Freitag, 20. November 2009
Kakerlakenjagd
Ich fürchte, der vorbildliche Jean Paul ist bei der von mir erbetenen Kakerlakenjagd in der Küche nicht so vorbildlich gründlich vorgegangen wie erhofft. Gestern Abend leere Weingläser in die Küche getragen, auf der Spüle abgestellt. Licht ausgemacht. Zehn Minuten später Wasserflasche geholt. In der kleinen Restpfütze Rotwein eine fette Kakerlake, sicherlich fünf bis sechs Zentimeter lang. Was nun? Fragt sich die Dame des Hauses in Abwesenheit männlicher Mitbewohner. Vor wenigen Tagen hätte ich immerhin eine Runde kreischen können, um den Mann im Haus aufzuscheuchen, aber in einer reinen Mädchen-WG ist das keine Option mehr.
Ich habe minutenlang mit mir gerungen: Viech sitzen lassen oder Viech töten. Sitzen lassen schien mir sehr unzivilisiert, also habe ich als nächstes bestimmt zwei Minuten die Option Viech töten und die möglichen Verfahren erwogen. Wasser schien mir gut geeignet, hatte ich doch letzte Woche erst eine ersoffene Kakerlake in einem Wasserglas morgens gefunden.
Leider war das Wasserglas hoch und schmal, das Weinglas hingegen flach und rund und nachdem ich einen Schwall Wasser hineineingeschüttet hatte, zappelte die sechsbeinige Untermieterin verzweifelt mit den Beinchen und Fühlern – war also lebendiger denn je und keineswegs am ersaufen. Auch das habe ich sekundenlang beobachtet und irgendwann dauerte das Tier mich doch, so daß ich dachte: der Qual muß ich ein Ende bereiten. Rausfischen und totschlagen? Angesichts der Größe nicht wirklich appetitlich. Mit angewidertem Geist und spitzen Fingern trug ich also das Weinglas in die Toilette und leerte es über der Kloschüssel. Noch bevor ich spülen konnte, krabbelte mir die Kakerlake flink am Schüsselrand entgegen und hockte sich unter die Brille. Es folgte das nächste gedankenschwere Intermezzo. Was nun? Ich klappte die Brille hoch, dort saß die Kakerlake, parallel zum Schüsselrand. Auch wenn ich mich mittlerweile zu äußerster Gewalttätigkeit und Kakerlakenmord in der Lage fühle – meine Schuhe wollte ich eigentlich nicht schmutzig machen. Eine Zeitung nehmen? Andere Schuhe holen und drei Tage nicht tragen in der Hoffnung, das daran klebende Kakerlakenblut verdrängen zu können? Karton? Pappe? Sonstige Totschlagwerkzeuge? Bis ich mich entschieden hatte und den Flipflop in der Hand hielt –war der Kloschüsselrand leider schon leer und das Viech verschwunden.
Innerlich zitternd vor Grusel und Ekel klappte ich den Deckel runter, die Kakerlake wieselte zwischen den Scharnieren hervor und verschwand zwischen den an der Wand aufgereihten Wasserkanistern. Derer fünf, entfernte ich langsam einen nach dem anderen, jederzeit auf feindliche Attacken gefaßt. Beim dritten Container verschwand das Insekt hinter dem vierten, dann hinter dem fünften, und verkroch sich in der hinteresten Ecke. Mittlerweile hatte ich Mut gefaßt und war vom Jagdfieber erfüllt – zudem stand mir mit den Kanistern die perfekte Tatwaffe zur Verfügung: mit Schwung schmetterte ich den Kanister auf die Kakerlake – leider hatte die gewählte Tatwaffe keinen ebenen Boden. Nach dem zweiten, dritten Anlauf zappelte das eklige Viech auf dem Rücken liegend, Beine und Fühler zuckten, noch zwei Mal ließ ich den Kanister mit der Kante gezielt niedersausen, bevor endlich Ruhe war. Irgendwann hatte es leise geknackt bei einem besonders wohlgezielten Schlag, nun Matsch und Schleim und zerdrückter Körper und kaputte Flügel auf dem Fliesenboden. Als erstes wischte ich den Boden des Kanisters ab, dann breitete ich vorsichtig Toilettenpapier – vielschichtig – über die Leiche und beförderte sie ein letztes, endgültiges Mal in die Kloschüssel. Vielleicht bildete ich es mir, wie ich so in unmittelbarer Nähe der Toilette auf dem Boden kniete, aber es roch deutlich ekliger da unten als auf meiner normalen Höhe. Stinken Kakerlakenleichen so schnell?
Krönender Abschluß des Massakers: das Wasser war schon abgestellt, der Wassertank der Toilette leer und ich konnte das Zeugnis meiner Untaten nicht einmal umgehend in die Kanalisation spülen, sonst mußte zuerst mit den Kanistern Wasser nachfüllen.
Möglicherweise hat meine Mutter recht und ich brauche nach der Heimkehr nicht nur eine vollständige Entwurmung, sondern auch einen Zivilisationskurs, um wieder ein akezptables Mitglied der Gesellschaft zu werden?

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