Mittwoch, 20. Mai 2009
Abschied auf Raten
Ich löse meine Kindheit auf. Meine Eltern sind der Sorgen um Haus und Garten in Familiengröße überdrüssig und werden in naher Zukunft in eine Wohnung in der Stadt ziehen, und so befaßt sich die gesamte Familie seit Wochen mit Generalentrümpelung. Als meine Eltern hier eingezogen sind, war ich schon aus dem Haus, wurde vor vollendete Tatsachen gestellt und habe entsprechend lange gebraucht, um hier heimisch zu werden. Daher finde ich es umso seltsamer, daß dieser Abschied mir so viel schwerer fällt als der letzte.



Das neue Zuhause meiner Eltern hat nur noch ein Kinderzimmer, reserviert fürs Nesthäkchen, und so muß ich schon dankbar sein, daß meine Möbel und restlichen Habseligkeiten im winzkleinen Keller auf meine Rückkehr warten dürfen. Im Gegenzug habe ich mich verpflichtet, gnadenlos auszusortieren. Am Wochenende habe ich mich in vorbildlich aufschiebender Weise erst mal mit den Noten und CDs meiner Eltern befaßt und dort Müll entsorgt (wobei mein sparsamer Papa die Hälfte der Müll-CDs aus meiner Aussortierung wieder aussortiert hat), gestern gab es jedoch keine Ausreden mehr. Eine ganze Schrankwand voller Bücher, Ordner, Fotoalben, Kisten, Tüten, Kästen wartete auf beherzte Taten. Es fühlte sich an, als würde ich meine Vergangenheit entsorgen. Ich komme zweifellos nach meinem Vater und habe das von ihm begonnene Werk, wirklich ALLES akribisch abzuheften, getreulich fortgesetzt und so kann man mit den fünf Ordnern fast alle Ereignisse der vergangenen zehn Jahre nachvollziehen. Unterlagen von meinem Amerika-Aufenthalt mit sechzehn, Briefe zwischen meinen Eltern und Gasteltern, Briefe von mir an die Familie daheim, Schulunterlagen, Verträge für Ferienjobs, die ersten Schritte ins Studentenleben, Mietverträge, Stadtwerke-Rechnungen, Telefonrechnungen, streitsüchtiger Briefwechsel mit Nachbarin, Behördenanträge – alles, alles, alles ist da! Außerdem habe ich billigen Modeschmuck von Karnevalspartys gefunden, gemischt mit altem Silberschmuck den ich schon vor Jahren als untragbar eingestuft habe. Ein Deckchen in Kreuzstich, handegearbeitetes Geschenk an meine Mutter und irgendwie wieder bei mir gelandet. Plastiktüten mit Wechselgeld in Fremdwährung, Liebesbriefe von Ex-Freunden, Weihnachts- und Geburtstagskarten, Schlüsselanhänger. Zwischen dem Nippes mein Poesiealbum aus der fünften Klasse, ein scheußliches Tagebuch in lindgrün mit Hundewelpen drauf (Geschenk meines ersten Verehrers in der vierten Klasse und die Einträge sind einen eigenen Beitrag in meinem digitalen Tagebuch wert), dazwischen immer wieder vereinzelte Fotos und sonstige Memorabilia. Unter der Decke meines Schreibtischs mit Tesafilm festgeklebt habe ich ein Pferdchen aus Pappkarton gefunden, auf der Rückseite: „Gutschein für zwei Reitstunden bei Petra Z.“ – von meiner Mama, natürlich, mehr als fünfzehn Jahre alt.

Wenn ich im September zurückkomme, werden meine Eltern schon umgezogen sein. Es sind die letzten Tage in diesem wunderbaren, eigenwilligen alten Haus. Die letzten Abende im Wohnzimmer mit dem fantastischen Ausblick übers Land, die letzten Zigaretten auf der alten Bank vor der Küche, die letzten Laufrunden im Feld, die letzten Atemzüge mit dem betörenden Blumen- und Gräserduft. Das letzte Mal werde ich abends mit meinem Papa auf der Terrasse sitzen und auf den Moment warten, da die Vögel plötzlich alle zur Ruhe gehen. Das letzte Mal für mein unsagbar häßliches vierbeiniges Patenkind den Ball über den Rasen schmeißen und lachen, wenn es vor Überschwang eine Rolle schlägt. Viele letzte Male und das bedrückende Gefühl, bei meiner Rückkehr kein richtiges Zuhause mehr zu haben!

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