Montag, 18. Januar 2010
Bagatellen
Ich war schon wieder in der Bahn. Bistro-Wagen, wie gewöhnlich. Ich reserviere nie einen Sitzplatz, totale Verschwendung. Nur sehr selten ist im Bistro-Wagen kein Platz mehr frei, ich habe reichlich Raum für mein Gepäck und für die 2,50 Euro erhalte ich nicht nur den Sitzplatz sondern auch noch einen Kaffee – dringend notwendig nach durchfeierter Nacht. Ein junger und ein älterer Mann betreten den Wagen, kaufen zwei Becher Kaffee und setzen sich mir gegenüber. Auffällig starren sie mich an, als hätte ich grüne Hörner auf dem Kopf – womöglich noch Schlimmeres –, während sie an ihren Bechern nippen. Zwei ältliche Damen kommen heren, die eine in weißen Fellstiefeln, die andere in blauen Socken. Socken!
Ich gebe zu, auf langen Flügen habe ich immer dicke Socken dabei und auch in der Bahn – bei sehr sehr langen Fahrten – mache ich das gelegentlich, aber: ich laufe damit nicht von meinem Sitzplatz bis in den Bistro-Wagen. Niemals.
Der jüngere der beiden Männer mir gegenüber spielt mit seinem Becher und schnickt dabei das Plastikstäbchen zum Umrühren in hohem Bogen über den Tisch auf dem Boden. Der Blick, mit dem er dem Malheur folgt, verrät deutlich, daß er keinerlei Absicht hat, das Stäbchen aufzuheben. Ich bin in Oberlehrer-Stimmung und schieße ihm einen vernichtenden Blick auf die gegenüberliegende Bank und umgehend bückt er sich und hebt das Stäbchen auf. Geht doch.

Ansonsten: Schmelzwasser ist eklig. Matsch auch. Und diese feuchte Kälte auch. Deutschland ist so trübselig im Tauwetter. Will heim in die Sonne, oder wenigstens ein Buch und ein Bärenfell vor einem Kamin mit heißem Tee, oder so.

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Freitag, 15. Januar 2010
Arbeiten - oder auch nicht
Für mich war der Arbeitsalltag in Kinshasa wenig spektakulär. Wer etwas auf sich hält als Arbeitgeber, schafft sich einen starken Generator und eine eigene Satellitenschüssel fürs Internet an und ist damit von all den alltäglichen Unwägbarkeiten dieses Landes abgekoppelt. Mein Mitbewohner, bei einer kleinen kongolesischen NGO arbeitend, war regelmäßig schon um zwei oder drei Uhr nachmittags zu Hause, weil es im Büro keinen Strom gab – das kongolesische Äquivalent von Hitzefrei, das mir leider nie zuteil wurde. Ähnlich wie seinerzeit im tunesischen Raumschiff war ich immer in der privilegierten Situation, das Umfeld zumindest hinsichtlich der Hardware ausblenden zu können. Weniger Glück haben die geschätzten 59 Millionen Kongolesen, die keine feste, sozialversicherungspflichtige Stelle in einem der großen Unternehmen oder beim Staat haben.

Der in Deutschland sprichwörtliche Taxifahrer mit Doktortitel in Philosophie ist hier Realität. Im Gespräch mit den Wachleuten vorm Haus kann man lernen, daß sie angesichts der katastrophal hohen Arbeitslosigkeit froh sein können, für 100 USD im Monat das Haus bewachen zu dürfen, im Hof zu schlafen, in der Abwasserrinne ihre Zähne zu putzen, auf Campingkochern ihren Reis kochen und hinter den Autos ihre Wäsche zum Trocknen aufhängen zu können, denn eine angemessen Stelle für einen diplomierten Ingenieur ist ein unrealistischer Wunschtraum. Trotz des Aufschwungs im Minensektor – der durch die Finanzkrise einen deutlichen Dämpfer erhalten hat – kann das nicht verwundern. Erstens haben die großen Staatsunternehmen eher zuviele als zuwenig Mitarbeiter und stellen kaum ein, zweitens bringen die ausländischen Joint Venture Partner lieber ihre eigenen Ingenieure mit und drittens reicht ein Besuch der staatlichen Universität von Kinshasa aus, um zu begreifen, warum das so ist.

Die Universität könnte eine der schönsten der Welt sein, gleichauf mit der Pepperdine University in Los Angeles oder der Idylle am Cam. Der Campus liegt hoch über der Stadt auf einem Hügel, erstreckt sich großzügig über die gesamte Kuppe und bietet eine fantastische Aussicht über Stadt und Fluß. Das Gelände ist weitläufig, breite Schotterpisten könnten großzügige Boulevards sein, Professorenhütten könnten Professorenvillen sein und statt der schäbigen Gemüsestände und Telefonkartenverkäufer unter ihren zerfetzten Sonnenschirmen könnte man sich nette Cafés und flanierende Studenten vorstellen. Die Wohnheime waren möglicherweise vor vierzig Jahren architektonisch state of the art - heute möchte man in solchen Baracken nicht einmal mehr Tiere hausen lassen, aber die in den Fenstern aufgehängte Wäsche und Bettlaken zeugen von studentischen Bewohnern. Dem Lernen zuträglich wäre es sicher, würde der Regen nicht bei jedem Schauer in kleinen Teichen in den Fluren stehen. Möchte man sichergehen, für mehrere Stunden ununterbrochen Strom zu haben, muß man einen Generator mieten. Während die deutsche Universität sich von papierhaften Aushängen zunehmend verabschiedet, sind selbige hier ein Ausweis vorbildlichen Organisationsgrades einer Fakultät. Stundenpläne sind als Papierkärtchen in Steckbrettern einsehbar. Die Labore sehen aus wie in einem Katastrophenfilm aus den siebziger Jahren, nachdem die Bombe explodiert ist. Hier werden also statische Messungen von Baumaterialien ausgeführt? Und nebenan befindet sich das Nuklearforschungszentrum, auf das Kongolesen so stolz sind wie die Amerikaner auf die Mondlandung und die Russen auf den Sputnik? Wer es sich leisten kann, schickt die Kinder lieber auf die deutlich besser instandgehaltenen privaten Universitäten oder gleich ins Ausland. Davon abgesehen scheint jeder zu wissen, daß ein Abschluß von der staatlichen Universität entweder von außerordentlichem Durchhaltewillen zeugt, oder aber von tiefen Taschen und enormer Bereitwilligkeit zu allerlei Gefälligkeiten – jedenfalls ist er kein Beleg für eine solide Ausbildung.

Wer die Universität gesehen hat, wundert sich nicht mehr, daß Bewerber für administrative Posten in der Wirtschaft manchmal kaum wissen, was eine Bank eigentlich tut. Beauftragt man einen Absolventen der besten, privaten Universität des Landes mit fünf Jahren universitärer Ausbildung im Gepäck damit, detaillierte Protokolle zu verfassen, erhält man eine wörtliche Abschrift des Gesprächs – mit sämtlichen Fragen und Antworten, garniert mit Füllwörtern und Höflichkeiten. Bittet man ihn, einen Termin zu vereinbaren, darf man nicht damit rechnen, daß er sich im Vorfeld kundig macht, wo genau dieser stattfinden soll und wie lange die Anfahrt dauert – was schön illustriert, warum Verspätungen die Regel und nicht die Ausnahme bei Terminen ist. Überhaupt wird er im Zweifelsfall eben nicht mehr als notwendig machen. Man könnte sagen: er macht soliden Dienst nach Vorschrift – aber auch nicht mehr. Er kommt um acht oder neun, macht von zwei bis vier Mittagspause, geht zwischen sechs und sieben – das in einem Büro, wo viele die Mittagspause vorm Bildschirm verbringen und nicht vor acht oder neun Uhr abends heimgehen.

Andererseits ist der Absolvent um seine Position nicht zu beneiden: eine Stelle als administrativer Angstellter mit Universitätsabschluß wird in vielen Unternehmen mit kaum 400 Dollar im Monat entlohnt, genug für ein bescheidenes Auskommen, aber kein Anreiz für jemanden, der auch genauso gut zu Hause bei den leidlich vermögenden Eltern seinem Privatvergnügen nachgehen könnte. Berufserfahrung und Aufstiegschancen sind damit ohnehin nur verbunden, wenn man gleichzeitig jemanden kennt, der einen dem Chef andienen kann – Leistung alleine reicht jedenfalls nicht. Junge Leute, die man aufgrund ihrer Position und Verantwortung in Deutschland wohl als High Potential bezeichnen würde, entstammen vorwiegend den alten, einflußreichen Familien. Vor diesem Hintergrund fällt jungen Leuten aus gutem Elternhaus die Wahl meist leicht und sie bewegen sich lieber irgendwo im Schattenreich semi-formeller Selbständigkeit als im Korsett der Anstellung. Import-Export von Fahrzeugen, Import-Export von irgendwas anderem, Transportunternehmen mit ein oder zwei kleinen Lastwagen, oder Schwarztaxi und Botendienste auf Anfrage für ausgewählte Privatkunden – der Möglichkeiten gibt es viele und solche Optionen (wenn sie von der Familie finanziert werden) bergen immerhin eine Chance für Erfolg und Wohlstand aus eigener Kraft – während eine Position im großen Unternehmen sich nur lohnt, wenn man Beziehungen hat. Vorteil einer festen Stelle ist allenfalls der Zugang zur firmeneigenen Gesundheitsversorgung (Krankenversicherungen gibt es selbstverständlich nicht) und bestenfalls sogar firmeneigenen Schulen für die kleinen Kinder, falls der Arbeitgeber groß genug ist, mit derlei Leistungen in die Pflicht genommen zu werden. Die Sozialversicherung? Altersabsicherung? Eine zu vernachlässigende Größe. Die Rente ist lächerlich gering und im Zweifel muß man für deren Barauszahlung in der Filiale auch noch den Schalterbeamten bestechen. Die Berufsunfallversicherung? Selbständige Beitragszahler wissen oft nicht einmal, daß sich aus der Beitragszahlung Rechte ableiten, viel weniger welche Art Rechte.

Schwieriger ist die Situation für jene, deren Familien ihre Kinder nicht unbegrenzt aushalten können. Familienväter sparen sich oft die Ausbildung der Kinder – von der Grundschule bis zur Universität kostet alles Geld – vom Munde ab, in der Hoffnung, die Kinder mögen irgendwann mehr erreichen als eine subalterne Position als Fahrer oder Arbeiter. Wie bitter muß es sein, am Ende der langen Ausbildungszeit festzustellen, daß die erhoffte Zukunft ein Traum ist? Und der Junge am Ende doch nur als Wachmann ohne nennenswerte soziale Absicherung in einem schäbigen Innenhof wohnt, sich die Miete für ein Zimmer im Quartier Populaire für 15 USD im Monat zwar leisten könnte, aber niemals das Geld für die sechs Monatsmieten Kaution wird zusammensparen können? Angesichts solcher Umstände nicht zu verzweifeln, nicht die Hoffnung aufzugeben und morgens unverzagt jedem Hausbewohner einen fröhlichen Gruß zukommen zu lassen - das ist möglicherweise das Beeindruckendste, was das Land zu bieten hat.

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Donnerstag, 14. Januar 2010
Noch mehr Bahn
Ich reise ja gerne. Und im Moment viel. Montag Abend bis neunzehn Uhr lag ich mit meiner Aufgabenliste für den Tag gut in der Zeit (obwohl ich morgens eine Stunde lang das Auto freischippen mußte, das sich im Tiefschnee festgefahren hatte), um zwanzig Uhr als ich geistig schon im Schlafmodus war, noch mal zehn Mails und Probleme, die mich bis Mitternacht beschäftigten.
Dienstag morgen um kurz nach sieben in die Bummelbahn gestiegen, um zwanzig vor Acht folgende Durchsage: „Meine Damen und Herren, bitte beachten Sie, daß unsere planmäßige Abfahrtszeit an diesem Ort um 7h49 ist.“ Der Motor wurde abgestellt, die Innenbeleuchtung reduziert und in der Stille hörte man die Heizung knacken. Leicht irritierte Fahrgäste erwachten aus ihrem Halbschlummer, schauten aus dem Fenster: nichts. Links nur verschneite Landschaft, rechts ein verschneiter Bauernhof. Kein Bahnhof, kein Häuschen, keine Lichter, keine Schilder. Unfassbar aber wahr, um pünktlich 7h48 sprang der Motor wieder an und es ging weiter.
Am nächsten Bahnhof dann der Anschluß zehn Minuten verspätet, nicht wirklich überraschend. Nach fünf Minuten auf dem Gleis rauschte eine einsame Trieblok an uns vorbei, eine Fahne Puderschnee hinter sich herziehend und kehrte weitere fünf Minuten später mit dem gesamten IC zurück, wie es sich gehört. Die Reisegeschwindigkeit und der Zwischenstopp berechtigten zu den schönsten Hoffnungen, die Verspätung wieder aufzuholen und meinen Anschlußzug im Palast der Winde doch noch zu erreichen. Zur planmäßigen Ankunftszeit verkündete der Schaffner die frohe Botschaft: sämtliche Anschlüsse würden warten. Vorerst allerdings warteten wir, wieder einmal mitten auf der Strecke. Zehn Minuten um einen ICE passieren zu lassen. Ein paar Meter weiter warteten wir erneut, in rascher Folge rauschten ein Regionalzug und ein Gütertransport an uns vorbei. Vor der Einfahrt ins Gleis warteten wir erneut und hatten am Ende dreißig Minuten Verspätung.
In all meinen Jahren mit der Deutschen Bahn habe ich selten wirklich nettes Zugpersonal erlebt. Ich wurde aus den Bistro-Wagen rausgeschmissen wenn ich nichts kaufen wollte, habe unzählbare Stunden wartend auf zugigen Bahnsteigen verbracht, und mit Schaffnern gerungen über die Frage vergessener Bahncards, umgeschriebener Tickets und verpasster Anschlußverbindungen. Für mehr als vier Stunden Verspätung in zwei aufeinanderfolgenden Reisen innerhalb von vier Wochen wurden mir seinerzeit 20 Euro Erstattung angeboten bei über 100 Euro Ticketpreis. Ich habe durchaus nette Schaffner vorbildlicher Kundenorientierung erlebt – allerdings nie, wenn ich selbst betroffen war.
Vor gut einem Jahr hatte ich mich ganz bewußt von zwei möglichen Zügen für den späteren, langsameren Anschluß ohne Umsteigen entschieden. Die etwas frühere Verbindung war so verspätet, daß es de facto einem Ausfall gleichkam und entsprechend voll war mein Zug. Im Bistro-Wagen neben mir saß ein ältlicher, magerer Herr mit großer Brille, großem Aktenkoffer und einer Zeitschrift über Insekten, in der ihn vor allem der Artikel über rote Waldameisen brennend zu interessieren schien. Als das Mitr*pa Personal zum Tisch abräumen kam, war er ernsthaft enttäuscht, hier keine Fahrplan-Auskünfte erhalten zu können und freute sich um so mehr, als der richtige Ansprechpartner in Person eines dicklichen, gemütlichen Schaffners endlich aufkreuzte. Der Schaffner suchte dem Fahrgast in vorbidlicher Manier Verbindungen heraus, notierte Gleise und gab sich überhaupt alle Mühe, die sich zum Schluß in Former einiger Getränkegutscheine fürs Bistro manifestierte.
Ich also: „Ich habe ja heute nicht zu klagen, dieser Zug ist ja pünktlich, aber es ist doch schön zu sehen, daß es in Krisenzeiten bei der Bahn auch freundliches Personal gibt. Immer wenn ich in verspäteten Zügen sitze, sind die Schaffner nur unfreundlich, ungeduldig und nicht einmal annähernd so hilfsbereit. Getränkegutscheine, sogar. Habe ich noch nie erlebt!“ Ich überreichte mein Ticket und der Schaffner - unter bedeutungsvollem Augenzwinkern - so: „Junge Frau, Sie wollten doch bestimmte auch den früheren Zug nehmen und sitzen jetzt hier mit Verspätung, nicht wahr? Ich gebe Ihnen dann auch mal zur Entschädigung einen Gutschein.“ Wir wußten natürlich beide, daß ich keineswegs im anderen Zug hätte fahren wollen, das ging aus meinem Ticket deutlich hervor. In fünfzehn Jahren als treue Bahn-Kundin habe ich mehr Tief- als Höhepunkte erlebt, aber bei allem Elend: es gab sie, die Höhepunkte.

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