Mittwoch, 11. November 2009
Das ganze Land - ein Dilemma
Kongo ist eine Katastrophe. Alles hier. Man liest einen Artikel in einer namenhaften Zeitung über fragile Staaten und die Abwesenheit der Staatsgewalt, die Korruption, die endlosen administrativen Hürden im Geschäftsleben und denkt: so schwierig kann es doch bitte nicht sein. Ein paar anständige Staatsanwälte gegen die Korruption, ein paar gute Berater fürs Wirtschaftsleben, radikale Neustrukturierung und alles könnte grünen und blühen und florieren. Leider ist die Realität vor Ort komplizierter. Die Verflechtungen zwischen den Problemen sind wie ein Stoffgewebe – zieht man einem scheinbar losen Fädchen, fällt alles auseinander und plötzlich hat man nur noch Fetzen in der Hand. Jedes Defizit für sich genommen wäre behebbar, aber alle denkbaren Maßnahmen würden an anderer Stelle Auswirkungen haben, die die Maßnahme von vorneherein unmöglich machen. Mehr als irgendwo anders kann man hier verstehen, wie Staat und Privatwirtschaft, kollektive und individuelle Interessen aneinandergekettet sind in gegenseitiger Abhängigkeit.

Einen Teil des Problems kann man tagtäglich auf den Straßen sehen: Container. Es gibt viele Gründe, warum die Hauptstraßen von Kinshasa dem Verkehrsinfarkt nahe sind. Einer davon sind Zwanzig- und Vierzigfußcontainer, die sich auf LKWs mühsam über Schlaglöcher und Schotterpisten vom Hafen zu den diversen Unternehmen quälen. In Europa ist Logistik meist unsichtbar, man muß schon zum Hamburger Hafen fahren, um Container und Schiffe zu sehen, denn der Warentransport findet in einer Parallelwelt statt, die wir kaum noch wahrnehmen. Hier hingegen gibt es kein feingesponnenes Netz, das Häfen, Verladeplätze und Schiene nahtlos aneinander bindet: Güter reisen unter aller Augen von einem Ort zum nächsten – mangels Masse und Schienenverkehr meist LKWs. Leere Container zu bewegen ist Verschwendung von Ressourcen, daher sorgen komplizierte Systeme im Idealfall dafür, daß Container niemals leer sind. Das funktioniert, wenn jeder etwas zu kaufen und zu verkaufen hat. Kongo hingegen hat viel zu kaufen, aber kaum etwas zu verkaufen, und so sind viele Container, die einem hier unter die Augen kommen, leer. Zuerst jedoch kommen die Container an, beladen mit Lebensmitteln, Kleidung aus China, Werkzeugen oder technischen Geräten. Im Hafen von Matadi macht der Container eine Pause, denn unter drei Wochen wird hier nichts bearbeitet, buchstäblich not for love or money, wie der Engländer sagt. Wollte man von dort aus die Schiene nutzen, müßte man weitere sechs Wochen für eine Strecke von 300 km einplanen, daher wandert der Container auf einen LKW und reist auf Rädern nach Kinshasa. Die Straße von Matadi zur Haupstadt gehört zu den wenigen in leidlich gutem Zustand, aber angesichts der Vielzahl der Fahrzeuge dauert es trotzdem einen Tag. An diesem Tag kann der Container einiges erleben: der Fahrer des LKWs hält möglicherweise an und läßt Passanten auf der Ladefläche mitreisen – gegen gutes Geld in die eigene Tasche. Oder er legt eine kleine Pause ein und zweigt Benzin aus dem Tank ab, ebenfalls für die eigene Tasche. Wenn er technisch geschickt ist und einen verschlafenen Chef hat, wagt er es vielleicht sogar und tauscht einige hochwertige Bauteile des Fahrzeugs gegen billigen Schrott ein – der Gewinn geht natürlich ebenfalls in die eigene Tasche.

In Kinshasa werden die importierten Güter – die aufgrund der unzähligen Zölle und Abgaben bei der Einfuhr inzwischen bis zu 50 % an Wert gewonnen haben – entladen und verteilen sich im Land. Während der Container in irgendeinem Hof auf die Rückreise wartet – und im besten Falle auf Exportgüter – wandern Lebensmittel und Kleidung vielleicht im Hafen eines Import/Exportunternehmens in kleinen Portionen, Säcken oder Kisten auf ein Schiff. Der Fluß Kongo zieht sich in einem großen Bogen nördlich durch das gesamte Land und ist angesichts der kläglichen Infrastruktur das Transportmittel der Wahl. Mitsamt Waren, Besatzung und 4.000 Litern Kraftstoff im Bauch macht sich das Schiff auf den Weg auf die einmonatige Reise flußaufwärts bis nach Kisangani, im Osten. Glücklich kann sich der Händler schätzen, der eigene Lastkähne hat oder mit den großen Transportunternehmen kooperiert, denn der Flußbootkapitän hat dieselben finanziellen Nöte wie der LKW-Fahrer und daher dieselbe Neigung, auf Abwegen zu wandeln. Das bietet sich auf dem Fluß noch mehr an als auf der Straße, denn den Fluß kann man kaum überwachen. Halt!, denken Sie, natürlich kann man Boote überwachen (falls es sich nicht gerade um in der Ostsee gekaperte russische Frachter handelt). Hier nicht unbedingt. Neben teuren Satellitentelefonen ist das fortschrittlichste Medium das Handy und jeder Kapitän kann entweder sein Handy einfach ausschalten oder die schlechte Netzabdeckung zum Sündenbock erklären und einige private Ausflüge und Transporte auf Kosten der Firma durchführen. Die Fahrt dauerte länger? Die Sandbänke bewegen sich, der Fluß war blockiert, das Hochwasser, Rebellenkämpfe – an glaubhaften und schwer widerlegbaren Ausreden für Zeitverlust und Spritverbrauch herrscht kein Mangel. Folglich kann die Reise mit einem kleinen, unabhängigen Transporteur der fragwürdigen Sorte auch gerne sechs Wochen dauern. Oder länger.
Auf der Reise flußaufwärts gewinnen die Waren weiter an Wert, denn neben den bundesstaatlichen Steuern möchten auch die Provinzen und einzelnen Häfen mitverdienen, von Zöllnern, Polizisten und Hafenangestellten mit ihren tiefen, leeren Taschen ganz zu schweigen. Das Internet kennt für die Demokratische Republik Kongo mehr als 4.000 Gesetze, einige davon aus Kolonialzeiten, eine Vielzahl aus den letzten acht Jahren mit föderalistischen Tendenzen, aber leider weiß kaum jemand genau, welches Gesetz in welchem Bereich anwendbar ist. Doppelbesteuerung durch den Bund und die Föderalstaaten ist eigentlich ein Unding – man stelle sich nur vor, sowohl Hessen als auch Berlin würden jeweils eigene Transportsteuern auf dieselbe Autobahn erheben und dadurch dem Handel mit dringend notwendigen Gütern einen doppelten Klotz ans Bein binden. Also schlagen ausländische Berater vor, die Provinzen in ihrer Besteuerungswut an die Kandare zu nehmen, zwecks Verbesserung des Wirtschaftsklimas. Damit graben sie allerdings den Provinzen finanziell das Wasser ab. Erstens ist die Steuergrundlage – eine völlig desolate Wirtschaft mit geschätzten achtzig Prozent informeller Wirtschaftstätigkeit – ohnehin schon gering. Zweitens gelangt von den minimalen Staatseinnahmen nur wenig in die Provinzen. Dreht man den Provinzen den informellen Geldhahn zu, gräbt man gleichzeitig den Ansätzen von Entwicklung dort das Wasser ab. Die Provinz kann ihre Stromrechnungen nicht mehr bezahlen, weshalb man auf den Regenwald als Selbstbedienungsladen ausweicht. Die Provinz kann auch ihre Straßen nicht mehr instandhalten, was den ohnehin dürftigen Handel weiter erschwert. Und sie kann die Gehälter ihrer Angestellten nicht mehr bezahlen, die nach alternativen money making opportunities Ausschau halten, um ihre Familien zu ernähren. Da bietet es sich an, Güter im Hafen besonders gründlich zu inspizieren, Fehler zu finden und großzügig gegen monetäre Anerkennung passieren zu lassen. Oder sich bei der Ausfertigung notwendiger Dokumente Zeit zu lassen – schneller geht es gegen finanzielle Hilfe. Wem solche Wege nicht offen stehen, kann immerhin noch im Regenwald am illegalen Handel mit Tropenholz teilnehmen, illegal nach Mineralien schürfen oder Diamanten am Fluß waschen, auch illegal, versteht sich. Die Lizenz dafür gäbe es ganz legal in Kinshasa, wo sie für den Großteil der Bevölkerung genauso unerreichbar ist, als säße die verantwortliche Behörde in Berlin. Die Lasten von formeller und informeller Besteuerung sind wie die Wahl zwischen Pest und Cholera: mit informellen Abgaben hält sich die Provinz über Wasser, schnürt dabei aber wie ein Ertrinkender der Privatwirtschaft die Luft ab und vermindert damit die zukünftige Besteuerungsgrundlage. Geht man radikal gegen informelle Abgaben vor, verschafft man der Privatwirtschaft Luft, aber entzieht der Provinzregierung auch die letzte Handlungsfreiheit.
Während sich die Provinz, die Regierung in der Hauptstadt und die ausländischen Berater um die Verteilung des knappen Geldes zanken, sind die Waren auf ihrem Schiff in Kisangani angekommen und ein kleines Vermögen wert. Egal worum es sich handelt, alles ist in dieser entlegenen Region knapp und daher wertvoll, sogar die im Tank verbliebenen 1.000 Liter Sprit sind hier mehr wert als in Kinshasa, aber die braucht das Schiff für die Rückreise. 3.000 Liter flußaufwärts, aber nur ein Drittel davon auf der Rückreise, mit dem Strom gen Meer. Einzuladen gibt es in Kisangani fast nichts, daher tritt das Schiff die Rückreise genau so leer an wie die meisten Container. Im günstigen Fall werden irgendwo auf halber Strecke Tropenhölzer aufgeladen, solche nämlich, die nicht schwimmen.

Kongo hat nach Brasilien die größten Regenwaldflächen der Welt und Holz ist folglich eines der wichtigsten Exportgüter und vergleichsweise streng reguliert. Die alten Konzessionsgebiete wurden vor einigen Jahren unter internationaler Aufsicht geprüft, teilweise erneuert, teilweise entzogen und ein neues Waldgesetz regelt den Sektor. Theoretisch. Praktisch fehlen dem Waldgesetz auch nach mehreren Jahren noch die zugehörigen Exekutivdekrete und Detailregelungen.
Eine typische Konzession liegt irgendwo in den östlichen Provinzen, ungefähr 1.000 km flußaufwärts und ist ziemlich groß, eine Million Hektar ist wie eine Briefmarke auf der riesigen Postkarte dieses Landes – glücklicherweise kann man die Stämme (soweit sie schwimmen) zu Flößen gebunden den Fluß heruntertreiben lassen. Gemäß Waldgesetz haben die Unternehmen den Transport der lokalen Bevölkerung zu unterstützen, und so überholt der leere Frachter auf der Reise flußabwärts Floße aus verbundenen Baumstämmen, mit afrikanischen Großfamilien, mit Hab und Gut, mit Viehherden und Hühnern. Diese gelebte Entwicklungshilfe kostet Zeit und Geld – ist aber Voraussetzung für die wirtschaftliche Tätigkeit im Land. Sie möchten hier Geschäfte machen? Nur wenn sie, sagen wir, eine Schule bauen, jedes Jahr 150 km Straße im Umland anlegen und außerdem Abgaben bezahlen. Oder die lokale Bevölkerung umsonst auf Floßen mitnehmen. Solche Petitessen werden zur Erleichterung des schwächlichen Staates kurzerhand ins Minengesetz, ins Waldgesetz oder in obskure Dekrete und Verträge geschrieben. Der unfähige Staat nimmt die Privatwirtschaft in die Pflicht und so errichten Holzfirmen im Kongo nebenbei Grundschulen für die ländliche Bevölkerung. Leider spezifiziert das Gesetz nicht, wer für die Gehälter von Lehrern und Ärzten verantwortlich ist, und so stehen die Schulen schlimmstenfalls leer, bis Greenpeace zur Besichtigung kommt und in hysterischen Anfällen die Zustände in der Privatwirtschaft anprangert. Sozialstandards! Arbeitsrecht! Ausbeutung der Bevölkerung! Ökologische Nachhaltigkeit!

Die Wachsamkeit der internationalen NGO-Gemeinschaft kann aber ebenso gut andere Unternehmen oder Wirtschaftszweige treffen. Die unterirdischen Reichtümer des Kongo rufen nicht nur bei großen Industrieunternehmen Begehrlichkeiten hervor, sondern eignen sich auch zur Finanzierung lokaler Bürgerkriege. In überaus investigativen Nachforschungen der NGO-Szene stellt sich heraus, daß im Handel mit irgendeinem Mineral nichts nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Der abwesende Staat hat kaum Mittel, um den Handel effektiv und maßvoll zu kontrollieren und so bleibt auf internationalen Druck nur die administrative Keule: die Grenze zum Nachbarland wird geschlossen für den offiziellen Export des fraglichen Minerals. Das treibt den einzigen Arbeitgeber der Region mangels Absatzmarkt seit dem Grenzschluß zur Untätigkeit verdammt in den Bankrott, mit ihm die von ihm unterhaltenen Schulen und Krankenhäuser, hungrige Familien widmen sich mit neuer – von der Not erzwungener – Leidenschaft dem informellen artisanal mining, und exportieren im Schutz der Nacht den mineralischen Urheber allen Übels weiter über die Grenze, aber das taucht in der nationalen Exportstatistik nicht mehr auf und ist den Scheinwerfern der internationalen Aufmerksamkeit entzogen. Der Staat und die Provinz haben einen Steuerzahler weniger und erhöhen deswegen die Abgaben auf die verbliebenen Unternehmen noch weiter. Selbst wer offiziellen Beschäftigungen nachgehen könnte, wird dies tunlichst vermeiden, denn jeder Gang zum Amt kostet Geld – dumm, wer sich eine staatliche Lizenz zum Holzfällen oder zur Bewirtschaftung seines Landes oder dem Betrieb seines kleinen Geschäfts holt und danach von den staatlichen Behörden regelmäßig geschröpft wird. Infolge der Flucht in die informelle Wirtschaft zahlen weniger Bürger und Unternehmen Steuern, so daß der Staat – immer noch notorisch unterfinanziert –die Abgaben erhöht. Jetzt wird jeder mit einem Minimum an Geschäftssinn begabt Mensch erst recht nicht die Registrierung suchen, sondern sich tunlichst ducken.
Möchte man aber der Wirtschaft Luft verschaffen, indem man die ganzen Abgabenlast abschafft, geht der Staat pleite und die Beamten halten sich an anderer Stelle schadlos. Gleichzeitig kann ein bankrotter Staat erst recht keine Straßen bauen, keine Flüsse ausbaggern, keine Schulen erhalten.

In der Zwischenzeit sind die Tropenhölzer – schwimmend oder auf Schiffen – und die paar Sack Kaffee, die das Land noch zu bieten hat, in Kinshasa angekommen. Weiter geht es nicht zu Wasser, denn zwischen der Hauptstadt und dem Hafen liegen unschiffbare Stromschnellen, die seinerzeit schon Leopold II vor erhebliche Hindernisse stellten und dem Kongo den traurigen Ruf als grausamste Kolonialherrschaft in Afrika eintrugen. Auf dem Weg zum Hafen ist der LKW möglicherweise noch derselbe, der Fahrer hat vermutlich gewechselt, nachdem der exorbitante Spritverbrauch auffällig wurde und nach verschärften Kontrollen die privaten Entnahmen aus dem Tank aufgeflogen sind. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit ist es leicht, neue Fahrer zu finden, zwei Runden probeparken im Hof reichen als Empfehlung völlig aus. Verläßliche und ehrliche Fahrer zu finden ist hingegen beinahe unmöglich, sobald ein Fahrer in Lohn und Brot steht, meldet die erweiterte Verwandtschaft immer neue Bedürfnisse an, die mit dem regulären Lohn nicht zu decken sind. Angesichts der sozialen Strukturen, Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten kann sich der Verdiener den Ansprüchen aber auch nicht entziehen, wird früher oder später schwach, nutzt die sich ihm bietenden Möglichkeiten und wird dann – eher früher als später – gefeuert. Wieder einmal die Wahl zwischen Pest und Cholera für den Unternehmer: die hohe Fluktuation im Personal kostet Geld, Diebstähle allerdings eben so. Auch beim Export machen sich die Waren noch einmal nützlich und verschaffen dem Staat Einnahmen. Oder alimentieren zumindest die Bürokratie. Ob die Einnahmen den administrativen Aufwand rechtfertigen, weiß – wie so viele Dinge – niemand genau. Nicht weniger als fünf Behörden in zwei Städten sind beim Export zu konsultieren, manchmal mehrfach, etliche Unterschriften auf noch mehr Formularen sind zu sammeln, in Abwesenheit der Post werden die Dokumente von Kurieren von einer Behörde zur nächsten spediert, bis der Container wieder im Hafen von Matadi steht. Ein letztes Mal straft der Kongo jede Wirtschaftsweisheit lügen: Liege- und Ruhezeiten kosten Geld, aber obwohl Geld knapp ist und Zeit Geld, können Tage vergehen, bevor der Container tatsächlich verladen wird.

Immerhin, wenn alles gut geht machen sich neben den Unmengen Containern, die das Land leer verlassen, auch einige gefüllte auf den Weg in die Welt und verschwinden irgendwann im Netz der internationalen Logistik.

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