Sonntag, 21. Juni 2009
Unwahrscheinliche Bettgenossen
Wer nicht reist, wird nicht den Wert der Menschen schätzen lernen.
Mauretanien


Hier die Aussicht aus meinem Fenster, als ich heute morgen gestern Abend nach Hause kam.


Es ist erstaunlich, welches Glücksgefühl ein Abend mit fremden Menschen in einem fremden Land bescheren kann. Das ist einer der Gründe, warum ich dieses Leben liebe: fremde Länder steigern meine Empfindungen ins Exponentielle. Heimweh und Ängste werden größer, aber eben auch die Momente, an denen ich voller Überzeugung denke: ich mag mein Leben, für genau diese kurzen Augenblicke perfekter Zufriedenheit.
Meine Kollegin C. hat mich gestern Abend einigen ihrer Freunde (alle selber Arbeitgeber, ohne daß wir direkt zusammenarbeiten) vorgestellt, bei tunesischem Wein und Heineken in der Bar Corniche Plaza. Unter künstlichen Palmen, künstlichem Blumen und künstlichem Efeu, bestückt mit bunten Lampions und weihnachtlichen Lichterketten, umsorgt von Kellnern in Marineuniformen (?!), haben wir uns wunderbar unterhalten und den Abend mit kalten Getränken auf einer Terrasse mit Meerblick im Haus des einen Kollegen beschlossen. In der kühlen Nachtluft hing immer noch Hauch von Mittelmeer, um vier Uhr fingen die Vögel an zu zwitschern, der Himmel wurde langsam heller, die umstehenden Bäume zeichneten sich wie Scherenschnitte ab. Ich habe selten einen kalten Martini so genossen, auf der Heimfahrt um fünf den Sonnenaufgang über dem Meer bewundert und war mit mir und der Welt völlig zufrieden.
Man kann in der Wahl seines Umgangs nicht wählerisch sein als Expat im Ausland – dann hätte man nämlich nicht sehr viel. Zu Hause verbringe ich meine Zeit mit Menschen, die mir möglichst viel von dem bieten, was ich angenehm in anderen finde: Klugheit, Freude an gutem Essen und Wein, Umgangsformen und Tischmanieren, Interesse an gesellschaftlichen oder politischen Themen, Literatur, möglichst auch noch ein ähnlicher Musikgeschmack und nur allzuoft eben doch unweigerlich ein ganz ähnlicher Hintergrund, sowohl familiär als auch beruflich (dies weniger gezielt sondern weil es sich so ergibt). Natürlich sind nicht alle meine Freunde und Bekannten leuchtende Vorbilder in allen genannten Disziplinen, aber doch meistens in mehr als einer nicht völlig unbeleckt. Wollte ich hier nach einem Freundeskreis suchen, wie ich ihn daheim hatte, wäre ich die meiste Zeit allein. Statt dessen läßt man sich viel leichter auf neue Bekanntschaften ein und stellt erstaunt fest, wie unglaublich bereichernd das ist.

Mein erster längerer beruflicher Aufenthalt im Ausland vor drei Jahren war geradezu ein Erweckungserlebnis in dieser Hinsicht: ich wurde anfangs mit keinem meiner Kollegen wirklich warm, weder den gleichaltrigen noch den etwas älteren und entsprechend war ich einsam und unglücklich. Den Kollegen ging es ähnlich, die Antipathie beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit – wie ich heute weiß. An einem Abend ging ich recht spät aus dem Büro und sah eine etwa acht Jahre ältere Kollegin, H., dort noch sitzen. Die H. und ich könnten gegensätzlicher nicht sein: ich bin durch meine vielseitig interessierten, gebildeten und ehrgeizigen Eltern geprägt und bekam fast alles auf einem silbernen Tablett serviert. H. wiederum mußte um alles kämpfen, ohne Unterstützung des Elternhauses. Ich hatte – trotz aller Umwege – immer noch eine vergleichsweise erfolgreiche und schnelle Studienkarriere absolviert und fühlte mich berechtigt, die schönsten Karrierehoffnungen zu hegen, während H. sich mit vielen Nebentätigkeiten durchs Studium quälen mußte, weniger freiwillig als aus Verlegenheit in Marokko gelandet war und nicht so sehr eine Karriere hoffte, als vielmehr schon mit einer anständig bezahlten Anstellung zufrieden gewesen wäre. An jenem Abend sah sie müde und unglücklich aus. Ohne besonders große Lust auf ihre Gesellschaft zu haben, bot ich dennoch aus Mitleid an, sie könne später nach getaner Arbeit noch rüberkommen, ich habe noch eine Flasche Prosecco vorrätig (heißbegehrt, weil in Marokko unverschämt teuer). Ihr wiederum lag genauso wenig an meiner Gesellschaft, der Prosecco hingegen war ein guter Grund, doch noch vorbeizuschauen. Ich verstehe bis heute nicht, wie es kam, aber wir haben an jenem Abend zusammen drei Flaschen Wein getrunken, uns sehr persönlich auch über sensible Themen unterhalten und großartig verstanden. Wir sprechen bis heute regelmäßig miteinander, obwohl wir uns seither nie wieder begegnet sind und ich bin absolut sicher, säße sie heute Abend neben mir auf meinem tunesischen Balkon, wir hätten uns immer noch genausoviel zu sagen wie vor drei Jahren.

Gelernt habe ich dabei, niemals nach Äußerlichkeiten oder dem ersten Eindruck zu urteilen und auch über erste Widerstände hinaus nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Ich weiß wohl, daß die meisten meiner (juhu! regelmäßigen) Leser etwas älter sind und so denken Sie vielleicht jetzt, daß das eine simple Selbstverständlichkeit sei und ich früher ein schrecklich oberflächlicher Mensch war, wenn ich das mit Mitte zwanzig erst noch lernen mußte. Mit letzterem hätten Sie vielleicht sogar recht, aber bei ersterem möchte ich widersprechen: es gibt einen Unterschied zwischen grundsätzlicher Unvoreingenommenheit und der Kompromißbereitschaft, die man im Ausland lernt, glaube ich. Auch wenn man weitgehend ohne Vorurteile durchs Leben geht, haben nach meiner Erfahrung die meisten Menschen doch verschiedene Gruppen von Freunden, die zwar unterschiedlich sind und die man nur anläßlich einer Handvoll Gelegenheiten alle zusammen einlädt (Hochzeiten, 50. Geburtstag und dergleichen) – aber es sind eben doch zwei, drei oder wieviel auch immer Gruppen, die in sich relativ homogen sind.
Hier hingegen entstehen völlig heterogene Runden, deren einzige gemeinsame Nenner das Leben im Ausland und der akademische Hintergrund sind. In der gestrigen Gruppe waren wir drei Deutsche und ich würde schwören, daß wir alle drei völlig unterschiedlich aufgewachsen sind und ganz sicher nicht zwei Leute in dieser Gruppe dieselbe Partei wählen würden. Und dennoch – wäre ich länger hier, wäre ich zuversichtlich, daß ich mit beiden sehr regelmäßig ausgehen und Zeit verbringen würde.
Überhaupt schaffen Auslandsaufenthalte die unwahrscheinlichsten Bettgenossen: die beiden Herren gestern Abend sind in Aussehen, Persönlichkeit und Auftreten so unterschiedlich wie ein Hippie-Beutel und eine Kelly-Bag, aber sie wohnen seit einem halben Jahr zusammen und scheinen sich prächtig zu verstehen. Ich wiederum war in Marokko an den Wochenenden mit einem sehr bodenständigen Verwaltungsmitarbeiter aus der Wirtschaft unterwegs und erkunde Tunis gerade in Begleitung eines italienischen Ingenieurs. Beide fühlten sich mit einem Döner im Stehen als Mahlzeit gut versorgt, hatten keinerlei Interesse an Opern und wären nie auf die Idee gekommen, mir die Tür aufzuhalten oder Feuer zu geben – waren beziehungsweise sind aber dennoch bereichernde Reisegefährten, die ich nicht würde eintauschen wollen. Ich bin dankbar, daß ich diese Erfahrungen machen darf und dabei großartige Menschen kennenlerne.

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