Samstag, 29. August 2009
Freiheit
Heute habe ich mir ein Stück meiner Freiheit zurückerobert. Die vermutlich einschneidendste Beschränkung hier ist der Mangel an Bewegungsunfreiheit. Nicht das ausfallende Wasser, nicht die Stromausfälle, weder die horrenden Preise noch das Verkehrschaos. Ebensowenig der Mangel an kulturellen Angeboten oder das sonderbare Klima – am schlimmsten ist es, nicht einfach auf die Straße gehen zu können. Ohne Auto ist das Leben hier ein Alptraum. Erstens gibt es keine Bürgersteige – wollte man laufen, täte man dies auf staubigen Seitenstreifen. Zweitens ist es höchst ungewöhnlich, Expatriates gehen hier nicht auf der Straße spazieren. Je nach Tageszeit und Gegend ist man mehr oder weniger schnell umlagert von Schuhputzern, fliegenden Händlern, avancierenden Verehrern und bettelnden Kindern. Das ist meistens harmlos, manchmal aufdringlich und selten gefährlich –dennoch muß man sich sorgsam überlegen, wann und wie man das Risiko eingeht, sich ohne den goldenen Käfig auf vier Rädern auf die Straße zu begeben.

Ein Samstag in grundsätzlich noch vertretbar, weil auf den Straßen genug Verkehr ist und die meisten Läden geöffnet haben. Die Warnungen meiner möglicherweise übervorsichtigen Kollegen in den Wind schlagend war ich daher heute tatsächlich bummeln, sozusagen. Ausschlaggebend war, daß ich heute keinen Fahrer habe, allerdings dringend ein Geschenk benötige. Nächste Woche hat mich ein kongolesische Freund zur Taufe seiner kleinen Tochter eingeladen und nach einigen Erkundigungen scheint es, daß Kleidung für die Kleine eine angemessene Wahl wäre. Trotzdem nicht einfach, denn abgesehen davon, daß es in diesem Land nicht viel zu kaufen gibt, handelt es sich außerdem noch um eine Familie, der der materielle Wert des Geschenks relativ gleichgültig sein kann, da an materiellen Werten bei ihnen kein Mangel herrscht. Umso wichtiger finde ich in solchen Situationen, ein wohlüberlegtes, sinnvolles und liebevoll ausgesuchtes Geschenk zu finden, um zumindest guten Willen zu zeigen.

Ein Kollege hatte vorgeschlagen, im größten Supermarkt der Stadt zu schauen, der gegenüber meiner Lieblingsbäckerei zum Mittagessen liegt. Nachdem ich die Strecke jedoch bisher nur aus dem Auto kenne, habe ich mich... sagen wir, in Schlangenlinien daraufzubewegt. Und auch gleich einen weiteren Grund gefunden, zukünftig wieder den Fahrer zu bemühen: ich kam schweißgebadet im Supermarkt an – wenn man sich bewegt (was ich ja sonst nur im Swimmingpool tue, wo es ohnehin naß ist), fühlt sich die vergleichsweise kühle Trockenzeit gar nicht mehr kühl an. Der ganze Aufwand war völlig umsonst, der Supermarkt bot lediglich scheußliche, billige und absolut inakzeptable chinesische Importkleidung zu zehn bis zwanzig Dollar für ein Kleidchen oder einen Zweiteiler. Das Spielzeug überzeugte mich auch nicht recht, für kluge Spiele ist die Kleine noch zu jung, und doofe Spiele möchte ich nicht schenken. Auf dem Heimweg wurde ich erfreulicherweise in einer Boutique doch noch fündig, dort gab es hübsche Kleidchen in besserer Qualität und sogar für die unerfahrene Käuferin Beratung bezüglich der Größe (woher bitte soll ich wissen, welche Größe ein 18 Monate altes Kind braucht?).

Auf dem Rückweg wurde ich ungebetenerweise von einem kleinen Jungen begleitet, der mir erklärte, er habe Hunger. Das behaupten hier fast alle Kinder und wahrscheinlich stimmt es auch. Trotzdem mag ich ungern Bargeld aushändigen, nicht aus Geiz, sondern aus Unsicherheit. Wüßte ich, daß der Bengel das Geld heim zu Mami trägt, die davon Abendessen kochen kann, wäre ich weniger zögerlich, aber angesichts meiner völligen Unkenntnis der Umstände tue ich mich schwer. Es gibt Straßenbanden, es gibt Drogen, und ganz zweifelsfrei noch andere – mir unbekannte – Methoden, das Geld zu verjubeln oder wenig sinnvollen Zwecken zuzuführen. Andererseits dauern mich die Kinder. In einem hilflosen Kompromißversuch habe ich mit dem Kleinen ein bißchen geplauscht und ihn dann in die nächste Bäckerei eingeladen, wo er sich Brot aussuchen durfte. Einen Moment hatte ich Angst, er könnte eine Auswahl treffen, die mein sehr kleines Budget sprengen würde (aus Sicherheitsgründen nur zehn Dollar eingesteckt) – aber ganz bescheiden (oder völlig verunsichert?) wählte er ein gewöhnliches Baguette. Als ich ihn aufforderte, noch etwas auszusuchen guckte er mich nur verwirrt aus großen Kulleraugen schweigend an. Ich habe noch zwei Milchbrötchen draufgelegt, bezahlt und ihm draußen die Tüte in die Hand gedrückt. Im günstigeren Fall, denke ich mir, hat er jetzt keinen Hunger mehr. Im schlechteren Fall kann Nahrung keinesfalls schaden. Schlimmstenfalls denkt er, daß die weiße Frau einen Knall hat. Mit der Meinung wäre er dann in guter Gesellschaft - das haben vermutlich so einige Leute gedacht, die mir heute begegnet sind. Die einzige hellhäutige Person außer meiner Wenigkeit auf der Straße war ein MONUC Soldat in Tarnfleck, der mir vor der Bäckerei entgegenkam. Und genauso ungläubig hinter mir herschaute wie die Kongolesen (ich habe mich umgedreht, aus Neugier - er war stehengeblieben). Schmutzig, verschwitzt, aber an einem Stück unversehrt heimgekehrt, zufrieden damit, mir ein Stück Bewegungsfreiheit zurückgeholt zu haben in einem Land, in dem gerade das Mangelware ist. So können sich Prioritäten und Wertschätzungen ändern.

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