Mittwoch, 2. Dezember 2009
Manieren - in mehr als einer Hinsicht
Erste Anzeichen von Übermüdung: wer bis abends um zehn oder elf arbeitet, kann morgens nicht um sechs schwimmen gehen – ich komme einfach nicht mehr hoch, trotz allen guten Willens. Ich hoffe auf heute Abend, vor der Abschiedsfeier einer Freundin, um die acht Riesen-Shrimps vom Vorabend zu kompensieren.
Der schöne Franzose hatte darauf bestanden, daß ich mit ihm und seinen Kollegen essen gehe, einer der Kollegen wolle mit mir über ein gemeinesames Fachgebiet und meine Erfahrungen im Kongo sprechen. Wir teilten uns auf zwei Autos auf, kaum waren wir angekommen, entschied sich das andere Auto für eine andere Destination, und am Ende saßen wir alle im Roi de Cossas. Auch wenn ich nur mäßig hungrig war, sind Shrimps in Knoblauchöl dort definitiv das Gericht der Wahl, und am Ende hatten acht von neun Personen um den Tisch herum Cossas vor sich stehen. Sieben von acht Personen hatten außerdem Lätzchen um den Hals – ich hingegen weigere mich konsequent, weiße Tücher umgebunden zu bekommen und verlasse mich auf meine gute Kinderstube. In aller Arroganz bin ich der Meinung: Cossas könne man wahrhaftig noch manierlich essen, ohne die Hälfte auf dem Hemd zu verteilen. Bisher ist es mir auch noch immer gelungen, mich nach der Mahlzeit unbeschadet vom Tisch zu erheben, so daß ich mich in meiner Meinung bestätigt sehe.
Zum Ende des Abends wurde es unerfreulich: einer der Kollegen hatte offenbar das bestellte Essen nicht erhalten – dafür etwas anderes? – und wurde, nach Kaffee oder Dessert gefragt, laut und unangenehm. Überaus verärgert lehnte er ab, beschwerte sich über das nicht servierte Essen, explodierte geradezu – das mag daran gelegen haben, daß ich die Vorgeschichte verpasst hatte. In jedem Fall wurde er sehr unangenehm, sehr unsouverän, sehr bösartig und sehr herrisch.
Und nun muß ich gestehen: ich bin letzte Woche auch einmal ausgerastet. Neben Bergen von Arbeit, der Suche nach einer Unterkunft für die letzten Tage hier nach Ende meines Mietvertrags, und endlosen Problemen mit meinem Fahrer (zu spät, nie da, verschwindet mitten im Tag, kommt morgens mit leerem Tank etc.) war meine Geduld so überstrapaziert, daß ich vor der Tür laut geworden bin. Im Nachhinein tat es mir leid, aber erst gestern – im Vergleich mit diesem sagenhaft herrischen, unangenehmen Typen – ist mir bewußt geworden, wie unschön mein Verhalten wirklich war. Habe mir fest vorgenommen, mich für den Rest der Woche von keiner Unannehmlichkeit mehr aus der Ruhe bringen zu lassen. Der Himmel möge hier zusammenbrechen, ich werde freundlich lächeln und souverän alles Ungemach über mich ergehen lassen.
So wie es aussieht, kann ich damit gleich anfangen: draußen stürzen Sintfluten vom Himmel und ich habe um zehn einen Termin mit einem Unternehmer, der schlimmstenfalls nicht einmal ein Dach überm Kopf hat.

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Montag, 30. November 2009
Unerwartet gut
Der Sonntag begann mit dem üblichen Stromausfall, kein Kaffee, keine Rühreier, kein Toastbrot, dafür eine völlig versiffte Küche (nicht abwaschbar, weil ohne Strom keine Wasserpumpe), eine Ameisenstraße entlange der Krümel der Mitbewohner vom Vorabend und ein ganz schlechter Start in den Tag im Hause Damenwahl. Mangels Alternativprogramm habe ich um elf die Bücher auf der Terrasse ausgepackt und gearbeitet, bis ein freundlicher Besucher sich mittags zu mir in den Elfenbeinturm begab (acht Stockwerke in völliger Dunkelheit, besser als bei Rapunzel im Märchen). Obendrein ergab sich daraus das Nachmittagsprogramm: ein Ausflug zu Chez Tintin.
Beim Verlassen des Hauses begegneten wir im Hinterhof der Familie, die das Döner Kebab betreibt, ein kleiner Junge führte drei Zicklein an der Leine und erklärte uns, welches die Mama und der Papa und das Kind der Familie Ziege seien.
Zu Chez Tintin wollte ich ja eigentlich schon vor zwei Wochen, was aber durch mangelnde Ortskenntnis meines Chauffeurs verhindert wurde – dafür war es gestern umso schöner. Eine halbe Stunde flußabwärts beginnen die ersten Stromschnellen, das Wasser schäumt und spritzt an die Wand unter der Terrasse, auf der man hübsch sitzen kann und es rauscht wie das Meer im Urlaub an der See. Dienstbar Geister brachten einen Sonnenschirm, kalte Limonade und nach einiger Zeit auch Liboke – Fisch in Palmenblättern und Pili-Pili Sud gegart. Das Pili-Pili ist so scharf, daß man sich um die Reinlichkeit der Küche keine Gedanken zu machen braucht und trieb mir die Tränen in die Augen (ebenso wie die unzähligen Gräten im Fisch), aber Pili-Pili hat im Gegensatz zu Pfeffer oder Chili nicht nur Schärfe, sondern einen deutlichen Eigengeschmack und der Liboke war besser als im Restaurant um die Ecke.
In der Regenzeit überschwemmt der Fluß die noch etwas tiefer gelegene überdachte Terrasse, wo Kinder im Wasser planschten, während wir auf unserer Terrasse zwischen pseudo-römischen Säulenstummeln aus grauem Beton saßen und die Aussicht auf die Inseln und das Ufer genossen. Zwischendurch passierten zwei Boote einander unter lautem Gejohle direkt unter uns, ein paar Jungs in Sporthosen und leuchtend-bunten Polyesterhemden mit Angeln kamen vorbei, und ein Mann mit verkrüppeltem Bein schleppte sich ohne erkennbares Ziel durch die Brandung. Einige Meter stromaufwärts nahm die hübsche Idylle Schaden durch einen metallenen Steg mit Häuschen drauf – hier holt die Wasserbehörde das Wasser aus dem Fluß und jetzt weiß ich auch, warum das Wasser in der Dusche immer leicht bräunlich ist: nicht ich bin so dreckig, sondern das Wasser ist nicht gut genug gefiltert.
Bei der Heimkehr hing Familie Zicklein geschlachtet vom Dach der Unterstände für die Autos, drei Leichen baumelten nebeneinander und der Besitzer des Dönerladens war mit einem großen Messer zugange. Etwas zu spät eigentlich fürs Hammelfest – Eid war doch schon Freitag? – aber was weiß ich schon von muslimischen Feiertagen. Der Strom ging wieder an, kaum daß ich mich acht Etagen zu Fuß hochgekämpft hatte und nach Einbruch der Dunkelheit bin ich schwimmen gegangen. Auf dem Grill im Hof, wo Familie Dönerkebab sonst ihre Brochette grillt, lag ein halbes Ziegenfell und es stank die bis spät nachts ganz erbärmlich (selbst in meinem Turm), aber schwimmen in der Dunkelheit nach einem heißen Tag ist herrlich. Das Wasser ist morgens direkt aus der Bettwärme heraus kalt und taugt gut für Tage mit Katerstimmung, aber abends ist es warm und fühlt sich auf der sonnenverbrannten Haut so angenehm weich und samtig an, daß es ein Genuß ist. Die Fliesen sind noch sonnenwarm unter den Füßen und das Gras ist weniger stachelig – die Palmen rascheln leicht und die Grillen zirpen. Aus der Paillote nebenan zieht der Duft von Gegrilltem herüber und am Himmel sieht man Sterne und den Mond hinter den Wolken – als hätte jemand eine Decke über eine Lampe gelegt. Manchmal sieht man Vögel, die vom Licht von unten angestrahlt werden und sich wie silberne Motten gegen den Nachthimmel abheben und dann ist dieses Land einfach wunderschön und man kann sich nur verlieben und möchte für immer bleiben.

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Sonntag, 29. November 2009
Theater und Krippe
Diese Stadt überrascht einen immer wieder: es gibt in Kinshasa Theater. Nicht die feudalen Paläste, in denen die Oberschicht ihre feinen Kleider ausführt und Sekt in der Pause schlürft, sondern kleine Centre des Arts, versteckt in den Seitengassen der ärmeren Viertel außerhalb von Gombe. In einem länglichen Hinterhof von der Größe einer Einfahrt waren einfache Plastiktische vor einem schmalen Podest aufgebaut, vier gerichtete Theaterlampen, ein Buffett für die Gäste. Wir waren um kurz nach sieben viel zu früh dort, vertrieben uns die Zeit mit einem Bier und beobachteten junge Mädchen dabei, wie sie für die eintreffenden Gäste weitere Tische aufbauten. Von den anwesenden Gästen waren allenfalls die Hälfte Kongolesen, der Rest alternativ angehauchte Expatriates. Ein junger Mann in einem Schlafanzug Anzug mit lokalpatriotischem Muster (afrikanische Landkarten) sprach einführende Worte, stellte die Autorin des Werkes vor und dann ging es los: Kongolesen im Flugzeug auf dem Weg nach Paris, Kongolesen beim Streit im Taxi, Kongolesen in einer boite, Kongolesen auf der Straße, Mädchen im Geplauder beim Haare einflechten ... Szenen des Alltags, angereichert mit kritischen Anmerkungen zum Zustand des Landes, Einfluß der Industrieländer, Wohl und Wehe von freien Wahlen, und garniert mit gelegentlichen Seitenhieben auf die politische Elite. Die letzte Szene spielte wiederum im Flugzeug, zum Schluß verließen alle fünf Passagiere eilends die Maschine, um ihr Glück im gelobten Land Europa zu suchen. Mein Französisch ist immer noch zu schlecht, als daß ich alle Feinheiten verstanden hätte, aber allein die offensichtliche Spielfreude der Darsteller war ein Vergnügen. Es war beeindruckend zu sehen, wie die Mädchen im einen Moment in heller Freude lachten und tanzten und dabei so umwerfend hübsch und lebendig aussahen, und im nächsten die personifizierte Traurigkeit darstellten, daß ich glaubte, sie würden umgehend in Tränen ausbrechen. Nach der Vorführung stellten sich alle Darsteller namentlich vor, wir klatschten eifrig, kaum hörten wir auf, verbeugten sie sich, dann wurde wieder geklatscht. In den zehn Dollar Eintritt war ein kongolesisches Buffett inbegriffen, ich hatte Glück und konnte mir ein halbwegs mageres Stück Hühnchen angeln. Für die weitere Abendplanung war ich zur Party bei Médecins sans Frontières eingeladen, wo mein umtriebiger Mitbewohner den DJ gab, aber am Ende sind wir statt dessen im La Crèche gelandet. Im Stadtteil Matonge, also etwas ausserhalb gelegen, gibt es auf der Dachterrasse im dritten Stock eines billigen Hotels live Musik, Bier, widerliche Toiletten und reiche Einblicke ins kongolesische Sozialleben. Um die Terrasse herum glühten die Spitzen der Telefonantennen von Vodacom und Zain, am Hotel gegenüber vermittelten Lichterketten in Palmenform afrikanisches Weihnachtsgefühl und von unten zog der Duft einer Bäckerei in unsere Nasen. Schon die fünfköpfige Band war sehenswert: ein Gitarrist in verschossenem braunen Anzug mit verrutschter orange-metallic glänzender Krawatte bediente sein Instrument kunstvoll mit glimmender Kippe im Mund, der Drummer beherrschte diese Fähigkeit ebenfalls und handhabte geplatzte Trommeln wie auch scheppernde Becken mit viel Verve. Bei einem kurzen Ausflug auf die Tanzfläche erfragte der Sänger meinen Namen und flocht diesen danach in jedes zweites Lied ein – ich wünschte irgendwann, ich hätte Waltraud oder Heidrun zur Antwort gegeben, dann wäre mir diese Exposition vielleicht erspart geblieben. Auf der Tanzfläche bewegte ein einsamer Soldat in Uniform rhythmisch die Hüften (und im Gegensatz zu Europäern sehen Kongolesen dabei cool aus), ihm gegenüber wand sich eine magere, verhärmte, schon etwas ältere Kongolesin wie eine Bauchtänzerin. Auf dem Kopf einen Stummelschwanz von Zöpfchen – und zwar wirklich beinahe auf dem Kopf, nicht am Hinterkopf – mit einem überdimensionierten Glitzerhaargummi, schien sie meist alleine völlig zufrieden mit sich und ihrem Tanz. Neben etlichen jüngeren Pärchen, die Mädchen oft in westlicher Kleidung, gab es ein älteres Paar in den Vierzigern, er in gepflegter Bürokleidung, sie in einem giftigroten zweiteiligen Kostüm ebenfalls ausgehfein – vermutlich Kunstfaser Direktimport aus China – und die Art, wie sie ihre Hand flach auf seine Brust legte und die beiden tiefe Blicke tauschten beim Tanzen sprach Bände: ein in die Jahre gekommenes Ehepaar (hoffe ich), das sich begehrt. Schöner Anblick. Das skurrilste Pärchen des Abends jedoch (abgesehen von uns paar Weißnasen-Elefanten zwischen all den afrikanischen Gazellen) waren ein spindeldürrer junger Hänfling von Mann in einem weiten, westafrikanischen Gewand aus silberglänzendem Polyester mit buntem Käppi auf dem Kopf und eine kongolesische Matrone dreifachen Ausmaßes in lokaler Tracht. Trotz des beträchtlichen Körperumfangs der Dame, bewegte sie sich mit einer Eleganz, gleichzeitig beherrscht und doch entspannt der Musik hingegeben, daß man als Europäer nur neidisch sein kann. Obwohl die beiden den größten Teil des Abends gemeinsam tanzten, wirkten sie doch seltsam distanziert und weniger vertraut und entspannt miteinander als die übrigen Gäste. Überhaupt die ganze Atmosphäre in einem solchen Club ist anders als in seinem europäischen Pendant, es scheint auf unbestimmte Art ein Wir-Gefühl zu geben. Auf Clubs und Parties westlicher Prägung läuft die Musik stets durch, aber sobald sie der Gruppe nicht mehr zusagt, leert sich die Tanzfläche nach und nach, während die einzelnen Paare und Tänzer sich zurückziehen. In der Crèche brauchten die Musiker natürlich gelegentlich eine Pause, aber selbst zwischen den Liedern bewegten sich alle Gäste stets in dieselbe Richtung: entweder die Tanzfläche war voll, oder sie war leer und getanzt wird entweder das ganze Lied oder gar nicht. Die Musiker waren nicht externe Dienstleister, sondern Teil der Festivität und alle schienen irgendwie zusammenzugehören, auch wenn es klar getrennte Gruppen an den Tischen gab. Auf der anderen Seite der Terrasse war die Aussicht bis Ma Campagne wunderbar, allerdings überlagerte der intensive Uringeruch der Toiletten selbst die Rauchschwaden der Bäckerei und nahm der Seitenterrasse jegliche romantische Stimmung. Eigentlich steht mir der Sinn im Moment eher nach europäischem Eskapismus, aber es war trotzdem ein interessanter Abend außerhalb der Wohlstandsseifenblase von Gombe, und auch das hat etwas Befreiendes.

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Donnerstag, 26. November 2009
Neue Kleider
Ich trinke Bailey's, die Mücken trinken mich, aber was tut man nicht alles, wenn der Chef Wünsche hat.
Plan A war, den Arbeitstag um acht Uhr zu beenden und mit einem riesigen, sündhaft teuren, aber überaus europäischen, unkongolesischen Brett Sushi und einem Film im Bett zu verschwinden, und mein Heimweh zu pflegen. Ja, wir haben jetzt Sushi in Kinshasa und jeden Mittag stehe ich verlangend vor dem Regal, aber ich sehe nicht ein, 25 Dollar hastig in der Mittagspause vor dem Rechner zu verzehren und denke: heute Abend. Abends ist dann leider alles Sushi ausverkauft und ohnehin bekomme ich gegen sechs Uhr eine Mail "Please call me asap" von meinem Chef und damit ist der gemütliche Abend ohnehin Vergangenheit, ohne jemals Realität gewesen zu sein.

Immerhin habe ich mir heute zwei Stunden Zeit genommen, mit einer Freundin Schneiderin C. zu konsultieren. Wie bereits berichtet, gibt es hier nichts zu kaufen, kein Z*r*, keine Schweden, keine Läden mit CC Logo. Es gibt aber Tuchverkäufer (Direktimport aus China) und Schneiderinnen.
Mein erster Versuch beim vorigen Aufenthalt war ein mäßiger Erfolg: das Hemdblusenkleid sitzt so weit, daß ich noch viele Kilometer schwimmen müßte, um die Schulterweite eines Ringers zu erreichen, der Rock war dafür reichlich knapp bemessen. Handwerklich allerdings gab es nichts zu beanstanden, der Rock ist nämlich noch nicht geplatzt an den Nähten. Noch mehr beeindruckte mich allerdings, daß ich bei Abholung des Kleides das Geld nicht passend hatte und Schneiderin C. beim Abholen des Rockes einige Tage später freiwillig Rückgeld anbot - ein seltener Lichtblick. Jetzt also der zweite Versuch - diesmal den gewünschten Schnitt fotografiert und wenn alles gut geht, habe ich demnächst drei maßgeschneiderte Kleider. Wenn alles schief geht, habe ich 50 USD in den Sand gesetzt und tätige Entwicklungshilfe geleistet.
In der Zwischenzeit male ich mir aus, wie ich in Kürze auf durch und durch europäischen Parties stehe und der Prinzessin neue Kleider ausführe, keine Eiswürfel in den Wein tun muß und abends nach Hause laufen kann.

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Dienstag, 24. November 2009
Die Straße - und wer alles nicht verantwortlich ist
Manches in diesem Land kann man nicht verstehen. Anderes schon. Die Schwierigkeiten, ein Land von der Größe Westeuropas mit Millionen Quadratkilometern undurchdringlichen Urwalds mit einem vernünftigen Straßennetz auszustatten, bedürfen keiner Erklärung. Die Schwierigkeiten hingegen, die Hauptstadt des Landes, wirtschaftliche Kapitale und Wohnsitz eines geschätzten Sechstels der Bevölkerung mit befahrbaren Straßen auszustatten, sind schwer zu begreifen. Das Zentrum politischer Aktivität – Gombe – mit seinen Botschaften, Banken und Repräsentanzen und das Industriegebiet Limete sind über die Straße Route des Poids lourds - annähernd dem Flußlauf folgend - verbunden. Poids lourds ist ungefähr so breit wie eine drei- bis vierspurige Straße zuzüglich schottriger Seitenstreifen, Fahrbahnmarkierungen wären dem Charme des Entwicklungslandes abträglich.



Auf der Mitte jeder wesentlichen Kreuzung steht ein rundes Podest (ähnlich dem des Löwendompteurs im Zirkus) mit Dach darüber, drum herum mindestens drei vier Polizisten die dem Maître de Traffic Gesellschaft leisten und helfen, den Verkehr zu regeln – oder zumindest einen Versuch unternehmen. Das System, dem sie dabei folgenden, erschließt sich nicht leicht, in jedem Fall gelingt es ihnen, endlose Warteschlangen zu produzieren.

Poids Lourds folgend Richtung Flughafen N’Djili passiert man etliche quartiers populaires, schäbige Hütten und kleine Stände, aus Wellblech, schiefen Holzlatten und mit Steinen beschwerten Planen improvisiert und den wasserfallartigen Sturzfluten der Regenzeit vermutlich nicht gewachsen. Am Straßenrand haben Frauen zwei Handvoll Tomaten und drei Bündel Karotten als Marktware ausgelegt, in den kleinen Restos sitzen die Männer und nippen endlos lang an einer einzigen Flasche Primus. Die Straße ist gesäumt von Abwasserkanälen, in denen vor lauter Müll nichts mehr abfließt, zwischendurch aufgebockte Autos zur Reparatur, alle paar Meter eine Quado Station. Erkennbar an vier bis fünf aufeinandergestapelten Autoreifen (eignet sich auch als Abstellfläche für fliegende Händler, die dort Sandwiches belegen und verkaufen), bestenfalls ein handgemaltes Schild, ein Wasserbassin, eine Luftpumpe, ein paar alte Gummischläuche und Klebstoff – damit läßt sich hier jeder Platten beheben. Später passiert man auf Poids Lourds das Areal der Altholz- und Altmetallverkäufer. Hochkant aufgerichtet in undurchschaubarem Chaos Holzlatten und Spanplatten in einem Areal, verrostete Tore, Wellblechplatten und Stangen im nächsten. Ein Rätsel, wie die Verkäufer ihre Ware auseinanderhalten und ihr Eigentum voneinander abgrenzen, denn alles sieht nach einem großen Durcheinander aus, aber vermutlich gibt es ein System und man kennt sich.



Allenthalben überholt man junge bis mittelalte Männer, die die hier typischen Handkarren schieben. Die Karren haben nur eine Deichsel, darauf lagernd eine Kiste für den Stauraum, aber an jedem Ende ein Gestänge zum Schieben (ähnlich wie bei Kinderwagen, nur zweimal). Mit dieser raffinierten Bauart gelingt es erstens, mehr Fässer oder Säcke aufzuladen und festzubinden (unter Ausnutzung beider Gestänge durchaus zwölf Fässer à 250 Liter Fassungsvermögen) und außerdem kann man den Wagen zu zweit leichter bewegen: einer schiebt, einer zieht. Ein seltener Anblick in diesem Land: zwei Personen, die am gleichen Strang ziehen.

Außerdem überholt man die blau-gelben Minibusse mit ihren weißen Nummern auf rotem Grund. Nun darf man nicht annehmen, die Nummern hätten irgendeine Bedeutung – jeder Minibusbetreiber sucht sich eine Nummer aus, die ihm gefällt und malt sie auf alle vier Seiten des Busses. Manchmal verschreibt sich jemand, dann steht auf einer Seite TB KIN 003 4578 und auf der anderen TB KN 0034578. Der Minibusbetreiber legt ein Schild vorne in die Windschutzscheibe mit Angabe der Strecke, sein Conveyeur hängt stets mit einem Arm und dem halben Kopf aus dem Seitenfenster, sammelt Passagiere ein, nimmt das Fahrgeld entgegen, gestikuliert mit den übrigen Verkehrsteilnehmern und gibt notfalls auch den einsteigenden Fahrgästen einen letzten Schubs, damit die seiteliche Schiebetür wieder zugeht. Wenn er Glück hat, kann er nach einigen Jahren einen eigenen Minibus erwerben (möglicherweise Import aus Deutschland vom Handwerkerbetrieb „Deutsche Gründlichkeit“ in 8902 Kleinkleckersdorf) und sich selbständig machen. Ganz besonders hübsch sind die fantasievollen Namen mancher dieser Kleinbetriebe – da steht dann „Bonne Confidance“ oder „Action Hitler“ vorne auf der Windschutzscheibe.* Die Busse halten in regelmäßigen Abständen am Straßenrand, umständlich werden Gäste ein- und ausgeladen, oftmals mit dicken Säcken oder Bündeln als Gepäck, sowieso ist ein- und aussteigen immer ein schieben und drängeln, bis mehr Gäste in den Bus den gequetscht sind, als die Gesetze der Physik vermuten ließen. Das hält natürlich den Verkehr auf und drei Busse hintereinander zu überholen, erfordert halsbrecherischen Mut. Wenn dann noch ein LKW die halbe Straßenbreite blockiert, wird es richtig eng, aber wer will schon das Frachtgut weiter als notwendig schleppen, wenn man unbeschadet mitten auf der Straßen stehen kann? Die Polizisten schließlich sind zumeist damit beschäftigt, die Fahrer der großen, teuren Importautos zu schröpfen und interessieren sich wenig für halbverrottete Schrotthaufen mit Transportfunktionalität.

Verkehrsbehindernde Verkehrsorganisierende Polizisten und Schiebewagen, haltende Minibusse und zu beladende LKWs – das alles gehört zu den unvermeidlichen alltäglichen Hindernissen, mit denen man leben muß – denen man aber immerhin ein gewisses Verständnis entgegenbringen kann. Ganz anders der Zustand der Straße: Direkt am Anfang von Poids Lourds, wo das Business und Botschaftsviertel Gombe und die ersten Ausläufer des lebhaft-bunten Stadtteils Kingabwa ineinanderfließen, gilt es drei Hindernisse zu überwinden.
Erstens gibt es dort ein Schlagloch über die gesamte Breite der Straße, von der Tiefe eines mittleren Gartenteichs, samt dazugehöriger Steindekoration – der Effekt ist ähnlich wie der einer umgekehrten Bodenwelle zur Verkehrsberuhigung in deutschen Spielstraßen, nur rollt man hinein und nicht darüber hinweg. Zweitens kreuzen halb versandete Bahngleise die Straße – dennoch eine Herausforderung für die meisten Fahrzeuge. Und drittens folgt ein Straßenabschnitt ohne Asphalt, für einige hundert Meter verkommt die Straße zur Schotterpiste, faustgroße Steine und Dreck, mit passenden scharfen Abbruchkanten und in der Regenzeit platschenden Tümpeln von Brackwasser. Selbst Geländewagen bremsen an diesen drei Stellen auf Schrittempo und nehmen die Hindernisse mit einem seitlichen Schlenker – , nahezu schrottreife Klapperkarren, überladene Minibusse und altersmüde Auflieger mit Container hingegen kriechen geradezu voran über diese zweihundert Meter Hindernisstrecke. Beinahe ganztags bilden sich folglich von beiden Seiten Staus, die je nach Tageszeit und Verkehrsaufkommen 15 bis 40 Minuten Wartezeiten bedeuten.

Nun ist Poids Lourds keine kleine Seitenstraße, sondern eine der wichtigsten Verkehrsadern Kinshasas. Diesseits – von Gombe aus betrachtet – liegen Botschaften und Banken, Büros und diplomatische Vertretungen, Residenzen, Expatriate Villen, fast alle nennenswerten Restaurants, sämtliche Läden mit Waren für den persönlichen Bedarf des entwicklungshelfenden Europäers wie auch der kongolesischen Kleptokratie sowie fast alle Supermärkte für diese Klientel. Jenseits der Hindernisse von Poids Lourds liegen der Flughafen N’Djili, wo alle eingeflogenen Güter und vor allem frische, verderbliche Lebensmittelimporte eintreffen (Muscheln direkt aus Paris mit Air France), außerdem die Mehrzahl der großen Transitunternehmen mit ihren Umschlaghöfen, wo Container geöffnet und entladen werden sowie die wenigen produzierenden Industrieunternehmen, die das Land zu bieten hat.

In einem Land, in dem Zahlen und Computer immer noch Mangelware sind, ist es schwer, wirtschaftliche Auswirkungen zu schätzen, aber man kann Vermutungen anstellen: Kinshasa hat geschätzte zehn Millionen Einwohner. Die durchschnittliche kongolesische Familie der Unterschicht hat zwischen vier und siebzehn Kindern, folglich ist eine Haushaltsgröße von 9 Personen nicht unrealistisch. Das Familieneinkommen liegt möglicherweise bei ungefähr 120 USD im Monat (immerhin haben in Kinshasa relativ viele Menschen Arbeit) aber gespart wird davon kaum etwas. So gerechnet, würde die lokale Bevölkerung außerhalb von Gombe 135 Millionen USD im Monat konsumieren. Innerhalb von Gombe und in den angrenzenden Vierteln der Schönen und Reichen mag es 10.000 Expatriates und 10.000 Familien der kongolesischen Oberschicht geben – macht 20.000 Einkommen jenseits von 3.000 USD im Monat. Rechnet man die Sparquote heraus, könnte man schätzen, daß diese Elite 45 Millionen USD im Monat konsumiert. Ganz ohne Berücksichtigung von Botschaften, Büros und Wirtschaftsunternehmen wäre die Konsequenz, daß mindestens ein Drittel des Konsums von Kinshasa in Gombe stattfindet, auf dem Weg dahin mit Poids Lourds ein Nadelöhr passiert und dabei mindestens zwanzig Minuten wartet. In dieser Zeit sind teure LKWs und deren Fahrer untätig und können sich nicht anderweitig produktiv nützlich machen. Angestellte langweilen sich abseits des Schreibtisches zum Schaden des Arbeitgebers, von den Kosten des höheren Fahrzeugverschleißes ganz abgesehen. Warten tun natürlich auch sämtliche Expatriates, die in Limete in den großen Unternehmen arbeiten, jede Person, die dort Termine hat, und all jene, die die Stadt mit dem Flugzeug verlassen möchten. Wer im Laufe eines Tages zwei Termine in Limete hat und diese nicht direkt aneinanderlegen kann, verbringt an einem Arbeitstag leicht fünf Stunden im Auto – für eine Strecke von vielleicht siebzig Kilometern. Angestellte, die morgens um sieben Uhr im Büro in Limete auftauchen, sind keineswegs arbeitswütige Workaholics, sondern weichen schlicht dem Verkehr und der reinen Zeitverschwendung auf die einzig mögliche Art und Weise aus. Warten tun auch Hunderttausende von Wachleuten, Putzkräfte und Fahrern, die aus den Vororten zur Arbeit nach Gombe pendeln, aber das ist nicht so schlimm – auf kolonialdeutsch: deren Zeit ist von zu vernachlässigendem Wert.
Wie kann es sein, daß einige wenige hundert Meter auf einer der drei oder vier wichtigsten Straßen Kinshasas mit diesen Schlaglöchern erheblichen wirtschaftlichen Schaden anrichten, ohne daß es jemanden kümmert? Wie schwierig kann es sein, diese fünfhundert Meter zumindest bis auf weiteres soweit in Stand zu setzen, daß nicht jedes einzelne von Tausenden Fahrzeugen derart abbremsen muß, daß sich schon morgens um acht Uhr der Verkehr auf zwanzig Minuten staut? Die Antwort findet sich, wenn man nach den möglichen Interessenten einer Instandsetzung sucht.

Die Angstellten von Botschaften, internationalen Organisationen und gemeinnützigen Organisationen verschlägt es selten ins Industriegebiet zu all dem Dreck und Elend der wirtschaftlichen Produktion. In den wenigen Fällen tröstet immerhin die Gewißheit, für die verschwendete Lebenszeit fürstlich entlohnt zu werden vermittels allerlei Härteposten-Zulagen. Unbequem ist es natürlich, zum Flughafen mindestens drei Stunden vor Abflug aufbrechen zu müssen – aber zur Entschädigung hat man im fernen Europa interessante Anekdoten aus dem rückständigen Entwicklungsland im Gepäck, mit denen man die provinzielle Verwandtschaft unterhalten kann.
Die Wartezeiten von Waren und Gütern wiederum trägt der Konsument, denn die Firmen – gleich ob lokale Produzenten oder Importeure – können es sich leisten, die Kosten für Reifenverschleiß und Ersatzteile, für Gehälter von Fahrern und sämtliche relativ höheren Fixkosten auf das Produkt umzulegen. Solange ein Liter Milch von allen drei Anbietern immer zwei Euro kostet und der Konsument bezahlt, ist der Zustand von Poids Lourds auch für die produzierende und verkaufende Industrie nur eine Unannehmlichkeit, aber keine Katastrophe.

Auch in umgekehrter Perspektive ergibt sich dasselbe Bild: benötigt der in Gombe ansässige Bankangestellte vier Stunden statt zwei für den Besuch beim Kunden in Limete, ist das durch Zinssätze im Bereich dessen, was in Deutschland als sittenwidriger Wucher gelten würde, abgedeckt. Ohnehin sind ja alle diese Parteien kaum in der Position, den Auftrag zur Straßenreparatur aufzugeben. Allenfalls die internationalen Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit hätten möglicherweise einen Hebel in der Hand, aber wer sich mit Projekten zur Kinderhilfe im Wert von 20 Millionen USD befaßt, denkt natürlich nicht über Profanitäten wie den Zustand der Straßen nach.
Bleiben als letzte Hoffnung die Angestellten der Regierung: sicherlich müßten doch Ministerialbeamten oder Kommunalbehördenmitarbeiter sich für den Zustand der Infrastruktur und die übergeordnete volkswirtschaftliche Wohlfahrt interessieren? Daß die geringere Produktivität der Wirtschaftsunternehmen möglicherweise die Besteuerungsbasis für den Staat verringert – das ist schon sehr um die Ecke gedacht. Die Effekte horrender Lebenshaltungskosten einer Stadt auf die Attraktivität als Wirtschaftsstandort ist gleichermaßen umständlich nachzuvollziehen, zumal das ja auch bisher die Vereinten Nationen nicht davon abgehalten hat, Tausende MONUC Mitarbeiter im Kongo zu stationieren, ebensowenig wie es gemeinnützige Organisationen davon abhält, gute Werke zu tun. Der einzelne Staats- und Regierungsangestellte wiederum befindet sich in derselben Situation wie der ausländische Arbeitnehmer: die Wartezeit ist unbequem und man kann sich angenehmere Zeitvertreibe vorstellen, als zwei Stunden im Auto zu sitzen – aber auf das Gehalt wirkt es sich nicht aus und das Mantra der maximalen Effizienz und Produktivitätsoptimierung hat diesen gottverlassenen Flecken in Schwarzafrika auch noch nicht erreicht, so daß die Wartezeit auf Poids Lourds – ebenso wie jene in Läden und Behörden, Restaurants und bei Terminen – mit stoischem Gleichmut hingenommen wird. Ohnehin muß man fragen: würde eine solche Angelegenheit den vergleichbaren Behördenmitarbeiter in Deutschland interessieren? Eher nicht.
Für sich genommen haben sämtliche Personen, die regelmäßig auf Poids Lourds im Stau stehen entweder keine Handhabe, um den Status Quo zu ändern, oder aber kein ausgeprägtes Interesse daran. Das gemeinschaftliche Interesse wiederum hat in diesem Land schon lange keine Lobby mehr und in diesem speziellen Fall ist es außerdem zu klein und unbedeutend – selbst die Chinesen würden sich vermutlich nicht dazu herablassen, für einen so winzigen Kontrakt ein Angebot zu unterbreiten. Ausbau und Renovierung der Straße im großen Stil hingegen sind im Staatsbudget vermutlich nicht vorgesehen und nicht bezahlbar.

Davon abgesehen: würde man die Straße verbessern, staute sich der Verkehr dennoch weiterhin an der nächsten von Polizisten gemißregelten Kreuzung – und da kann man es doch auch gleich lassen und einfach sämtliche Staus aussitzen. Ebenso wie alle anderen Probleme in diesem Land.

*Ich schwöre - heute genauso gesehen.

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Montag, 23. November 2009
Montag Morgen, halb zehn im Kongo: der Fahrer dreißig Minuten zu spät. Das Bureau? Kannte er nicht. Der Drucker? Papierstau, nicht behehbbar bis auf weiteres. Der IT-Experte? Noch nicht da. Unsere Team Assistentin, die mir für Ende der Woche eine neue Unterkunft suchen muß? Gleichfalls noch im Wochenende. Dafür ein überraschender Termin um zehn, den mein kongolesischer Kollege ganz 45 Minuten vorher ankündigt.

Montag Mittag dreizehn Uhr: Termin fürchterlich anstrengend. Team Assistentin noch nicht aufgetaucht. Mit zehn Tagen Verspätung Mail von einem Kollegen, den ich um Hilfe gebeten hatte - leider hat er mich völlig falsch verstanden und schlimmstenfalls muß ich nun also nächste Woche zu einem völlig schwachsinnigen Termin. Und noch eine Mail von Ex-Chefin: ob ich vor Weihnachten noch zehn Tag für sie arbeiten könne?

Genau zu dem Zeitpunkt, zu dem ich Tagträume von meinem Heimflug gen fließend Wasser und Fußgängerzonen habe, könnte ich auch genausogut bis Heiligabend hier 24/7 arbeiten - wenn das kein hübsches Timing ist. Nächstes Jahr hingegen? Muß dringend die Unterlagen für die Arbeitsagentur fertig machen. Oder ich mache drei Monate Urlaub in Damaskus und lerne Arabisch.

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Freitag, 20. November 2009
Kakerlakenjagd
Ich fürchte, der vorbildliche Jean Paul ist bei der von mir erbetenen Kakerlakenjagd in der Küche nicht so vorbildlich gründlich vorgegangen wie erhofft. Gestern Abend leere Weingläser in die Küche getragen, auf der Spüle abgestellt. Licht ausgemacht. Zehn Minuten später Wasserflasche geholt. In der kleinen Restpfütze Rotwein eine fette Kakerlake, sicherlich fünf bis sechs Zentimeter lang. Was nun? Fragt sich die Dame des Hauses in Abwesenheit männlicher Mitbewohner. Vor wenigen Tagen hätte ich immerhin eine Runde kreischen können, um den Mann im Haus aufzuscheuchen, aber in einer reinen Mädchen-WG ist das keine Option mehr.
Ich habe minutenlang mit mir gerungen: Viech sitzen lassen oder Viech töten. Sitzen lassen schien mir sehr unzivilisiert, also habe ich als nächstes bestimmt zwei Minuten die Option Viech töten und die möglichen Verfahren erwogen. Wasser schien mir gut geeignet, hatte ich doch letzte Woche erst eine ersoffene Kakerlake in einem Wasserglas morgens gefunden.
Leider war das Wasserglas hoch und schmal, das Weinglas hingegen flach und rund und nachdem ich einen Schwall Wasser hineineingeschüttet hatte, zappelte die sechsbeinige Untermieterin verzweifelt mit den Beinchen und Fühlern – war also lebendiger denn je und keineswegs am ersaufen. Auch das habe ich sekundenlang beobachtet und irgendwann dauerte das Tier mich doch, so daß ich dachte: der Qual muß ich ein Ende bereiten. Rausfischen und totschlagen? Angesichts der Größe nicht wirklich appetitlich. Mit angewidertem Geist und spitzen Fingern trug ich also das Weinglas in die Toilette und leerte es über der Kloschüssel. Noch bevor ich spülen konnte, krabbelte mir die Kakerlake flink am Schüsselrand entgegen und hockte sich unter die Brille. Es folgte das nächste gedankenschwere Intermezzo. Was nun? Ich klappte die Brille hoch, dort saß die Kakerlake, parallel zum Schüsselrand. Auch wenn ich mich mittlerweile zu äußerster Gewalttätigkeit und Kakerlakenmord in der Lage fühle – meine Schuhe wollte ich eigentlich nicht schmutzig machen. Eine Zeitung nehmen? Andere Schuhe holen und drei Tage nicht tragen in der Hoffnung, das daran klebende Kakerlakenblut verdrängen zu können? Karton? Pappe? Sonstige Totschlagwerkzeuge? Bis ich mich entschieden hatte und den Flipflop in der Hand hielt –war der Kloschüsselrand leider schon leer und das Viech verschwunden.
Innerlich zitternd vor Grusel und Ekel klappte ich den Deckel runter, die Kakerlake wieselte zwischen den Scharnieren hervor und verschwand zwischen den an der Wand aufgereihten Wasserkanistern. Derer fünf, entfernte ich langsam einen nach dem anderen, jederzeit auf feindliche Attacken gefaßt. Beim dritten Container verschwand das Insekt hinter dem vierten, dann hinter dem fünften, und verkroch sich in der hinteresten Ecke. Mittlerweile hatte ich Mut gefaßt und war vom Jagdfieber erfüllt – zudem stand mir mit den Kanistern die perfekte Tatwaffe zur Verfügung: mit Schwung schmetterte ich den Kanister auf die Kakerlake – leider hatte die gewählte Tatwaffe keinen ebenen Boden. Nach dem zweiten, dritten Anlauf zappelte das eklige Viech auf dem Rücken liegend, Beine und Fühler zuckten, noch zwei Mal ließ ich den Kanister mit der Kante gezielt niedersausen, bevor endlich Ruhe war. Irgendwann hatte es leise geknackt bei einem besonders wohlgezielten Schlag, nun Matsch und Schleim und zerdrückter Körper und kaputte Flügel auf dem Fliesenboden. Als erstes wischte ich den Boden des Kanisters ab, dann breitete ich vorsichtig Toilettenpapier – vielschichtig – über die Leiche und beförderte sie ein letztes, endgültiges Mal in die Kloschüssel. Vielleicht bildete ich es mir, wie ich so in unmittelbarer Nähe der Toilette auf dem Boden kniete, aber es roch deutlich ekliger da unten als auf meiner normalen Höhe. Stinken Kakerlakenleichen so schnell?
Krönender Abschluß des Massakers: das Wasser war schon abgestellt, der Wassertank der Toilette leer und ich konnte das Zeugnis meiner Untaten nicht einmal umgehend in die Kanalisation spülen, sonst mußte zuerst mit den Kanistern Wasser nachfüllen.
Möglicherweise hat meine Mutter recht und ich brauche nach der Heimkehr nicht nur eine vollständige Entwurmung, sondern auch einen Zivilisationskurs, um wieder ein akezptables Mitglied der Gesellschaft zu werden?

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Donnerstag, 19. November 2009
Prinzessin im Turm
Selten habe ich an einem Tag so viele Facetten dieser Stadt erlebt wie gestern. Morgens war ich in den tiefsten Niederungen von Kinshasa, im Schlachthofviertel, wo mein Fahrer – immer noch der unselige Willy – und ich einem Gesprächspartner durch labyrinthisch schmale Gänge mit kaum zwei Zentimetern Platz rechts und links neben dem Geländewagen gefolgt sind, um in einem entsetzlich scheußlichen, aber überraschend feudalen und sauberen Restaurant über sein Geschäft zu sprechen. Zuerst allerdings – haben wir gebetet. Ich war so überrascht, daß ich die Absichten meines Gesprächspartners erst begriff, als er schon beim Amen angekommen war. Danach habe ich im zweifelsohne schönsten Viertel – Mont Ngaliema, seinerzeit Wohnsitz der Schönen und Reichen unter Mobutu – ein weiteres Gespräch geführt. Es gab Bürgersteige – intakt über etliche Meter und nicht unter Schutt verborgen. Es gab hübsche Grünanlagen, traumhafte Villen und natürlich eine wunderbare Aussicht über den Fluß. Abends war ich in meinem bevorzugten Fluchtrestaurant, dem „Fleur de Sel“ mit dem schönen Franzosen essen und für mein Risotto mit Waldpilzen und dreierlei Käse hätte sich kein gutes Restaurant in Europa schämen müssen. Meine Bescheidenheit – Vorspeisenportion und kein Nachtisch – war allerdings verfehlt, denn zu Hause empfingen mich völliger Stromausfall, acht Etagen Treppensteigen und das hier:



Auf jeder Treppenflucht eine. Und so thronte ich wie eine Prinzessin in ihrem Elfenbeinturm über der Stadt und erfreute mich an der nächtliche Aussicht. Zukünftig bitte: Köngliche Hoheit, statt Frau Damenwahl.

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Mittwoch, 18. November 2009
Anständig oder dumm?
Die Freude über einen eigenen Fahrer war leider nur von kurzer Dauer – man könnte auch sagen, ich habe gerade reichlich Gelegenheit, mich rücksichtsvoller als beim beim letzten Mal zu verhalten. Schon letzten Mittwoch verkündete Fahrer Willy, sein Kind sei krank, ob er früh nach Hause könne? Außerdem: ach! – die teuren Medikamente. Ich habe ihn also letzte Woche regelmäßig am späten Nachmittag nach Hause geschickt, von daheim gearbeitet und trotzdem üppige Trinkgelder gegeben. Am Samstag kam er zwei Stunden zu spät – angeblich wegen zweier platter Reifen, allerdings waren die Erklärungen etwas dürftig. Am Sonntag dann die Katastrophe mit noch mehr Platten, Montag morgen bat er wiederum um einige Stunden Pause, um sein Kind aus dem Krankenhaus zu holen. Auf freundliche Rückfragen erklärte er, die Kleine habe Malaria, Typhus und noch eine andere Krankheit, und nachdem er am Wochenende sein Handy als Pfand für die Behandlungskosten dagelassen habe (glücklicherweise hat er zwei Telefone), müsse er das nun auslösen.

Es ist absolut glaubwürdig, daß er sein Handy als Pfand gelassen hat. Ich selbst habe für ein lächerlich kurzes und nutzloses Gespräch mit einem Arzt und den anschließenden Bluttest 30 Dollar bezahlt – gehe ich davon aus, daß eine richtige Behandlung teurer, aber die Kosten insgesamt für Kongolesen günstiger sein dürften, kann ich nachvollziehen, wo die nicht unerheblichen Trinkgelder von Mittwoch bis Sonntag abgeblieben sind. Natürlich gibt es im Kongo keine Krankenversicherung für die Mehrheit der Bevölkerung, natürlich muß für jede Dienstleistung bezahlt werden und natürlich gilt auch die Behandlung kranker Menschen als Dienstleistung. Kollegen berichten, daß Menschen im Zweifelsfall an der Krankenhauspforte sterben, wenn sie nicht bezahlen können.

Eine der großen Entwicklungsorganisationen hat vor Jahren einige Millionen Moskitonetze in Kinshasa verteilt – natürlich imprägniert. Die Akzeptanz war schlecht, es gab Unmengen Gerüchte, das populärst davon: die Weißen hätten die Netze vergiftet, um die Kongolesen umzubringen und das Land für sich zu haben.

Ein anderer Bekannter erzählte von einem seiner – sozialversicherten – Mitarbeiter, daß die Firma ein Computertomographie des Kopfes bezahlt hat – der Mann hatte einen verstauchten Zeh. Auf Rückfragen nach dem kausalen Zusammenhang zwischen CT des Kopfes und Fuß erklärte der Mitarbeiter: die Ärzte hätten die Untersuchung so vorgeschlagen – wer sei er, das anzuzweifeln? Mit dem Gesundheitssystem im Kongo und dem mündigen Patienten steht es also nicht unbedingt zum Besten. Umso mehr bin ich grundsätzlich gewillt, die Behandlungskosten für ein krankes Kind zu unterstützen übernehmen und einem verzweifelten Familienvater vierer Kinder mit monatlichem Einkommen von vermutlich etwa 200 USD zu helfen. Andererseits sucht mich beharrlich der Gedanke heim, daß soviele platte Reifen, dauernde Verspätungen und Entschuldigungen und die ständigen Krankenhausgeschichten reichlich viele Unannehmlichkeiten für eine einzige Woche sind. Auch die Erklärungen – sei es meinem oder seinem schlechten Französisch geschuldet – waren eher dürftig und etwas verworren. Ich bin innerlich zerrissen: fünfzig Dollar Trinkgeld für die paar Tage sind hier viel Geld und auch für mich keine Portokassenbeträge. Darüber hinaus schränkt die Anpassung an Willys Bedürfnisse meinen neu gewonnen Bewegungsspielraum wieder deutlich ein und die damit verbundene Koordination und Risiken erschweren meine Arbeit (Pünktlichkeit ist grundsätzlich nicht eine seiner hervorstechendsten Tugenden). Ich habe keinerlei Möglichkeit, die mir präsentierten Begründungen nachzuvollziehen: möglicherweise hat er tatsächlich eine kranke Tochter und ist in argen Geldnöten. Möglicherweise hat er eine kranke Tochter, aber haut das Geld für andere Dinge raus, versäuft, verspielt es oder begleicht sonstige Schulden. Und schlimmstenfalls hat er gar keine Kinder (oder jedenfalls keine kranken) und erfreut sich heimlich an der dummen Gans, die goldene Eier legt.

Ich mag den Gedanken nicht, über den Tisch gezogen zu werden – aber ich möchte es dieses Mal auch richtig machen. Nach einigem Ringen habe ich Montag also das Gespräch gesucht und erklärt, daß ich einen zuverlässigen Fahrer und ein anständiges Auto brauche, und ob er vielleicht mit einem anderen Fahrer tauschen wolle? Nein, erklärte er demütig, auf keinen Fall, er wolle gerne weiter mein Fahrer sein solange ich hier bin (Mein Gott, ich fühlte mich wie der schlimmste Sklaventreiber). Wir haben uns darauf geeinigt, daß er am Montag Trinkgeld für den Rest der Woche bekommt, um die Medikamente zu bezahlen, und im Gegenzug von nun an pünktlich kommt, seine Probleme zu Hause regelt und dafür Verantwortung trägt, daß das Auto funktioniert. Sequitur zu der gesamten Angelegenheit: am selben Abend präsentierte er mir ein fast leeres Fahrtenbuch (in dem gerade mal die Fahrten bis Mittags eingetragen waren) zum Abzeichnen vor und legte sich anderntags nach einem klaren Fahrfehler seinerseits mit einem Polizisten an, so daß seine Papiere jetzt auf irgendeiner Polizeiwache liegen und ich außerdem einen Termin absagen mußte.

Im Zweifelsfall ziehe ich das Risiko vor, zu Unrecht fünfzig Dollar an einen vernantwortungslosen, halsabschneiderischen Suffkopp verloren, als zu Unrecht einem Kind die Behandlung vorenthalten zu haben. Das eine scheint irgendwie der bei weitem bessere Fehler zu sein. Aber meine Geduld wird auf eine harte Probe gestellt.

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Montag, 16. November 2009
Kongokoller und die Konsequenzen
Seit 48 Tagen im Kongo (113 insgesamt) – erste Symptome von Höhlenkoller. Keine Ahnung, wie Livingston, Stanley oder die französischen Kolonialbeamten das seinerzeit ausgehalten haben– ich will nach Hause. Ich möchte mich sonntagsmorgens nicht zehn Minuten lang fragen, ob wohl Wasser und Strom funktionieren, wenn ich gleich unter meinem Moskitonetz hervorkrieche. Ob ich zum Frühstück Dusche, Kaffee und Toast haben werde oder nicht. Kommt mein Fahrer morgens zehn Minuten zu spät, retten auch die stets fröhlichen Grüße und freundlichen Komplimente der Wachleute meine Stimmung nicht mehr. Das immer leicht bräunliche Wasser in der Dusche widert mich an, die ewig schwarzen Ränder unter den Fingern ebenso, die Unvorhersehbarkeit der Regengüsse, die auf der Terrasse vergessene Bücher und Schals gleichermaßen durchtränken. Die Reinigungskräfte am Pool, die morgens über die Länge des Beckens hinweg gebrüllte Neuigkeiten austauschen, möchte ich am liebsten runterputzen, weil sie meine dreißig meditativen Minuten im Wasser gründlich stören. Die Straßenkinder, die beinahe meine Tasche klauen, bekomme eine unerwartete Standpauke, aber mein geldgieriger Fahrer bekommt einfach sein Trinkgeld – ich bin es müde, seine sonderbaren Abwege durch endlose Fragen zu ergründen.

Ich sehe mich nach sauberem Wasser, einem guten Friseur, hartem Sport im Fitnesstudio statt der langweiligen Planscherei im Pool, ich möchte frieren und mich warm anziehen, ich möchte heißen Tee statt eiskaltes Tonic und ich möchte grundsolide deutsche Küche. Ich möchte eine Straße zu Fuß runterlaufen – asphaltiert, bitte! – und in einem Café sitzen, ich möchte Spaziergänge machen und Deutsch um mich herum hören.

Weil all das aber noch mindestens zwanzig Tage weit entfernt ist, ich mir – im Gegensatz zu den Kollegen – nicht eben ein Wochenende in Nairobi, Johannesburg oder Brüssel leisten möchte, aber dringend aus diesem Moloch herauswollte, habe ich einen Kollegen beschwatzt, mit mir vor die Stadt zu fahren. Chez Tin Tin ist eine Institution, direkt am Fluß gelegen, relativ einsam – aber ein guter Platz für ein kaltes Bier und die beruhigende Aussicht aufs Wasser. Bedauerlicherweise eine Institution, die mein Fahrer nicht kannte – so daß wir auf seinen Rat hin doch wieder flußabwärts fuhren. Nach etwa einer Stunde Fahrtzeit erreichten wir eines der typischen Tages-Ferienressorts – kleine Hütten mit Tischen drunter, eine Band, flache Boote für Ausflügler auf einem Seitenarm des Kongo, zwei freilaufende Puter und einige Hühner.
Wir suchten uns einen Platz am Ufer, bestellten ein Tembo, schauten spielenden Kindern zu und lästerten über den weißen Mittfünziger in Begleitung zweier allzu junger Kongolesinnen.



Um kurz vor sechs brachen wir wieder auf, unser Fahrer wollte offensichtlich ebenfalls heim und gab Gas – leider zuviel. Kurz vorm Flughafen N’Djili – also noch einiges von der Innenstadt entfernt – bretterte er mit etwa 80 km/h über ein tiefes Schlagloch, wir hüpften unfreiwillig in den Sitzen, die Reifen krachten und begannen umgehend zu eiern. Fahrer Willy bremste langsam ab, inzwischen eierte der gesamte Wagen und einer der Reifen gab verdächtige flappende Geräusche von sich. Bei der Inspektion stellte sich heraus: drei von vier Reifen platt.



Wir mitten im Niemandsland, gegenüber hinter der Böschung einige einzelne Hütten, einige hundert Meter straßaufwärts noch eine Ansammlung Hütten, ansonsten Niemandsland. Fahrer Willy rief die Autovermietung an und brach auf, den nächsten zwecks Reifenreparatur zu suchen, Kollege C. und ich standen am Straßenrand. Begutachteten die Landschaft, ich machte einige Fotos. Die Passagiere der vorbeifahrenden Autos winkten uns mit einer einmaligen Mischung aus Mitleid und Schadenfreude zu: Autos, überladene Minivans, Taxis, LKWs bis hoch über die Bordwand mit Holz beladen – dazwischen eine Gruppe, die ihr blau-gelbes Kintaxi schob.



Wir tauschten freundliche Grüße und Neuigkeiten über den jeweiligen Schaden aus, Oh lala, trois pneus crevés? .... eh, bonne chance!. Der C. und ich warteten weiter. Begutachteten die Aussicht. Die passierenden Fußgänger, die spielenden Kinder. Diskutierten die potentiellen Fotomotive, aber wagten nicht den demonstrativen Umgang mit der Kamera in einsamer Umgebung. Sahen Willy bei der Arbeit zu. C. verglich Autoreifen mit Fahrradreifen. Wir bewunderten den Sonnenuntergang. Warteten.



Ließen uns nach Einbruch der Dunkelheit von Autos blenden. Drei Kinder mit einem kläglichen Kästchen auf vier Rädern an einer Leine als Spielzeug. Eine junge Mutter mit drei Kindern, das kleine Mädchen gab mir die Hand, strahlte mich an, konnte sich kaum von uns losreißen. Eine junge Frau, Lasten auf dem Kopf balancierend, schritt langsam an uns vorbei das Handy in der Hand, eine Nachricht tippend. Junge Männer, von LKWs herab johlend.
Um halb sieben rief ich Willy an (der straußaufwärts die Reparatur der Reifen überwachte) und wies daraufhin, daß es für uns nach Einbruch der Dunkelheit nicht besonders angenehm sei, am Straßenrand in der Mitte von Nirgendwo zu sitzen. Zwanzig Minuten später tauchte er wieder auf, lotste uns zu einer Bar. Im Gänsemarsch tasteten wir uns am Straßenrand entlang, in langen Schritten über Abwasserrinnen hinweg. Ein Auto von hinten, zehn Schritte im Schweinwerferlicht, dann wieder nachtschwarze Dunkelheit. Quer über die Straße, gottseidank ein begraster Mittelstreifen zur Orientierung: wo sind die nächsten Schlaglöcher, wie viele Schritt bis zum Seitenstreifen? Dann über eine sandige Piste auf ein einzelnes Lämpchen zu. Etwas abseits aber noch in Sichtweite der Straße zwei viereckige Häuschen, eine betonierte Terrasse mit den obligaten Plastikstühlen. Zwischen den beiden Häusern ein Baum, eine Stereoanlage mit kongolesischer Musik, zwei streunende Hunde: geradezu idyllisch. Rechter Hand zur Straße hin zwei Autowracks, eine Holzhütte mit einem Grüppchen Menschen in völliger Dunkelheit und eine Wäscheleine mit Kleidungsstücken. Weniger idyllisch. Jenseits zweier kleiner Glühbirnen und einer Öllampe versank alles in Finsternis – nur manchmal kläffte einer der Hunde oder rührte sich ein Grüppchen Menschen in der Nähe. Wir bekamen ein lauwarmes Bier, eine rundliche Maman schenkte uns ein, während ein nicht minder runder Papa in seinem Stuhl sachte zur Musik mit dem Oberkörper wippte. Für uns eine spannende Abwechslung, ein voyeuristischer Blick in ein fremdes Leben – für die Bewohner alltägliche Realität und keinerlei Perspektive auf Besserung. Wir hinterließen ein großzügiges Trinkgeld – froh, angenehmes Obdach im Unglück gefunden zu haben – das die resolute Maman erst nach Verhandlungen annahm, völlig verständnislos, warum die dummen Weißen Geld zu verschenken hatten.
Um acht tauchte Willy wieder auf und das Auto rollte immerhin bis hinter N’Djili, wo zwei Reifen erneut platzten. Diesmal hielten wir direkt am Straßenrand, blieben sicherheitshalber im Auto, eine Stunde verging, wir diskutierten die Option, beim nächsten Platten ein Taxi zu suchen, bis die Reifen repariert und wir um kurz nach zehn Uhr endlich zu Hause waren. Bilanz: zwei Stunden im Restaurant entspannt, vier Stunden für die Rückfahrt gebraucht.

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