Mittwoch, 4. November 2009
Eine Frage der Perspektive
Hätte mir jemand vor zehn Jahren prophezeit, ich würde heute in Afrika leben, ich hätte ungläubig den Kopf geschüttelt, laut gelacht, oder beides. Ich bin immer gerne gereist und war neugierig genug für mein Alter, aber Afrika war jenseits meiner Vorstellungskraft. In dem Provinznest, in welchem ich die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens verbracht habe, stand am Eingang ein Schild: Partnerstadt von Kalemie, Zaire. Darunter eine Landkarte und Werbung für ein Waisenhaus. Damals war ich zehn Jahre alt und hatte keinerlei Vorstellung von Zaire, außer einer gewissen Faszination für dieses klangvolle Wort. Heute horche ich immer auf, wenn jemand hier in Kalemie war und würde gerne selbst hinfahren, aus purer Nostalgie. Leider liegt Kalemie am anderen Ende des Landes und Städtetrips sind bei den örtlichen Reiseagenturen nicht im Angebot.
Wenn ich mich in meinem Umfeld zu Hause anschaue, bin ich leider ein Verlierer. Eine Bekannte reicht gerade ihre zweite Dissertation ein. Eine ehemalige Freundin schmückt ihre Visitenkarten inzwischen mit dem Titel Vice President Global Derivates Junk - oder so ähnlich – bei einer großen Pleitierbank, die kurz vor der Zerschlagung steht. Für ein Paar Stiefel gibt sie mehr Geld aus, als ich zuletzt in Deutschland für die monatliche Miete. Meine ehemaligen Kollegen dürfen sich inzwischen immerhin alle Assistant Manager nennen. Einer der letzten verbliebenen Freunde in der Provinz ist seit kurzem stolzer Besitzer eines Eigenheims. Eine andere Freundin hat alle ihre Karriereziele bereits jetzt erreicht und einen von-und-zu-mit-Schlößchen geheiratet. Ich hingegen bin Consultant und auf meiner Visitenkarte steht nur mein Name, weil ich im vergangenen Jahr sechs verschiedene Telefonnummern in fünf verschiedenen Ländern hatte. Ich teile das Wohnzimmer mit einem bindungsunfähigen Briten Ende Dreißig, die Küche mit einer Familie Kakerlaken und im Schlafzimmer leistet mir allenfalls ein Gecko Gesellschaft. Mein Vertrag wird heute für eine Woche verlängert und morgen für zwei Wochen verkürzt, das weiß ich immer erst genau, wenn es soweit ist. Gemessen an den Maßstäben meines heimatlichen Umfelds habe ich allenfalls in Entfernungskilometern weit gebracht.
Allerdings erlebe ich jeden Abend den schönsten Sonnenuntergang der Welt und kein Tag ist wie der vorherige. Das ist immerhin etwas.

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