Dienstag, 17. August 2010
Gutes tun
Volkswirte sprechen manchmal von „the great divergence“, wenn sie die riesigen Unterschiede zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, vor allem im Bruttsozialprodukt und Lebensstandards diskutieren. Heute sprang mir „the great divergence“ in meinem Facebook Account entgegen. Einer meiner Studienfreunde aus lang vergangenen Zeiten (die Sorte, die keine Pflichtpraktika in der Produktion ableisten mußte, weil Papis Golffreunde die notwendigen Bestätigungen fabrizierten, während der junge Mann in Nizza dem Vergnügen frönte) verkündete, er sei nun „off to London“, auch wenn er das nicht genießen könne wegen zuviel Arbeit. Gleich darunter diskutierte eine Ex-Kollegin mit pakistanischen Wurzeln die Flutkatastrophe in dürren Worten, die der Realität nicht gerecht werden können. Zwei Leben, grosser Unterschied.

Man vergißt leicht, daß Pakistan ein riesiges und bevölkerungsreiches Land ist. Mit 803.000 Quadratkilometern ist es mehr als doppelt so groß wie Deutschland und hätten alle 170 Millionen Einwohner ein vernünftiges Einkommen (und kein Pro-Kopf-Einkommen von lächerlichen 1.000 USD pro Jahr), die Zustände nach der Flut wären immer noch verheerend. Jedes Land dieser Welt wäre mit dieser Situation heillos überfordert.

Haiti ist noch nicht lange her, ein Freund von mir leitet dort immer noch eine NGO und kümmert sich um Waisen und verlorene Kinder. Damals gab es viele Tote, viele Probleme, aber wenigstens sahen alle hin. Was mich ja beinahe schon wieder gestört hat. Diesmal jedoch gibt es kaum Tote, nur 20 Millionen obdachlose Flüchtlinge, und ein Viertel überflutete Landesfläche.

Die Zahlen sind so absurd, daß man vielleicht einen Moment drüber nachdenken, sie ins Verhältnis setzen muß. Ein Viertel der Landesfläche entspricht der Hälfte von Deutschland. Und 20 Millionen Menschen, das entspricht der Bevölkerung ganz Londons. Oder einem Viertel aller Bundesbürger. Ein Viertel aller Deutschen heimatlos, ohne Hab und Gut, auf der Flucht. Das ist mehr, als ich mir vorstellen kann. In Haiti waren die Zahlen noch sechsstellig – das hier jedoch ist eine andere Dimension. Der Tod allerdings kommt erst später, vielleicht interessiert es die Medien und Menschen deswegen so viel weniger. Sterben werden hunderttausende Kinder und Alte an Unterernährung und Seuchen, aber nicht sofort, sondern in ein paar Wochen. In dem Chaos wird es vermutlich auch kaum jemand zählen, die harten Fakten bleiben uns vielleicht erspart.

Und dann ist es doch so: Haiti, da denkt man an Südsee, Urlaub in DomRep, Sandstrände, fröhliche Musik, und jeder kennt jemanden, der schon mal in der Region war, so schön, toller Urlaub. Der Bürgerkrieg fand weitenteils unterhalb des europäischen Medienradars statt, das Elend, die Korruption, die Katastrophen dieses nicht-endenden UN-Sorgenkinds. Pakistan hingegen ist ein ganz anderer Fall. Da gibt es Korruption, Atomraketen und vor allem: Taliban. Taliban, die auch jetzt bestimmt die Hilfsgelder einsammeln, und – mit oder ohne Geld – uns bedrohen. Pakistan genießt keinen sehr schönen Ruf bei uns, sicher nicht ganz zu Unrecht. Pech für die hungernden, obdachlosen, verlorenen Pakistanis, daß solche Wahrnehmungen und Gefühle möglicherweise den Spendenreflex bremsen. Pech, wenn man das Gefühl hat, mit Spendengeldern nur korrupte Politiker zu alimentieren. Das mag so sein, ich weiß es nicht, aber gerade jetzt ist mir das auch egal.

Vor zwölf Jahren haben meine Geschwister und ich Weihnachten beschlossen, für die hungernden, frierenden Kinder in Afghanistan nach dem Erdbeben zu spenden, statt uns zu beschenken. Noch ist nicht Weihnachten und in Pakistan ist auch noch nicht Winter, aber spenden werde ich jetzt. Sofort.

Das geht übrigens sogar online, und alle zuverlässigen Organisationen veröffentlichen die Quote ihrer Verwaltungsausgaben. Welthungerhilfe sieht gut aus. DRK ebenso. Oder auf das DZI-Spendensiegel achten.

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Mittwoch, 23. Juni 2010
Mein Gott, ich werde alt!
500 Tage
315 Beiträge
280 Seiten in Word
200 Clicks, etwa, pro Beitrag
129 schöne, bunte Bilder, insgesamt
77 Referrers, heute, beinahe repräsentativ
35 Mitglieder, überaus geschätzte und gerngesehene,
6 Länder (USA, Brasilien, Tunesien, Kongo, Schweiz, Deutschland)
5 Mailbekanntschaften, Buchempfehlungen & anderes, Chambre séparée
3 Leser persönlich getroffen, an drei verschiedenen Orten, gerne mehr davon
1 große Leidenschaft gefunden, virtuell und doch sehr real, wer hätte das gedacht.

Als ich angefangen habe, hatte ich ein bißchen Langeweile, war ein bißchen fasziniert und sah eine praktische Möglichkeit, Tagebuch mit äußerer Kontrolle und Disziplinzwang zu führen in einem Jahr, das aufregend zu werden versprach. Mit Ehrfurcht betrachtete ich anderer Blogs Zählerstände im vierstelligen Bereich und dachte: da kommst Du nie hin. Und plötzlich ist Halbzeit, ohne daß ich es gemerkt habe.
Zeit vergeht ja bekanntlich schneller, wenn man sie nicht kontrolliert, und so habe ich bewußt keine Zähler im Layout. Nur zufällig, als letzte Maßnahme vor dem morgendlichen Arbeitsbeginn, habe ich neulich mal Tage gezählt und püntktlich bei der 498 gemerkt: ich habe ja fast Jubiläum.

Nie hätte ich gedacht, daß ich so lange durchhalten würde, daß mir doch immer wieder etwas einfallen würde, vor allem aber: nie hätte ich gedacht, daß man bei mir mitlesen würde. Ich freue mich wirklich über jeden einzelnen Kommentar, über die Nachdenklichkeit Klugheit und den Witz meiner Leser, ich bin froh und dankbar, daß Sie mich in meinem virtuellen Wohnzimmer gelegentlich beehren, meinen Alltag bereichern und mir so manche Freude machen! Bei sehr vielen von Ihnen (ich kenne Sie ja nicht alle) lese ich selbst gerne mit, und ich möchte – ganz ehrlich – diese Freuden nicht mehr missen.

Bleiben Sie mir treu, wenn ich bitten darf, für die nächsten 500 Tage, während ich im Winter meinen ersten Skiunfall haben werde, oder meinen ersten Skilehrer abschleppe (oder beides), wenn ich mit der Promotion kämpfe und im Datensalat festhänge, mir der Rechner einen Tag vor Abgabe abstürzt, wenn ich hoffentlich neue Länder des schwarzen Kontinents erkunde oder vor der schweizer Idylle zum Sprachkurs in den mittleren Osten flüchte, und vor allem: melden Sie sich, wenn Sie jemals in der Schweiz sind, ich serviere sowohl Kaffee als auch Tee, gerne auch Wein und notfalls auch Wasser. Oder Ovomaltine.

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500 Tage
Wer hätte das gedacht?

Und hier das Ständchen, das wir uns ausgesucht haben:

http://www.youtube.com/watch?v=GI_4W_pi6dA

500 Tage und immer noch Angst, Urheberrechte zu verletzen.

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Samstag, 3. April 2010
Im Familienkreis
Mama so: Das nächste große Fest, das wir feiern, ist entweder mein sechzigster oder Papas siebzigster.
Schwester so: Oder eine Hochzeit.
Papa so: Also, eigentlich würde ich ja am liebsten eine Hochzeit feiern - aber da bekämen wir dann ja auch einen Schwiegersohn. Hm.

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Sonntag, 14. Februar 2010
Erinnerungen auf Papier
Ich habe mich gestern einer, obwohl vergnüglichen, doch lange aufgeschobenen Aufgabe gewidmet und Fotos eingeklebt. Zweihundert Bilder von Pyramiden, Wüste, und ägyptischem Verkehrschaos, dazwischen Bekanntschaften aus aller Welt und natürlich ich. Wenn ich nicht wenigstens gelegentlich die Kamera Fremden in die Hand drücke und mich selbst fotografieren lasse, ist meine Mutter enttäuscht, das ist also Pflicht. In einer Mischung aus verstocktem Anachronismus, Festhalten an Familientraditionen und Pedanterie habe ich meine Bilder stets in Fotoläden auf der ganzen Welt getragen und entwickeln lassen, gebe gutes Geld für große Alben aus und klebe alles hübsch ein, sammele auch Eintrittskarten und Bahntickets und versehe die Seiten mit Anmerkungen und Beschreibungen.
Ich muß etwa acht oder zehn Jahre alt gewesen sein, als meine Eltern mir eine für heutige Verhältnisse riesige kleine, rote, grau abgesetzte Olympus Kompaktkamera schenkten, die mich bis 2006 treu begleitete, in ferne Länder wie auch in provinzielle Universitätsstädtchen. In 2005 hatte ich meinem damaligen Liebsten zum Geburtstag einen Tag mit seinen Lieblingstieren – Tapiren – im Zoo geschenkt und begegnete am Eingang einem kleinen Jungen mit dem gleichen Modell, allerdings in grau mit rot abgesetzt. Ich zog meine Kamera hervor und erklärte: guck, die habe ich auch, aber meine ist rot und schöner. Er erwiderte beleidigt, daß seine selbstverständlich schöner sei und wir trennten uns ohne Einigung. Danach war die Kamera noch mit mir in Marokko und schenkte mir um Längen bessere Bilder als die teuren Digitalmodelle diverser Besucher, das allerdings war das Ende unserer langjährigen Beziehung – kurz danach ging nichts mehr. Ich probierte diverse Digitalkameras aus, wurde der Schrecken der lokalen Fotofachhändler, wenn ich nach wenigen Tagen die Kameras mit Probebildern zurückbrachte und einwandfrei zeigen konnte, daß meine alten Bilder vom Film qualitativ besser waren. Am Ende kaufte ich eine gebrauchte APS Kamera im Internet für lächerliche 15 Euro, die mich nach Ägypten begleitete. Inzwischen besitze ich auch noch eine wunderbare Spiegelreflexkamera, mit der ich kaum umgehen kann, die aber sogar meine Idiotenfehler verzeiht und mich mit schönen Bildern beehrt, deren ordnungsgemäße Archivierung auf Papier mein nächstes Projekt ist. Künstlerischen Wert können meine Bilder – wie Sie vermutlich schon gemerkt haben – nicht beanspruchen, alle Baudenkmäler und malerischen Aussichten dieser Welt sind schon tausend Mal von besseren Fotografen als mir für die Nachwelt festgehalten worden und da ich meist allein reise, bin ich auch eher selten vor den fraglichen Sehenswürdigkeiten auf den Bildern zu sehen. Trotzdem mache ich fleißig Fotos, obwohl ich fotografieren eigentlich gar nicht mag. Im besten Fall hat es etwas lächerlich Touristisches, im schlechten wirkt man wie ein Voyeur und in jedem Fall zieht man – gerade abseits der Sehenswürdigkeiten – Aufmerksamkeit auf sich, was ich ebenfalls nicht mag. Ich arbeite aber nicht nur pflichtschuldigst Denkmäler ab, ich fotografiere auch den verhungerten Esel auf der Straße, den Schuttberg auf dem Souk, und die bunt eingefärbten Küken auf dem Markt. Ich möchte auch das Ungewöhnliche, sogar das Häßliche und Traurige festhalten und wenigstens jene Menschen, die ich näher kennenlerne. Bei Unbekannten traue ich mich nicht, auch wenn es da viel zu bewahren gäbe. Ich tue das nicht für meine Eltern mit ihren bescheidenen Ansprüchen, hier würde ein schönes Bild von mir am Strand reichen, um der Mutterliebe zu genügen. Noch viel weniger tue ich es, um nach der Heimkehr Freunde und Bekannte stundenlang vor das Album oder den Rechner zu zwingen und in einer Tour de Force endlos von Anekdoten und Errungenschaften zu berichten. Ich fotografiere für mich, für mich ganz allein.

Irgendwann werde ich alt sein und meine grauen Haare nicht mehr zählen noch ausreißen können, ich werde dann vermutlich mit einer jämmerlichen Rente in einer kleinen Wohnung sitzen an einem Ort, der auf der Liste meiner Wunschdestinationen nicht eingeplant war. Ich werde zu klapprig sein, um selbst mit Rollator den Weg zum Lebensmittelladen bewältigen zu können und die moderne Kommunikation wird mich mit Lichtgeschwindigkeit auf der rechten Spur überholt haben, während ich mit den weit entfernt lebenden Weggefährten meiner unternehmungslustigen Jahre in traurigen e-Mails vergangenen Zeiten nachhängen werde. Damals, als wir noch jung und dynamisch waren... .
Wenn es so weit ist, werde ich mich an meine Bilder denken, die Fotoalben herausholen und mich erinnern. Werde milde lächeln beim Gedanken an kindliche Sorgen während der Schulzeit, wie bedeutsam mir Nichtigkeiten schienen, wie wunderbar sich gefühlte Katastrophen in Wohlgefallen auflösten. Werde noch einmal die Aufregung des ersten Langestreckenflugs spüren, die Erwartung gegenüber dem Fremden, die Neugier und Naivität der Jugend, die ich mir hoffentlich so lange wie möglich bewahren werde. Vor allem aber werde ich stundenlang die Bilder von Marokko und Ägypten, von New York und Kinshasa und all den Orten, an denen ich noch leben möchte, studieren und mich über mein eigenes Leben wundern. Die Weite der Wüste wird so unendlich fern sein von den Beschränkungen meiner kleinen Wohnung, die Trümmer und das Chaos von Kinshasa werden wie aus einer anderen Zeit wirken. Ganz gleich, ob Afrika bis dahin auf die Füße gekommen ist oder endgültig zum vergessenen Kontinent wurde, ich werde zurückdenken, wie ich heute nicht weiß, was die Zukunft bringen wird, aber irgendwann wird sie da sein und ich werde vergleichen können – meine Erwartungen, und was wirklich kam.
Und wenn ich so in meinem Sessel sitze, die Füße in eine Wolldecke gewickelt, sabbernd und Tee aus einer Schnabeltasse nuckelnd, werde ich hoffentlich befinden, daß mein Leben gut war. Daß ich so viel möglich gesehen , so viel wie möglich gemacht habe, keine Chancen ausgelassen, keine Reise verpasst habe. Ich werde das schimmernde Perlmuttblau des Himmels über Kinshasa mit dem eisigen Stahlblau des Himmels über den Alpen vergleichen und mich daran erfreuen, beides gesehen zu haben. Nicht nur auf Bildern und in Filmen, nicht nur touristisch auf der Durchreise sondern so richtig. Egal wie kosmopolitisch der Mensch auch sein mag, als Tourist oder Besucher fällt er immer auf und bleibt ein Fremdkörper auf den Straßen – von der Sorte, die von fliegenden Händlern und Straßenkindern umlagert und bekniet wird. Je fremder das Land, desto unmöglicher ist es, jemals mit dem Leben dort zu verschmelzen, aber wenn man eine Weile bleibt, sich niederläßt, einen Ort zu Hause nennt, und die Sprache lernt, kommt der Tag, an dem man immerhin ein unauffälliger, geduldeter Beobachter werden kann. Man steht am Straßenrand und kann in Ruhe zusehen, ist gesättigt mit Touristischem und offen für den Alltag und die Kleinigkeiten und das ist das Beste, was man erwarten kann. Dann beginnt man, nicht nur touristische Sehenswürdigkeiten und präsentable Anekdoten für die Daheimgebliebenen zu sammeln, sondern Erinnerungen für sich selbst. Momente, die man nie mit jemandem teilen wird. Man legt die Kamera beiseite und versucht nicht, das Unsichtbare, Einmalige zwanghaft einfangen zu wollen, sondern genießt den Moment und speichert die Bilder auf der Festplatte im Kopf, nicht auf dem Chip in der Kamera. Und hat im Alter ein Geflecht aus Brücken über die Abgründe des Lebens. Die gelebten Ereignisse werden mir irgendwann ein schmaler Steg zu den verpassten Gelegenheiten und Enttäuschungen sein, die ich nirgendwo festhalten konnte. Die papierenen Bilder werden solide Steinbogen sein zu jenen Momenten, die nur in meinem Gedächtnis existieren. Von den Personen und Sehenswürdigkeiten der Bilder werde ich mich wie an Seilen zu Gesprächen und Gefühlen hangeln können, die ich vergessen glaubte. Und alles zusammen wird ein Schatz an Erinnerungen sein, der mir über die langen Jahre der Vergreisung und zunehmender Einsamkeit hinweghelfen wird. In meinem nachlassenden Gedächtnis werden die Orte, Menschen und Ereignisse langsam im Nebel verschwinden, aber die Fotos werden meine Brücke sein und mir lebhafter und unmittelbarer als jedes geschriebene Wort in Erinnerung rufen, daß es bessere Zeiten gab, daß ich mein Leben genutzt habe, so gut ich irgend konnte, solange ich konnte.

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Montag, 8. Februar 2010
Maxi
Ich war noch keine zehn Jahre alt, als ich irgendwas mit Pferden machen wollte. Voltigieren vielleicht, fragte ich meine Mutter. Da man von Pferden runterfallen konnte, fand dieser Gedanke anfangs gar keine Zustimmung und als letzte Rettung wurde ich vor die Wahl zwischen DLRG Schwimmen und Voltigieren gestellt. Voltigieren, beharrte ich, meine Eltern gaben nach und fuhren mit mir zum Reitverein. In lezter Minute überzeugte meine Mutter mich, doch lieber richtig zu reiten, vermutlich in der strategischen Absicht, von kleinen Ponys stürze man weniger tief. Ich erhielt meine erste Reithose und ein paar schwarze Gummistiefelchen, und verbrachte fortan jede freie Minute damit, einschlägige Pferdemädchen-Magazine zu studieren, im Reitsportladen Putzzeug, Decken und Reitkleidung sehnsüchtig zu bewundern und alles, wirklich alles über Pferde zu lernen. Mit mehr Begeisterung als Können arbeitete ich mich die Ponyhierarchie hoch, von den ganz kleinen zu den mittelgroßen und verbrachte zunehmend mehr Tage im Stall. Wie Ställe so sind war es kalt, zugig und immer irgendwie dreckig, meine Mutter – nicht willens, gute Kleidung ruinieren zu lassen – schickte mich stets in den ältesten Pullovern und abgerissensten Schuhen los, aber mir fiel das gar nicht auf. Mit mehr Ernsthaftigkeit als ich je in der Schule an den Tag gelegt hatte, lernte ich für das kleine Reitabzeichen, tapfer ertrug ich Stürze und Mißerfolge, das Mädchengezicke im Reitstall und brachte es sogar fertig, mich über einen vierten Platz bei einer Turnier Prüfung zu freuen, an der nur vier Reiter teilnahmen. Ich war vierzehn, als Maxi in mein Leben trabte. Maxi gehörte Freunden, die für ihre ambitionierten Töchter anständige Pferde suchten und er eroberte mein Herz sofort: er hieß nicht nur so wie mein geliebtes Stoffpferde, er sah auch so aus. Gerade richtig groß mit etwa 1,40 Stockmaß, dunkelbraun, Mähne und Schweif von etwas hellerer Farbe, mit hohen weißen Stiefeln und einer langen Blesse auf der Stirn.
Seit dem Tag, an dem meine Großeltern mir mein braunes Stoffpferdchen geschenkt hatten (ich weiß nicht: erinnere ich mich tatsächlcih noch an den Moment, als ich zu Füßen meiner Oma mit ihr mögliche Namen diskutierte, Pfanni oder Maxi, oder ist die Erinnerung geliehen, weil sie in späteren Jahren so oft davon erzählte), hatte ich keine Nacht mehr ohne Maxi verbracht, kein Urlaub, keine Reise, keine Übernachtung bei Freunden ohne meinen besten Freund. Und nun hatte ein gütiger Gott mir meinen liebsten Begleiter in lebendig geschickt. Zwischen mir und dem Glück standen jedoch etliche Hindernisse. Maxi – der echte – war ein charakterlich schwieriges Tier, er schnappte beim Putzen und beim Satteln, mochte nicht Stillstehen beim Aufsitzen und obendrein bewegte er sich lieber auf zwei als auf vier Beinen fort, sobald er einen Reiter trug. Seinen Einstand in der Reithalle gab er buckelnderweise quer durch die Länge der Bahn und ziemlich schnell wollte niemand mehr auf ihm reiten. Außer mir. Ich war beileibe keine glänzende Reiterin, aber in dieses Pferd war ich verliebt, in Gedanken war es mein Pferd vom ersten Tag an, und an Unerschrockenheit fehlte es mir nicht: bei erster Gelegenheit meldete ich Bedarf an. Und kam irgendwie mit ihm zurecht. Lammfromm war er nie, aber immerhin fiel ich deutlich seltener herunter als alle anderen und wir brachten jede Reitstunde mit einigem Anstand hinter uns. Mehr denn je investierte ich mein gesamtes Taschengeld in Pferdezeug und Leckerlis und begann, meine Eltern zu bearbeiten.
Sie hatten nie die Absicht gehabt, das Pferdevergnügen überhand nehmen zu lassen, aber meine grenzenlose Begeisterung für gerade dieses eine Pferd muß rührend gewesen sein. Gleichzeitig hatte ich auch begonnen, meinem Großvater zuzusetzen, auch wenn ich nicht ernsthaft erwartete, irgendjemanden weichklopfen zu können – der Reitsport gehörte definitiv nicht zu familiären Prioritäten.
Ohne mein Wissen nahmen meine Eltern in der Vorweihnachtszeit Verhandlungen mit Maxis Besitzern auf. Man einigte sich auf einen Vertrag, man einigte sich mit dem Reitstall auf Boxenmiete und allerlei technische Details und mein Vater und Großvater trafen finanzielle Vorbereitungen. Meine Mutter kaufte zwei Meter rotes Schleifenband und verabredete mit ihrer Freundin die Weihnachtsüberraschung. An Heiligabend würden wir wie immer in die Kirche zum Gottesdienst gehen, meine Großeltern würden da sein, wir würden gemeinsam essen und Weihnachtslieder singen. Die Schwester an der Geige, ich am Klavier, danach Bescherung. Wie stets würde mein Opa den schönsten aller Bäume für uns gefunden haben, deckenhoch und so voll und regelmäßig gewachsen, daß niemand – wie noch zu Vaters Kinderzeiten – Äste würde absägen und woanders einstecken müssen. Die golden schimmernden Kerzenhalter würden sich wie immer von den sattgrünen Zweigen abheben und die Schwester 2 würde wie immer die kleinen Holzfiguren von den Zweigen zum spielen stibitzen. Die Schwestern würden Lego und Puppenspielzeug auspacken, Bücher und Märchencassetten und in jenem Moment, da meine Enttäuschung, dieses Jahr zu kurz gekommen zu sein in der Anzahl der Päckchen am größten wäre, würde meine Mutter sagen: Hach! ein Geschenk für Dich haben wir ja noch, das wartet aber draußen. Nichtsahnend würde ich den Eltern vor die Tür folgen, in der Straße der alte Geländwagen von Mamas Freundin mit Hänger und in der Einfahrt Maxi, in seinem dicken, flauschigen braunen Winterfell mit einer großen, roten Schleife um den Hals. Ich hätte ungläubig geguckt, zweifelnd, mein Glück nicht fassen könnend und hätte mein Pferd – mein eigenes Pferd! – umarmt und meine Nase in die Mulde zwischen Kopf und Ohren vergraben und den einzigartigen Duft nach Pferd, Stall und Mist eingeatmet und sicherlich geweint vor Freude. Maxi, der Spielverderber, hätte bei solchen Zärtlichkeiten vermutlich unwillig den Kopf hochgeworfen und mich dabei von den Füßen gefegt, aber mir wäre alles gleich gewesen: ein Mädchentraum wahr geworden.
So wäre es vielleicht gekommen, hätte Maxi nicht eine Woche vor Weihnachten die Tochter ebenjener Freundin in der Halle vor aller Augen abgeworfen und offensichtlich gezielt über den Haufen gerannt, etliche Knochenbrüche bei seiner Reiterin hinterlassend. Von da an war Maxi im Stall equus non gratus, alle Verträge und Vereinbarungen wurden rückgängig gemacht, kurz nach Heiligabend war Maxi weg. Ich bekam zu Weihnachten Bücher, sicherlich, CDs, irgendwas zum Basteln. Aber kein eigenes Pferd.

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Freitag, 5. Februar 2010
Ich lese...
... wahllos alles, was mir vor die Augen kommt. In diesem Fall alles, was fett markiert ist. Manchmal auch Müll, den aber eigentlich immer nur von Freunden geliehen, oder auf Reisen in Hotels gefunden oder ähnliches. Einige allerdings nur angelesen. Zuerst gefunden bei Frau Arboretum.

1. Der Herr der Ringe, JRR Tolkien Drei Mal, davon zwei Mal auf Englisch.

2. Die Bibel

3. Die Säulen der Erde, Ken Follett

4. Das Parfum, Patrick Süskind

5. Der kleine Prinz, Antoine de Saint-Exupéry


6. Buddenbrooks, Thomas Mann Zwei Mal, ein drittes Mal wenn ich noch mehr graue Haare haben werde.

7. Der Medicus, Noah Gordon

8. Der Alchimist, Paulo Coelho

9. Harry Potter und der Stein der Weisen, JK Rowling
Alle, auf Englisch. Zweites Mal für depressives Phasen reserviert, wenn mir jede Ablenkung recht ist.

10. Die Päpstin, Donna W. Cross

11. Tintenherz, Cornelia Funke

12. Feuer und Stein, Diana Gabaldon

13. Das Geisterhaus, Isabel Allende

14. Der Vorleser, Bernhard Schlink

15. Faust. Der Tragödie erster Teil, Johann Wolfgang von Goethe


16. Der Schatten des Windes, Carlos Ruiz Zafón

17. Stolz und Vorurteil, Jane Austen
Alle gelsen, alle auf Englisch, alle geliebt. Geht immer, und immer wieder.

18. Der Name der Rose, Umberto Eco

19. Illuminati, Dan Brown

20. Effi Briest, Theodor Fontane

21. Harry Potter und der Orden des Phönix, JK Rowling


22. Der Zauberberg, Thomas Mann

23. Vom Winde verweht, Margaret Mitchell


24. Siddharta, Hermann Hesse

25. Die Entdeckung des Himmels, Harry Mulisch

26. Die unendliche Geschichte, Michael Ende


27. Das verborgene Wort, Ulla Hahn

28. Die Asche meiner Mutter, Frank McCourt

29. Narziss und Goldmund, Hermann Hesse

30. Die Nebel von Avalon, Marion Zimmer Bradley Peinlich. Kommt nicht wieder vor.

31. Deutschstunde, Siegfried Lenz

32. Die Glut, Sándor Márai

33. Homo faber, Max Frisch

34. Die Entdeckung der Langsamkeit, Sten Nadolny


35. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Milan Kundera

36. Hundert Jahre Einsamkeit, Gabriel Garcia Márquez
Sehr geliebt.

37. Owen Meany, John Irving

38. Sofies Welt, Jostein Gaarder
Fürs Referat in der Schule mit fünfzehn.

39. Per Anhalter durch die Galaxis, Douglas Adams

40. Die Wand, Marlen Haushofer


41. Gottes Werk und Teufels Beitrag, John Irving

42. Die Liebe in den Zeiten der Cholera, Gabriel Garcia Márquez


43. Der Stechlin, Theodor Fontane

44. Der Steppenwolf, Hermann Hesse
Auf Empfehlung eines Kollegen, dem ich das gar nicht zugetraut hätte.

45. Wer die Nachtigall stört, Harper Lee

46. Joseph und seine Brüder, Thomas Mann

47. Der Laden, Erwin Strittmatter

48. Die Blechtrommel, Günter Grass

49. Im Westen nichts Neues, Erich Maria Remarque

50. Der Schwarm, Frank Schätzing


51. Wie ein einziger Tag, Nicholas Sparks

52. Harry Potter und der Gefangene von Askaban, JK Rowling

53. Momo, Michael Ende


54. Jahrestage, Uwe Johnson

55. Traumfänger, Marlo Morgan

56. Der Fänger im Roggen, Jerome David Salinger
Schullektüre in den USA - gehasst. Ich mochte die Sprache nicht, überhaupt nicht.

57. Sakrileg, Dan Brown

58. Krabat, Otfried Preußler

59. Pippi Langstrumpf, Astrid Lindgren

60. Wüstenblume, Waris Dirie


61. Geh, wohin dein Herz dich trägt, Susanna Tamaro

62. Hannas Töchter, Marianne Fredriksson

63. Mittsommermord, Henning Mankell

64. Die Rückkehr des Tanzlehrers, Henning Mankell


65. Das Hotel New Hampshire, John Irving

66. Krieg und Frieden, Leo N. Tolstoi
In vierzehn Tagen in den USA in einer nachtschwarzen Phase - heißgeliebt.

67. Das Glasperlenspiel, Hermann Hesse

68. Die Muschelsucher, Rosamunde Pilcher

69. Harry Potter und der Feuerkelch, JK Rowling

70. Tagebuch, Anne Frank

71. Salz auf unserer Haut, Benoite Groult


72. Jauche und Levkojen , Christine Brückner

73. Die Korrekturen, Jonathan Franzen

74. Die weiße Massai, Corinne Hofmann

75. Was ich liebte, Siri Hustvedt

76. Die dreizehn Leben des Käpt’n Blaubär, Walter Moers

77. Das Lächeln der Fortuna, Rebecca Gablé


78. Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran, Eric-Emmanuel Schmitt

79. Winnetou, Karl May
Und nicht nur das: auch sämtliche Hornblower Bände. Und alle O'Brians.

80. Désirée, Annemarie Selinko Kein Buch habe ich öfter gelesen, kein Buch hat mich an mehr Orte begleitet. Mehr als zwanzig Mal bestimmt.

81. Nirgendwo in Afrika, Stefanie Zweig

82. Garp und wie er die Welt sah, John Irving

83. Die Sturmhöhe, Emily Brontë


84. P.S. Ich liebe Dich, Cecilia Ahern

85. 1984, George Orwell

86. Mondscheintarif, Ildiko von Kürthy Grauenvoll. Peinlich. Abzuraten.

87. Paula, Isabel Allende

88. Solange du da bist, Marc Levy

89. Es muss nicht immer Kaviar sein, Johannes Mario Simmel

90. Veronika beschließt zu sterben, Paulo Coelho

91. Der Chronist der Winde, Henning Mankell

92. Der Meister und Margarita, Michail Bulgakow

93. Schachnovelle, Stefan Zweig

94. Tadellöser & Wolff, Walter Kempowski

95. Anna Karenina, Leo N. Tolstoi

96. Schuld und Sühne, Fjodor Dostojewski

97. Der Graf von Monte Christo, Alexandre Dumas

98. Der Puppenspieler, Tanja Kinkel


99. Jane Eyre, Charlotte Brontë

100. Rote Sonne, schwarzes Land, Barbara Wood

Noch zu lesen: viel zu viel.

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Dienstag, 19. Januar 2010
Schuß fahren
Ich bin kein mutiger Mensch. Ich habe Angst vor Horrorfilmen, ungesicherten Höhen, und auch vor schnellem Tempo, wenn kein Autokäfig um mich herum ist. Sollte Sie das jetzt wundern bei jemandem, der freiwillig im Kongo war: Kinshasa ist völlig ungefährlich und kein Ausweis besonderen Mutes.
Ich war noch ein Teenager als meine Eltern meinten, die sportliche Bildungslücke namens Skifahren schließen zu müssen und mich im Winter in die Alpen verfrachteten. Zu alt für den Kinderkurs, zu jung für den Erwachsenenkurs, quälte ich mich eine Woche lang entsetzlich auf zwei Brettern den Idiotenhügel hinunter. Überhaupt meinte das Schicksal es nicht gut mit mir, der von Freunden geliehene Schneeanzug war eine Scheußlichkeit sondergleichen und jenen einen Tag, den ich mich mit der Gruppe auf eine richtige Piste wagte, fegte mich jemand beim Kreuzen der Liftstrecke vom Teller und mir die Skier von den Füßen. Ich irrte minutenlang – mich einsam in der Wildnis wähnend – mit den Skiern in der Hand hin und her, bis die Gruppe mich auf der Abfahrt wieder einsammelte. Den Rest der Woche verbrachte ich ausschließlich auf dem Idiotenhügel zwischen Halbwüchsigen und verabscheute die ganze Angelegenheit, einzig die köstliche Schweizer Schokolade morgens beim Bäcker tröstete mich über die Qualen hinweg, die ich in diesem Urlaub erleiden mußte.

Jahre später entschied der erweiterte Freundeskreis, ein anderes Alpenland zum Skifahren aufsuchen zu wollen und ich mußte wider Willen mittun, um nicht die größte und längste Party meiner Studienzeit zu verpassen. Ich legte mir schicke Skikleidung zu, in der ich wenigstens optisch kein Malheur auf der Piste mehr sein würde und wappnete mich fürs Schlimmste. Erstaunlicherweise war ich dieses Mal trotz aller Defizite in der Körperkoordination den blauen Pisten schon nach zwei Tagen gewachsen, insbesondere jener Abfahrt von der Hütte hinunter, wo sich alle mittags und spätnachmittags zur Pause trafen. Allerdings: der Lift führte nur auf einen ersten Gipfel, von wo aus man ein kurzes Stück abwärts und dann noch etwas weiter aufwärts zur Hütte auf einem zweiten Gipfel fahren mußte – vernünftigerweise die Abfahrt im Schuß nehmend, um auf der anderen Seite hochzugleiten. Ich jedoch – traute mich nicht. Stets wartete ich geduldig auf der Kuppe, bis niemand mehr in Sichtweite war, der mir hätte in die Quere kommen können, kurvte dann vorsichtig in kleinen Bögen den Abhang hinunter und arbeitete mich sodann auf der anderen Seite mühsam wieder hoch, einen Skier nach dem anderen. Zweimal täglich rutschte ich vorsichtig aus dem Lift, stand am Rande der Abfahrt und fixierte die andere Seite, sehnsüchtig die anderen eleganten Skihaserln bewundernd, die grazil das kleine Stück hinunter- und auf der anderen Seite mühelos wieder hochrauschten, aber unfähig, es ihnen nachzutun. Drei Tage lang marterte ich mich, wollte so gerne und traute mich nicht. Einen Knoten im Bauch, hin- und hergerissen zwischen Wollen und Bedenken, rutschte ich ein Stück vor an die Kante, rutschte zurück, rutschte wieder vor und wagte es doch nicht. Man versuchte, mir Mut zu machen, mich zu überzeugen, wie leicht mir das Schuß fahren fallen würde, redete mir gut zu, bot an, mich zu begleiten – ich aber blieb standhaft zaghaft und traute mich nicht, so gerne ich auch irgendwie und eigentlich wollte.
Beinahe war der Urlaub schon vorbei und ich zögerte und zauderte noch immer, ein ums andere Mal, als jemand sich meiner Zwiespältigkeit annahm, mir mittags auf die Kuppe folgte und nach kurzer, wie stets erfolgloser, Diskussion kurzerhand von hinten einen Schubs gab und mich feige Nuß endlich im Schuß den Hang hinunterschickte. Der Schnee knirschte unter den Skiern, ich kämpfte ums Gleichgewicht und sah mich schon blamabel hinfallen vor aller Augen. Erschrocken von der mir aufgezwungenen Courage und dabei froh, daß man mir die Entscheidung abgenommen hatte, ging es abwärts, so viel schneller als ich dachte. Mit klopfendem Herzen und in einer Welle von Adrenalin und Glück fegte mir der Fahrtwind um die Nase, während ich den Hang hinunter und auf der anderen Seite ach! so elegant wieder hinaufglitt – und es war großartig. Völlig unbegreiflich, warum ich nicht früher die Chance genutzt hatte, jede Sekunde genießend, stets mit ein bißchen Herzklopfen, weil es so schnell und so abwärts ging, verbrachte ich die verbleibende Zeit damit, vor Freude jauchzend Schuß zu fahren. Und konnte gar nicht genug bekommen von diesem Vergnügen.

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Montag, 4. Januar 2010
Sonntag in deutschen Bahnhöfen
Ich könnte jetzt eine Studie über die Kaffeequalität an diversen deutschen Bahnhöfen schreiben. Zwecks produktiver und bezahlter Arbeit für meinen Chef in Kinshasa – Abgabetermin 15. Januar – bin ich aus der Familienhölle an die Nordsee geflüchtet – leider jedes Mal eine entsetzliche Weltreise voller Hindernisse. Die ersten paar hundert Kilometer sind in diversen Regionalbahnen zu bewältigen, die an jeder Hundhütte halten, ungefähr vierzig Kilometer vor der Küste hat die Bahn jedoch das Schienennetz offenbar schon seit Jahren stillgelegt und so muß man in den Bus umsteigen. Aus jahrelanger leidvoller Erfahrung klug geworden, hatte ich eine viel zu frühe Verbindung rausgesucht und tatsächlich ersparte mir die Bahn, ganz umsonst zwei Stunden früher aufgestanden zu sein und kam schon beim allerersten Zug zu spät. Mit der Insel verbinde ich manche Erinnerung. Irgendwann während der ersten Studiensemester war ich alleine mit unserem Hund eine Woche dort zum lernen, schon nach wenigen Tagen jedoch begann der Hund zu kränkeln, auf der Rückfahrt kotzte er mir kurz nach der Abfahrt das Auto voll, das letzte Autobahnstück war Stau, ich nahm – zunehmend panisch wegen des kranken Tieres und des abartigen Kotzgestanks – die falsche Abfahrt, verfuhr mich auch noch und bei der Ankunft zu Hause war jeglicher Erholungseffekt wieder hin. Ein andermal war ich im Herbst mit meiner damals besten Freundin fünf Tage dort. Auf der Hauptstraße saßen die Kurgäste schon mit Schals und Mänteln und nippten Tee oder Nordseewelle, aber die Nordsee war mit siebzehn Grad Wassertemperatur gerade noch schwimmtauglich und so trabten wir täglich, angetan mit Bademänteln, an den frierenden Urlaubern in Cafés unter ihren Heizstrahlern vorbei zum Strand. Auch auf dem Rückweg, blaugefroren und mit Handtuch-Turban, amüsierten wir uns prächtig und waren stolz auf unsere Zähigkeit. Abend für abend kochten wir aufwendig, saßen mit Büchern vorm Kamin und leerten eine Flasche Martini bei Gesprächen bis in die Nacht. Einige Jahre später waren wir im Sommer noch mal gemeinsam dort, diesmal mit der gesamten Familie und diversen Freundinnen meiner Schwestern. Für die bevorstehenden zwei Wochen hatte ich nicht nur die allerschönsten Hoffnungen auf reichlich Parties und abendliche Aktivitäten im Gepäck, sondern auch entsprechend fast den gesamten Inhalt meines Kleiderschranks. Schon in einem der ersten Züge - einem dieser Doppeldeckerwaggons – brach der Griff und der Koffer purzelte die gesamte Treppe bis zur Tür hinunter und verlor dabei auch noch eines der Füßchen für sicheren Stand. Die Freundin war gleichermaßen schwer bepackt, unter anderem mit einer großen, bunten, steifen Tasche, aus Plastik geflochten und oben offen wie ein Korb. Darin neben allerlei Krams auch ihre Reitkappe und Verpflegung für die lange Fahrt. An einem der unzähligen Umsteigebahnhöfe stellte sie diese Tasche auf das Gepäckband an der Treppe hinunter und widmete ihre Aufmerksamkeit ihrem Koffer. Hinter ihr gehend sah ich, wie sich die Tasche in Zeitlupe über die Kante bewegte, an der das Gefälle des Gepäckbands begann, sich neigte, weiter neigte und über die Mitte hinaus immer weiter neigte. Während ich warnend zu schreien begann, überschlug sich die Tasche, fiel vom Band und verstreute ihren Inhalt auf der gesamten Treppe. Unter den schadenfrohen Blicken der Mitreisenden sammelten wir alles wieder ein, eilten zum nächsten Zug und stand irgendwann im letzten Kuhkaff am Bahnhof. Nachdem ich die Reise schon einige Male gemacht hatte, stellten wir uns zwischen Gleisen und Bahnhofsgebäude auf und warteten. Warteten. Warteten. Zwanzig Minuten nach planmäßiger Abfahrt des Buses stellte sich heraus: der Bus war allerdings pünktlich gefahren, nur leider ohne uns, von der frisch renovierten Haltestelle VOR dem Bahnhofsgebäude. Eine alte Dame teilte unser Problem und am Ende teilten wir uns ein Taxi bis zum Anleger, wo wir im letzten Moment noch das Schiff erreichten und zwischen plärrenden Kindern, Großfamilien in der Sommerfrische und krakeelenden Landschulheimgruppen Käse und Rotwein genossen mit den pappigen Brötchen, die wir an der letzten Bahnhofsgaststätte erworben hatten.

Sieht man davon ab, daß ich dank der morgendlichen Verspätung Gelegenheit hatte, an etlichen Dorfbahnhöfen in der Pause – nicht genug zum Hinsetzen, aber zuviel, um auf dem Bahnsteig zu stehen – scheußlichen Instant Kaffee zu trinken, habe ich die Fahrt genossen. Das Land wurde immer platter, die Wälder wurden Wäldchen, der Himmel wurde blauer, die Ortsnamen immer lispeliger und die Häuser immer weniger Mauern und immer mehr Dach. Nach Norden wurde die Strecke wieder vertrauter, die Käffer entlang der Strecke kenne ich noch von Autobahnschildern und als ich endlich im letzten Kuhkaff ankam, schien mir, als sei die Zeit stehengeblieben. Die Bahnhofsgaststätte ist von der Sorte, die an Wochenenden das soziale Zentrum der Dorftgemeinschaft darstellt: an den Tischen neben mir zwei alternde Pärchen in fester Winterkleidung, die während des Sonntagsspaziergangs eine Kaffeepause machten (Hölle, was für ein Leben, wenn das hier die beste verfügbare Lokalität am Wochenende darstellt). Zwischendurch kamen junge Männer vorbei für ein Sixpack Bier (nur 4,44 Euro!) oder eine Schachtel Zigaretten. Im Regal die übliche Zeitschriftenauswahl von Blitz Illu bis Bild der Frau, Würstchen im Brötchen und Kuchen mit Schokosplitter aus der Backmischung, auf der Theke ein buntes Sammelsurium zum Verkauf: Schneegläser mit Leuchttürmen drin, Pulswärmer mit Glitzerlurex und eine einsame Shisha samt Tabak, außerdem Amulette an Lederbändern, Muscheln eingeschweißt im Bastkörbchen und Weingummi stückweise. Die Bedienungen – drei an der Zahl – plauschten nett mit den Gästen, offenbar außer mir alles Stammgäste. Die Qualität der Brötchen immerhin hat sich sehr verbessert seit meinem letzten Einkauf dort. Auch wenn ich nie hier leben wollte, hege ich doch eine gewisse Sympathie für diese verschlafenen Orte, in denen Straßen so phantasivolle Namen tragen wie Hauptstrasse oder Im Gewerbegebiet, wo es den obligaten Inder-Italiener oder Italiener-Griechen für die fremdländische Küche gibt, drei verbliebene Einzelhändler und sonst nicht viel – dafür aber intakte soziale Strukturen und freundliche, bodenständige Menschen. Am Anleger traumhaftes Wetter und klare Sicht bis zur Insel, der Leuchtturm ein zwinkerndes rotes Auge, ein wunderbarer Sonnentuntergang, der sich neben den Schauspielen meiner kongolesischen Terrasse nicht zu verstecken braucht, eine kleine Handvoll verspäteter Urlauber mit an Bord. Ich hatte mich schon mental darauf eingestellt, mein kleines Köfferchen (hämischer Kommentar der Familie: es reicht, wenn du ein T-Shirt und eine Hose mitnimmst, da oben kannste eh nix machen und nicht ausgehen) aufgeben zu müssen, aber der freundliche Herr an der Gepäckaufgabe bot von selbst an, ich könne ihn mit an Bord nehmen. Die Hafenarbeiter pfiffen fröhlich, während die Kofferkarren an ihrem Kran durch die Luft schaukelten, der Kapitän auf dem entgegenkommenden Schiff grüßte den Kollegen von der Brücke herab – wie habe ich das alles vermisst!

Trotz der Einschränkungen freue ich mich auf eine Woche Ruhe – auch wenn meine Mutter prophezeit, daß mir nach zwei Tagen sterbenslangweilig sein wird. „Bis Anfang nächster Woche bekommst Du vielleicht wegen der letzten Silvesterurlauber noch eine Pommes irgendwo, aber danach?“ Ich bin aber optimistisch, ich werde auf dem Deich laufen gehen, meinen Gedanken nachhängen, dem Meer zuhören, lesen und – wohl oder übel – meine Arbeit machen. Ich werde Sie dann informieren, wenn sich hier den Dünen ein Sandkorn bewegt oder der Wind meine Mütze wegbläst – mehr wird es wohl nicht zu berichten geben.

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Sonntag, 3. Januar 2010
Ein Vorbild
Am Freitag Abend habe ich mich mit meinem alten Deutschlehrer getroffen, der prägenden Persönlichkeit meiner Schulkarriere. Ich schätze mich noch immer glücklich, seine Schülerin gewesen zu sein: was ich bei ihm über den Umgang mit Texten gelernt habe, hat mich durch mein gesamtes Studium getragen und nutzt mir noch heute. Gemessen an den Maßstäben seiner Familie ein mißratener Sohn aus traditionsreichen Bürgerhaus, war sein Bildungsweg durch diverse Studienfächer und Universitäten auf der ganzen Welt noch disparater als der meinige – und das will etwas heißen. Am Ende nötigte ihn die Familie, irgendein Fach zu Ende zu studieren und so wurde statt er einer Koryphäe seines Faches – welches Faches auch immer, er hätte sicherlich fast alles herausragend bewältigt – Gymnasiallehrer in der Provinz. Aber was für einer! Nie sah ich ihn anders als im dreiteiligen Tweed-Anzug in der Schule, stets waren seine Umgangsformen tadellos und als Lehrer suchte er seinesgleichen. Er mied die einschlägigen Texte des Kurrikulums so weit es irgend ging und las lieber abseitige, gerne zeitgenössische Romane mit seinen Klassen. Die siebte Stunde nutzte er über Jahre hinweg zu Buchvorstellungen durch die Schüler und ich fühlte mich sehr geehrt, als mir Sophies Welt übertragen wurde, aber auch Die Brautprinzessin – vorgestellt durch meine damalige beste Feindin und später beste Freundin – fand seinen Zuspruch und er hätte auch Comics aus Entenhausen enthusiastisch aufgenommen, wenn man es nur mit dem richtigen Anspruch verkauft hätte. Gleich, ob Goethe oder Frank Baer gelesen wurde – wir konnten alles behaupten im Unterricht, solange wir nur mit Textstellen argumentativ gut aufgestellt waren. Am bemerkenswertesten war jedoch sein unendlicher Einsatz für die Schüler: in zwanzig Jahren als Vertrauenslehrer legte er sich mit unzähligen Kollegen an, die Schülerrechte mißachteten, unnachgiebig kämpfte er um jeden Punkt und jede Note, er kümmerte sich besonders und auch über die Verrentung hinaus um ausländische Schüler mit Problemen, ebenso wie er sich behutsam der leistungsstarken Streber mit Beliebtheitsproblemen annahm. Die schwierigsten Chaotenklassen waren für ihn – nachdem er sie etwas besser kennengelernt hatte – reizende junge Leute und nie habe ich ihn über die verkommene Jugend von heute jammern hören – wohl aber über intellektuell schlampige Kollegen und das drittklassige Lehrpersonal nachfolgender Generationen. In intellektuellen und gesellschaftlichen Belangen in mancher Hinsicht von latenter Arroganz, war er doch eine Zierde seines Faches. Als ich ungefähr sechzehn Jahre alte war, äußerte ich die Absicht, Wirtschaft zu studieren und er erklärte damals nachdrücklich: „Damenwahl, Wirtschaft ist nichts für Dich, das ist nicht sinnstiftend... überleg Dir das noch mal.“ Was ich damals nicht recht verstand, ist mir seither oft durch den Kopf gegangen und so rufe ich immer an, wenn ich mehrere Tage bei meinen Eltern bin und lasse mich von ihm einladen. Entweder zu Tee mit Keksen und einem abschließenden Sherry, oder nach dem Abendessen zu Wein und Zigaretten. Stets nimmt er mir den Mantel ab und hängt ihn auf, ich überreiche mein Mitbringsel (meistens Wein oder Schokolade, diesmal jedoch ein Kompendium französischer Literatur, in Kinshasa gefunden). Während er in der Küche Wein oder Tee vorbereitet, trotte ich wie ein Hund hinter ihm her, richte die obligaten Grüße meiner Eltern aus, bevor wir uns setzen. Auf sämtlichen Tischen und Tischchen stehen identische Kristallaschenbecher mit Nickelrand, er nimmt Platz im Schaukelstuhl, ich habe mittlerweile auch einen Stammplatz und dann plaudern wir. In regelmäßigen Abständen nimmt er eine Schachtel filterlose Gauloises aus der silbernen Dose auf dem kleinen Beistelltisch, entnimmt eine Zigarette, steckt die Schachtel zurück, schließt die Dose wieder. Nimmt ein Feuerzeug aus einem silbernen Becher, gibt mir Feuer, zündet seine eigene Zigarette an und dann rauchen wir. Gemeinsam sitzen wir in seiner Junggesellen Wohnung zwischen antiken Möbeln, Stichen mit Zuchtpferden und einem Gemälde irgendeiner Schlacht der napoleonischen Kriege, zwischen zustaubenden Bücherstapeln, Zeitungsbergen - Frankfurter Rundschau, gegen Alterskonservativismus – und Silberbehältnissen und unterhalten uns. Über den Krieg in Afghanistan und die Integrität deutscher Politiker, über den Niedergang des Bildungswsesens im Allgemeinen und in unserem Provinznest im Besonderen, über seine Schul- und Studienzeit im Nachkriegsdeutschland, über Thomas Mann und die verschiedenen Übersetzungen von Tolstoi, über Patricia Highsmith und amerikanische Milieustudien ebenso wie über die Tagebücher vom Klemperer. Ich gebe mir große Mühe, nicht zuviel und möglichst kluge Dinge zu sagen, damit er nicht lange nach meinem Schulabgang seine gute Meinung von mir revidiert und lerne dabei bis heute jedes Mal etwas dazu.

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