Sonntag, 14. Februar 2010
Erinnerungen auf Papier
Ich habe mich gestern einer, obwohl vergnüglichen, doch lange aufgeschobenen Aufgabe gewidmet und Fotos eingeklebt. Zweihundert Bilder von Pyramiden, Wüste, und ägyptischem Verkehrschaos, dazwischen Bekanntschaften aus aller Welt und natürlich ich. Wenn ich nicht wenigstens gelegentlich die Kamera Fremden in die Hand drücke und mich selbst fotografieren lasse, ist meine Mutter enttäuscht, das ist also Pflicht. In einer Mischung aus verstocktem Anachronismus, Festhalten an Familientraditionen und Pedanterie habe ich meine Bilder stets in Fotoläden auf der ganzen Welt getragen und entwickeln lassen, gebe gutes Geld für große Alben aus und klebe alles hübsch ein, sammele auch Eintrittskarten und Bahntickets und versehe die Seiten mit Anmerkungen und Beschreibungen.
Ich muß etwa acht oder zehn Jahre alt gewesen sein, als meine Eltern mir eine für heutige Verhältnisse riesige kleine, rote, grau abgesetzte Olympus Kompaktkamera schenkten, die mich bis 2006 treu begleitete, in ferne Länder wie auch in provinzielle Universitätsstädtchen. In 2005 hatte ich meinem damaligen Liebsten zum Geburtstag einen Tag mit seinen Lieblingstieren – Tapiren – im Zoo geschenkt und begegnete am Eingang einem kleinen Jungen mit dem gleichen Modell, allerdings in grau mit rot abgesetzt. Ich zog meine Kamera hervor und erklärte: guck, die habe ich auch, aber meine ist rot und schöner. Er erwiderte beleidigt, daß seine selbstverständlich schöner sei und wir trennten uns ohne Einigung. Danach war die Kamera noch mit mir in Marokko und schenkte mir um Längen bessere Bilder als die teuren Digitalmodelle diverser Besucher, das allerdings war das Ende unserer langjährigen Beziehung – kurz danach ging nichts mehr. Ich probierte diverse Digitalkameras aus, wurde der Schrecken der lokalen Fotofachhändler, wenn ich nach wenigen Tagen die Kameras mit Probebildern zurückbrachte und einwandfrei zeigen konnte, daß meine alten Bilder vom Film qualitativ besser waren. Am Ende kaufte ich eine gebrauchte APS Kamera im Internet für lächerliche 15 Euro, die mich nach Ägypten begleitete. Inzwischen besitze ich auch noch eine wunderbare Spiegelreflexkamera, mit der ich kaum umgehen kann, die aber sogar meine Idiotenfehler verzeiht und mich mit schönen Bildern beehrt, deren ordnungsgemäße Archivierung auf Papier mein nächstes Projekt ist. Künstlerischen Wert können meine Bilder – wie Sie vermutlich schon gemerkt haben – nicht beanspruchen, alle Baudenkmäler und malerischen Aussichten dieser Welt sind schon tausend Mal von besseren Fotografen als mir für die Nachwelt festgehalten worden und da ich meist allein reise, bin ich auch eher selten vor den fraglichen Sehenswürdigkeiten auf den Bildern zu sehen. Trotzdem mache ich fleißig Fotos, obwohl ich fotografieren eigentlich gar nicht mag. Im besten Fall hat es etwas lächerlich Touristisches, im schlechten wirkt man wie ein Voyeur und in jedem Fall zieht man – gerade abseits der Sehenswürdigkeiten – Aufmerksamkeit auf sich, was ich ebenfalls nicht mag. Ich arbeite aber nicht nur pflichtschuldigst Denkmäler ab, ich fotografiere auch den verhungerten Esel auf der Straße, den Schuttberg auf dem Souk, und die bunt eingefärbten Küken auf dem Markt. Ich möchte auch das Ungewöhnliche, sogar das Häßliche und Traurige festhalten und wenigstens jene Menschen, die ich näher kennenlerne. Bei Unbekannten traue ich mich nicht, auch wenn es da viel zu bewahren gäbe. Ich tue das nicht für meine Eltern mit ihren bescheidenen Ansprüchen, hier würde ein schönes Bild von mir am Strand reichen, um der Mutterliebe zu genügen. Noch viel weniger tue ich es, um nach der Heimkehr Freunde und Bekannte stundenlang vor das Album oder den Rechner zu zwingen und in einer Tour de Force endlos von Anekdoten und Errungenschaften zu berichten. Ich fotografiere für mich, für mich ganz allein.

Irgendwann werde ich alt sein und meine grauen Haare nicht mehr zählen noch ausreißen können, ich werde dann vermutlich mit einer jämmerlichen Rente in einer kleinen Wohnung sitzen an einem Ort, der auf der Liste meiner Wunschdestinationen nicht eingeplant war. Ich werde zu klapprig sein, um selbst mit Rollator den Weg zum Lebensmittelladen bewältigen zu können und die moderne Kommunikation wird mich mit Lichtgeschwindigkeit auf der rechten Spur überholt haben, während ich mit den weit entfernt lebenden Weggefährten meiner unternehmungslustigen Jahre in traurigen e-Mails vergangenen Zeiten nachhängen werde. Damals, als wir noch jung und dynamisch waren... .
Wenn es so weit ist, werde ich mich an meine Bilder denken, die Fotoalben herausholen und mich erinnern. Werde milde lächeln beim Gedanken an kindliche Sorgen während der Schulzeit, wie bedeutsam mir Nichtigkeiten schienen, wie wunderbar sich gefühlte Katastrophen in Wohlgefallen auflösten. Werde noch einmal die Aufregung des ersten Langestreckenflugs spüren, die Erwartung gegenüber dem Fremden, die Neugier und Naivität der Jugend, die ich mir hoffentlich so lange wie möglich bewahren werde. Vor allem aber werde ich stundenlang die Bilder von Marokko und Ägypten, von New York und Kinshasa und all den Orten, an denen ich noch leben möchte, studieren und mich über mein eigenes Leben wundern. Die Weite der Wüste wird so unendlich fern sein von den Beschränkungen meiner kleinen Wohnung, die Trümmer und das Chaos von Kinshasa werden wie aus einer anderen Zeit wirken. Ganz gleich, ob Afrika bis dahin auf die Füße gekommen ist oder endgültig zum vergessenen Kontinent wurde, ich werde zurückdenken, wie ich heute nicht weiß, was die Zukunft bringen wird, aber irgendwann wird sie da sein und ich werde vergleichen können – meine Erwartungen, und was wirklich kam.
Und wenn ich so in meinem Sessel sitze, die Füße in eine Wolldecke gewickelt, sabbernd und Tee aus einer Schnabeltasse nuckelnd, werde ich hoffentlich befinden, daß mein Leben gut war. Daß ich so viel möglich gesehen , so viel wie möglich gemacht habe, keine Chancen ausgelassen, keine Reise verpasst habe. Ich werde das schimmernde Perlmuttblau des Himmels über Kinshasa mit dem eisigen Stahlblau des Himmels über den Alpen vergleichen und mich daran erfreuen, beides gesehen zu haben. Nicht nur auf Bildern und in Filmen, nicht nur touristisch auf der Durchreise sondern so richtig. Egal wie kosmopolitisch der Mensch auch sein mag, als Tourist oder Besucher fällt er immer auf und bleibt ein Fremdkörper auf den Straßen – von der Sorte, die von fliegenden Händlern und Straßenkindern umlagert und bekniet wird. Je fremder das Land, desto unmöglicher ist es, jemals mit dem Leben dort zu verschmelzen, aber wenn man eine Weile bleibt, sich niederläßt, einen Ort zu Hause nennt, und die Sprache lernt, kommt der Tag, an dem man immerhin ein unauffälliger, geduldeter Beobachter werden kann. Man steht am Straßenrand und kann in Ruhe zusehen, ist gesättigt mit Touristischem und offen für den Alltag und die Kleinigkeiten und das ist das Beste, was man erwarten kann. Dann beginnt man, nicht nur touristische Sehenswürdigkeiten und präsentable Anekdoten für die Daheimgebliebenen zu sammeln, sondern Erinnerungen für sich selbst. Momente, die man nie mit jemandem teilen wird. Man legt die Kamera beiseite und versucht nicht, das Unsichtbare, Einmalige zwanghaft einfangen zu wollen, sondern genießt den Moment und speichert die Bilder auf der Festplatte im Kopf, nicht auf dem Chip in der Kamera. Und hat im Alter ein Geflecht aus Brücken über die Abgründe des Lebens. Die gelebten Ereignisse werden mir irgendwann ein schmaler Steg zu den verpassten Gelegenheiten und Enttäuschungen sein, die ich nirgendwo festhalten konnte. Die papierenen Bilder werden solide Steinbogen sein zu jenen Momenten, die nur in meinem Gedächtnis existieren. Von den Personen und Sehenswürdigkeiten der Bilder werde ich mich wie an Seilen zu Gesprächen und Gefühlen hangeln können, die ich vergessen glaubte. Und alles zusammen wird ein Schatz an Erinnerungen sein, der mir über die langen Jahre der Vergreisung und zunehmender Einsamkeit hinweghelfen wird. In meinem nachlassenden Gedächtnis werden die Orte, Menschen und Ereignisse langsam im Nebel verschwinden, aber die Fotos werden meine Brücke sein und mir lebhafter und unmittelbarer als jedes geschriebene Wort in Erinnerung rufen, daß es bessere Zeiten gab, daß ich mein Leben genutzt habe, so gut ich irgend konnte, solange ich konnte.

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