Maxi
Ich war noch keine zehn Jahre alt, als ich irgendwas mit Pferden machen wollte. Voltigieren vielleicht, fragte ich meine Mutter. Da man von Pferden runterfallen konnte, fand dieser Gedanke anfangs gar keine Zustimmung und als letzte Rettung wurde ich vor die Wahl zwischen DLRG Schwimmen und Voltigieren gestellt. Voltigieren, beharrte ich, meine Eltern gaben nach und fuhren mit mir zum Reitverein. In lezter Minute überzeugte meine Mutter mich, doch lieber richtig zu reiten, vermutlich in der strategischen Absicht, von kleinen Ponys stürze man weniger tief. Ich erhielt meine erste Reithose und ein paar schwarze Gummistiefelchen, und verbrachte fortan jede freie Minute damit, einschlägige Pferdemädchen-Magazine zu studieren, im Reitsportladen Putzzeug, Decken und Reitkleidung sehnsüchtig zu bewundern und alles, wirklich alles über Pferde zu lernen. Mit mehr Begeisterung als Können arbeitete ich mich die Ponyhierarchie hoch, von den ganz kleinen zu den mittelgroßen und verbrachte zunehmend mehr Tage im Stall. Wie Ställe so sind war es kalt, zugig und immer irgendwie dreckig, meine Mutter – nicht willens, gute Kleidung ruinieren zu lassen – schickte mich stets in den ältesten Pullovern und abgerissensten Schuhen los, aber mir fiel das gar nicht auf. Mit mehr Ernsthaftigkeit als ich je in der Schule an den Tag gelegt hatte, lernte ich für das kleine Reitabzeichen, tapfer ertrug ich Stürze und Mißerfolge, das Mädchengezicke im Reitstall und brachte es sogar fertig, mich über einen vierten Platz bei einer Turnier Prüfung zu freuen, an der nur vier Reiter teilnahmen. Ich war vierzehn, als Maxi in mein Leben trabte. Maxi gehörte Freunden, die für ihre ambitionierten Töchter anständige Pferde suchten und er eroberte mein Herz sofort: er hieß nicht nur so wie mein geliebtes Stoffpferde, er sah auch so aus. Gerade richtig groß mit etwa 1,40 Stockmaß, dunkelbraun, Mähne und Schweif von etwas hellerer Farbe, mit hohen weißen Stiefeln und einer langen Blesse auf der Stirn.
Seit dem Tag, an dem meine Großeltern mir mein braunes Stoffpferdchen geschenkt hatten (ich weiß nicht: erinnere ich mich tatsächlcih noch an den Moment, als ich zu Füßen meiner Oma mit ihr mögliche Namen diskutierte, Pfanni oder Maxi, oder ist die Erinnerung geliehen, weil sie in späteren Jahren so oft davon erzählte), hatte ich keine Nacht mehr ohne Maxi verbracht, kein Urlaub, keine Reise, keine Übernachtung bei Freunden ohne meinen besten Freund. Und nun hatte ein gütiger Gott mir meinen liebsten Begleiter in lebendig geschickt. Zwischen mir und dem Glück standen jedoch etliche Hindernisse. Maxi – der echte – war ein charakterlich schwieriges Tier, er schnappte beim Putzen und beim Satteln, mochte nicht Stillstehen beim Aufsitzen und obendrein bewegte er sich lieber auf zwei als auf vier Beinen fort, sobald er einen Reiter trug. Seinen Einstand in der Reithalle gab er buckelnderweise quer durch die Länge der Bahn und ziemlich schnell wollte niemand mehr auf ihm reiten. Außer mir. Ich war beileibe keine glänzende Reiterin, aber in dieses Pferd war ich verliebt, in Gedanken war es mein Pferd vom ersten Tag an, und an Unerschrockenheit fehlte es mir nicht: bei erster Gelegenheit meldete ich Bedarf an. Und kam irgendwie mit ihm zurecht. Lammfromm war er nie, aber immerhin fiel ich deutlich seltener herunter als alle anderen und wir brachten jede Reitstunde mit einigem Anstand hinter uns. Mehr denn je investierte ich mein gesamtes Taschengeld in Pferdezeug und Leckerlis und begann, meine Eltern zu bearbeiten.
Sie hatten nie die Absicht gehabt, das Pferdevergnügen überhand nehmen zu lassen, aber meine grenzenlose Begeisterung für gerade dieses eine Pferd muß rührend gewesen sein. Gleichzeitig hatte ich auch begonnen, meinem Großvater zuzusetzen, auch wenn ich nicht ernsthaft erwartete, irgendjemanden weichklopfen zu können – der Reitsport gehörte definitiv nicht zu familiären Prioritäten.
Ohne mein Wissen nahmen meine Eltern in der Vorweihnachtszeit Verhandlungen mit Maxis Besitzern auf. Man einigte sich auf einen Vertrag, man einigte sich mit dem Reitstall auf Boxenmiete und allerlei technische Details und mein Vater und Großvater trafen finanzielle Vorbereitungen. Meine Mutter kaufte zwei Meter rotes Schleifenband und verabredete mit ihrer Freundin die Weihnachtsüberraschung. An Heiligabend würden wir wie immer in die Kirche zum Gottesdienst gehen, meine Großeltern würden da sein, wir würden gemeinsam essen und Weihnachtslieder singen. Die Schwester an der Geige, ich am Klavier, danach Bescherung. Wie stets würde mein Opa den schönsten aller Bäume für uns gefunden haben, deckenhoch und so voll und regelmäßig gewachsen, daß niemand – wie noch zu Vaters Kinderzeiten – Äste würde absägen und woanders einstecken müssen. Die golden schimmernden Kerzenhalter würden sich wie immer von den sattgrünen Zweigen abheben und die Schwester 2 würde wie immer die kleinen Holzfiguren von den Zweigen zum spielen stibitzen. Die Schwestern würden Lego und Puppenspielzeug auspacken, Bücher und Märchencassetten und in jenem Moment, da meine Enttäuschung, dieses Jahr zu kurz gekommen zu sein in der Anzahl der Päckchen am größten wäre, würde meine Mutter sagen: Hach! ein Geschenk für Dich haben wir ja noch, das wartet aber draußen. Nichtsahnend würde ich den Eltern vor die Tür folgen, in der Straße der alte Geländwagen von Mamas Freundin mit Hänger und in der Einfahrt Maxi, in seinem dicken, flauschigen braunen Winterfell mit einer großen, roten Schleife um den Hals. Ich hätte ungläubig geguckt, zweifelnd, mein Glück nicht fassen könnend und hätte mein Pferd – mein eigenes Pferd! – umarmt und meine Nase in die Mulde zwischen Kopf und Ohren vergraben und den einzigartigen Duft nach Pferd, Stall und Mist eingeatmet und sicherlich geweint vor Freude. Maxi, der Spielverderber, hätte bei solchen Zärtlichkeiten vermutlich unwillig den Kopf hochgeworfen und mich dabei von den Füßen gefegt, aber mir wäre alles gleich gewesen: ein Mädchentraum wahr geworden.
So wäre es vielleicht gekommen, hätte Maxi nicht eine Woche vor Weihnachten die Tochter ebenjener Freundin in der Halle vor aller Augen abgeworfen und offensichtlich gezielt über den Haufen gerannt, etliche Knochenbrüche bei seiner Reiterin hinterlassend. Von da an war Maxi im Stall equus non gratus, alle Verträge und Vereinbarungen wurden rückgängig gemacht, kurz nach Heiligabend war Maxi weg. Ich bekam zu Weihnachten Bücher, sicherlich, CDs, irgendwas zum Basteln. Aber kein eigenes Pferd.

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nnier, Montag, 8. Februar 2010, 13:45
Mir sind Pferde und das Reiten stets fremd geblieben. Zwar kann auch ich mich freuen, wenn ein braves Pferdchen oder Pony angeschlendert kommt und den großen Kopf freundlich neigt, um eine Möhre o.ä. in Empfang zu nehmen. Aber grundsätzlich habe ich vor diesen Tieren doch großen Respekt, und ich erinnere mich sehr dunkel an die ein oder zwei geführten Reitausflüge, die ich als Kind mitgemacht habe - es war interessant, aber auch äußerst gruselig, dieses riesige und starke Tier unter sich zu spüren und bang zu fragen, wer hier eigentlich wen führte. Brr.

Aber es gibt ja auch andere Menschen, z.B. ein kleines Mädchen, das ich sehr gut kenne und das auch mal reiten wollte. Sie bekam also Reitstunden, setzte sich tapfer und mutig auf den widerspenstigen Kasimir, machte alles richtig, kratzte eifrig Hufe aus, bürstete tapfer das Fell, sah glücklich aus, und selbst ein Abwurf und ein unerwarteter Tritt - nach Auskunft der Reitlehrerin hatte sie dennoch alles absolut richtig gemacht - konnten sie nicht davon abhalten, sich immer wieder begeistert aufs nächste Mal zu freuen und vom Taschengeld Möhren zu kaufen. Eine plötzliche Meinungsänderung der Ponybesitzerin sorgte für ein jähes Ende - wir durften nicht mehr kommen, da die Ponys mehrfach "durchgegangen" waren.

ilnonno, Montag, 8. Februar 2010, 15:27
Traurig und sehr rührend...

jean stubenzweig, Montag, 8. Februar 2010, 15:55
Ein VerGleichnis: Ich erhielt einmal, etwa um dieselbe Jahreszeit, einen lange, sehr lang gehegten Wunsch erfüllt, einen, der anderen Kindern längst gewährt worden war: einen Esel. Er stand, da es draußen, wie üblich in dem Land, in dem wir damals lebten, sehr, sehr kalt war, in unserer Wohnung. Nur dort durfte ich ihn reiten. Alle anderen Orte waren von der strengen Mutter strengstens untersagt (der sehr viel mildere Vater war, wie üblich, unterwegs), wahrscheinlich weil man hinunterstürzen oder sonstwas schreckliches geschehen konnte. Ich nutzte es weidlich, die Behausung war groß genug, es war mein weitees Land. Doch irgendwann war es mir nicht genug, und ich ritt verbotenerweise mit meinem Esel aus Draht hinaus in die verbotene Zone. Das hinterließ eisige Spuren, die sich im Stall verflüchtigten und nicht ausreichend beseitigt worden waren. Mit dem Ergebnis, daß der Esel aus dem Haus gewiesen wurde. Wahrscheinlich, weil er zuviel Dreck machte. Viele Jahre später verließ ich das Haus ebenfalls. Das erste, was ich mir kaufte im fernen Land, mit dem Geld vom Papa, war ein Esel. Einen aus Draht. Den ich erst einmal tagelang ritt. Wer von uns beiden hatte nun mehr Glück?

Keine Gedanken machen – dieser Sturz tut schon lange nicht mehr weh. Es war mir eben so aus der Erinnerung in die Tastatur gefallen.

damenwahl, Montag, 8. Februar 2010, 18:08
Lieber nnier, man darf natürlich nicht vergessen, wer am Ende der Stärkere ist, käme es zu einer Machtprobe - davon abgesehen gibt es wenig Schöneres, als im Sommer auf einem Pferd durch den Wald zu trotten.
Ach, lieber ilnonno, traurig war gar nicht beabsichtigt. Davon abgesehen nehme auch ich mir die ein oder andere künstlerische Freiheit und nicht alles, was hier steht, ist autobiographisch. Daher, geschätzter Herr Stubenzweig, weiß ich auch nicht, wer mehr Glück hatte. Aber ich kann gut verstehen, daß Ihr Esel Ihnen große Freude machte!

vert, Dienstag, 9. Februar 2010, 02:55
hier gab es immer von allem genug, aber geritten bin ich nie.
komische wesen sind das, wirklich.
pferdemädchen aber auch.

mark793, Dienstag, 9. Februar 2010, 10:36
@vert: Auch auf die Gefahr hin, einen mit der Genderklatsche verpasst zu kriegen: Das ist ja auch mehr was für Mädchen. ;-)

arboretum, Dienstag, 9. Februar 2010, 10:52
Ist so. Ich kannte auch solche Mädchen.

Meine ältere Schwester schrieb, kaum dass sie des Schreibens mächtig war, einmal auf ihren Weihnachtswunschzettel: "Ich wünsche mir einen Hund, eine Katze oder wenigstens ein Pferd."

mark793, Dienstag, 9. Februar 2010, 11:17
Wir hatten zwei so Pferdemädchen in der Klasse, bei denen der Fimmel auch über das 14. Lebensjahr hinaus anhielt. Das waren verhuschte Gestalten, die völlig in ihrer eigenen Welt lebten und an dem sonstigen Geschehen im Unterricht und in der Freizeit so gar keinen Anteil hatten. Die eine hat dank eines USA-Aufenthalts in der 11. Klasse die Kurve ins reale Leben noch gekriegt, aber von der anderen weiß man nicht, ob die je erwachsen geworden ist. Schaurig...

damenwahl, Dienstag, 9. Februar 2010, 12:23
Ach ja, Pferdemädchen kenne ich auch genug. Allerdings ist es doch erstaunlich, wie der internaitonale Turniersport dann von Männern dominiert wird. Ein Gender-Mirakel, sozusagen. Wo kommen die alle her, sieht man sie doch nie zwischen den kleinen Mädchen im Stall?
Es kann für manche ein echter Lebensinhalt sein und ich kenne einige, die ihre Lebensplanung daran ausrichten. Bei jener Freundin, die auf Bundesniveau Turniere ritt kann ich das allerdings besser nachvollziehen als bei der Nachbarstochter, die über zweite und dritte Plätze in der Regionalliga nie hinauskam.

zampano, Freitag, 12. Februar 2010, 06:35
Die vom Herrn Mark erwähnten Mädchen werden tatsächlich nicht erwachsen - jedenfalls nicht im üblichen Sinne. Stattdessen flitzen sie direkt von der Schule in die Uni, wo sie einen Großteil der 90% weiblichen Studentinnen der Tiermedizin ausmachen und selbst nach dem Abschluss Mitte zwanzig erschreckend wenig über die "Aussenwelt" erfahren haben.

Aber schön erzählte Geschichte.

damenwahl, Freitag, 12. Februar 2010, 17:38
Danke, danke. Von den Mädchen könnte ich auch einiges berichten zum Thema regionale Verbundenheit - andererseits: wenn sie damit glücklich werden, sollen sie doch.

jean stubenzweig, Donnerstag, 11. Februar 2010, 14:36
Ein wenig hatte ich auch beizutragen zum Reitsport selbst und seinen Mädchen. Aber da «ein wenig» bei mir immer doch gerne ein bißchen mehr ist, bin ich Ihnen, liebe Damenwahl, sozusagen fremdgegangen.