Ein aufrechter Mensch
Am Montag habe ich mich mit einer jungen Frau getroffen, die ein Alphabetisierungsprojekt in einer Favela betreibt. Sie hat dort ein Haus gekauft und bietet mit ehrenamtlichen und bezahlten Mitarbeitern Unterricht für Kinder wie auch Weiterbildungskurse für junge Erwachsene an. Sie hat mir sehr ausführlich von dem Projekt erzählt und danach eine Runde durch die Favela gedreht („Hier keine Fotos machen, das sind Drogenhändler“) – das beeindruckendste jedoch war sie selbst. Sie entwickelt ständig neue Angebote, betreibt die Zertifizierung ihrer Kurse als offizielle Ausbildung, kümmert sich ums Alltagsgeschäft und arbeitet außerdem auf wissenschaftlichem Niveau daran, Indikatoren zur Evaluierung von NGO Projekten und Controllingtechniken zu entwickeln. Ich habe davon ja nicht sehr viel Ahnung, aber doch sehr den Eindruck, daß ihre Ideen wirklich ausgereift sind. Eine perfekte Mischung aus praktischer Erfahrung und akademisch-theoretischem Anspruch. Vor allem aber bewundere ich das Engagement und die Konsequenz, mit der sie ihr Anliegen betreibt. Sie lebt seit fünf Jahren in Sao Paulo, mittlerweile in der Favela in einem Hinterzimmer, kennt ihre Nachbarn und die lokalen Machthaber und widmet sich hauptsächlich dem Projekt, nebenbei bleibt kaum Zeit für ihre wissenschaftlichen Ambitionen. Und verzichtet dabei auf so vieles. Die meisten Expats führen in Sao Paulo ein durchaus angenehmes Leben, schöne Wohnungen oder Häuser in „gated communities“, Hauspersonal, Ausgehen und Freizeitvergnügen auf europäischem Niveau. Das Leben in Schwellen- oder Entwicklungsländern ist immer anstrengend und erfordert Verzicht auf bestimmte Annehmlichkeiten, bietet aber eben auch manchmal einen Luxus, der in Europa nur den Superreichen vorbehalten ist. Eine Dame der höheren Gesellschaft erzählte abends auf einem Empfang, seit ihr Mann in Rente und keine so exponierte Person mehr sei, hätte sie deutlich mehr Bewegungsfreiheit als vorher und ohnehin sei ihr Wagen ja gepanzert, da müsse man nicht an jeder roten Ampel Angst haben. Die junge Deutsche in der Favela wiederum fand, sie habe aufgrund ihres Lebensstils und der nachbarschaftlichen Verhältnisse und Bindungen deutlich mehr Freiheiten als die meisten übrigen Expats. Kann ich nachvollziehen, trotzdem finde ich, daß sie auf vieles verzichtet. Es beschämt mich, aber ich könnte so nicht leben. Es gibt keine Sache auf der Welt, für die mein Herz so brennt, daß ich diese Härten in Kauf nehmen würde – vielleicht bin ich auch einfach zu verwöhnt und bequem. Ich bewundere ihren Weg ungemein, weil sie mit aller Konsequenz tut, was sie als richtig erkannt hat. Diese Meinung teile ich durchaus, könnte es aber nicht tun. Ich finde es paradox, wenn Mitarbeiter der großen Entwicklungs-Organisationen mit wehender Fahne die Armut anprangern und gleichzeitig in luxuriösen Villen residieren und ohne SUV keinen Fuß vor die Tür setzen. Andererseits sind die wenigsten Menschen so integer und anständig wie die junge Frau in der Favela – mich selbst eingeschlossen. Ohne die Annehmlichkeiten des Expat Lebens, auch wenn sie grotesk wirken im Verhältnis zur Umgebung, gäbe es keine Entwicklungshelfer mehr, fürchte ich. Wäre das dann besser? Weiß nicht, vielleicht ja. Ganz sicher wäre die Welt ein besserer Ort, wenn mehr Menschen so konsequent und aufrecht wären, wie meine neue Bekannte.

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