 23. März 2010, 10:06
Sie haben das großartig beschrieben. Die Frechheit mit dem "halben Tag Urlaub" ist bodenlos, und leider sind es eben nicht nur blutsaugende Vorgesetzte, die solche Sprüche von sich geben, sondern auch dummdreiste Kollegen, die meinen, ein paar Zentimeter im Rattenrennen zu gewinnen, wenn sie ihre devote "Arbeits"-Haltung nur oft und laut genug durch die Gegend krakeelen, nachts Arbeits-E-Mails schreiben, damit man am Absendezeitpunkt erkenne, dass sie pausenlos arbeiten, usw.; ein Elend. Ich habe viel zu lange in einem solchen Laden gearbeitet.

energist, Dienstag, 23. März 2010, 12:09
Werter Herr nnier, ich kann Ihnen nicht genug zustimmen. Das Interessante und Paradoxe ist ja, daß diese von Ihnen so wunderbar beschriebenen Kollegen damit einem Bild entsprechen, das sie beim Tagesabschlußbierchen/Mittagessen/Kaffetrinken auf das Erbittertste angreifen. Ist dort noch das Motto „Kampf den Minderleistern“ zeigt die Beschränkung der Leistungsbewertung auf die Anwesenheit im Büro doch genau diese Denkweise, man müsse eben seine Zeit absitzen. Und nach einem zehn-Stunden-Arbeitstag kann man zwar mit genügend Kaffee noch funktionieren, Höchstleistungen aber sicherlich nicht mehr erbringen.

damenwahl, Dienstag, 23. März 2010, 21:44
Ach, ich gestehe, ich selbst schreibe nach wie vor zu unmöglichen Zeiten Mails, erstens weil das bei Zeitverschiebungen irrelevant wird und zweitens, weil es vielleicht doch auffällt und ich es noch nötig habe.
Jener Kollege hingegen, war tatsächlich ein Arbeitstier - aber leider unfähig zur Erkenntnis, daß zwei Stunden früher morgens oder zwei Stunden später abends keinen Unterschied macht.

conma, Dienstag, 23. März 2010, 14:55
Bin ich froh, dass es diese Denkweise bei uns in der Abteilung gegenwärtig nicht gibt - wiewohl es sie früher gab und in manchen Abteilungen auch gegenwärtig vorhanden ist.

damenwahl, Dienstag, 23. März 2010, 21:53
Fürchterliche Leute, sowas - und so sinnlos. Aber man kann es sich nicht immer aussuchen, leider. Glückwunsch, wenn Sie es besser getroffen haben. Meine aktuellen Kollegen sind auch arbeitswütig und heute habe ich einen Arbeitgeber mit 6-Tage Woche kennengelernt. Auch mal was anderes.

schusch, Dienstag, 30. März 2010, 01:11
Den Spruch mit "Halber Tag Urlaub, oder was?" hört man sich in den in den ersten drei Jahren seines Berufslebens an. Auch die Leute, die den Spruch damals gebracht haben, machen mittlerweile rechtzeitig Feierabend. Nur die Cheffchens, die um neun immer noch Anwesenheit verlangen, haben anscheinend sonst nichts im Leben. Und deswegen bin ich keiner von denen. Mein Big Boss hat zu seinem 60sten gemeint, er hätte auch Mal Trödelphasen eingelegt, deswegen wäre er noch so gesund. Ich glaube, die Kunst ist es, es sich einrichten zu können und trotzdem immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Das muss man beizeiten kapieren. Ich habs vielleicht nicht kapiert aber ich bleibe auch nicht länger als nötig im Büro. E-Mails kann man auch morgen noch beantworten, wärs dringend gewesen, hätten sie angerufen.

Ich freue mich auf die Berichte aus Kinshasa!

damenwahl, Mittwoch, 31. März 2010, 11:34
Nun, ich hatte ja gerade Gelegenheit zu sehen, daß die Leute sich eben gerade nicht verändert haben... umso beruhigender, daß ich da raus bin.
Ich melde mich aus Kin, selbstverständlich!

arboretum, Dienstag, 30. März 2010, 01:27
Ich hatte mal einen Bekannten, der war Chemiker, einer von der Sorte Überflieger, ohne dass ihm das sonderlich schwer gefallen wäre. Der bekam nach seiner Promotion, da war er noch lange keine 30, sofort eine Stelle bei einem Pharmakonzern und ein sechsstelliges Jahresgehalt (zu DM-Zeiten). Irgendwann fiel seinen Vorgesetzten auf, dass er keine Überstunden machte, woraufhin sie meinten, ihn daran erinnern zu müssen, dass die in seinem Gehalt schließlich inbegriffen wären. Er antwortete ihnen kühl, er werde doch wohl für seine Arbeitsleistung bezahlt und nicht für seine Anwesenheitszeiten.

Um des liebens Friedens, so erklärte er mir damals, machte er fortan aber jede Woche genau 2 1/2 Überstunden: "Ich gehe jetzt morgens eine halbe Stunde früher hin und frühstücke dort erst einmal. Merken die nicht, macht sie aber glücklich."

damenwahl, Mittwoch, 31. März 2010, 11:35
Die Strategie kenne ich - ich habe dann irgendwann morgens eine halbe Stunde Zeitunglesen als Arbeitszeit betrachtet - wer nur auf Anwesenheit achtet, ist einfach selber schuld.