TrauerFEIER
Letztes Wochenende habe ich mich gedrückt. Mein Französischlehrer, Jadot, hatte angeboten, mir sein Viertel zu zeigen, aber das schien einfach zu kompliziert. Das finanzielle Gefälle zwischen uns macht es mir schwer, die Situation einzuschätzen, und so habe ich letztes Wochenende die Arbeit vorgeschoben. Andererseits möchte ich gerne so viel wie möglich sehen und also habe ich mich am Sonntag doch kopfüber ins Abenteuer gestürzt. Jadot ist halb Angolaner, halb Kongolese, spricht neben Portugiesisch, Englisch und Französisch auch Lingala und Kikongo (zwei der über zweihundert lokalen Dialekte). Vater und Bruder leben in Angola, Mutter und Schwestern hier in Kinshasa. Er hatte schon vor einigen Tagen angekündigt, daß eine Freundin seiner Mutter in betagtem Alter verstorben sei und er mich am Sonntag mit zur Beerdigungsfeier nehmen würde. Um zwölf haben wir uns unten vorm Supermarkt getroffen und sind mit dem Taxi in sein Viertel gefahren, eine Strecke von etwa 15 Minuten. Neben den offiziellen gelb-blauen Taxis gibt es eine Unzahl Schwarztaxis. Meine etwas dümmliche Frage, woher man wisse, welche Autos Schwarztaxis seien und welche Privatfahrzeuge, beantwortete er folgendermaßen: Man hält den Arm raus. Wenn ein Auto anhält, ist es ein Taxi. Sehr einfach.
Das Viertel ist eine Mischung aus Baracken und Wellblechhütten und staubigen, ungeteerten Straßen, die mit Plastikfetzen wie zu groß geratenes Konfetti bedeckt sind. Zwischendurch Abwasserrinnen, in denen schlierig-graue Brühe steht, Wäscheleinen. Frauen sitzen vor den Hütten und rühren Fufu (eine pappige Masse aus Maniok und Mehl) auf offenen Feuern, waschen Kleidung mit eine Nagelbürste auf großen Steinplatten, zumeist spärlich bekleidete Kinder spielen im Dreck. Es ist ein bißchen wie das steinzeitliche Bilderbuch-Afrika, das Europäer aus Büchern kennen, angesichts des tristen urbanen Umfelds jedoch ohne jene existentielle Romantik, die man sich gemeinhin vorstellt. Wir sind eine Weile durch die Straßen gewandert, haben Freunde von Jadot begrüßt (natürlich kennt in diesen Vierteln jeder jeden – meine Auskunft, in Deutschland kenne man häufig selbst seine direkten Nachbarn nur auf Grüßbasis wurde ungläubig zur Kenntnis genommen). Jadot wohnt in einem von mehreren Zimmern, die um einen kleinen Hof gruppiert sind. Wir tauchten unter verschiedenen, tropfenden Wäschestücken hindurch, die Türen sind mit Vorhängeschlössern gesichert. Das Zimmer war keine zehn Quadratmeter groß, ein Bett, ein Fernseher, zwei Poster. Auf Nägeln an den Wänden hingen zwei Kleiderhüllen und einige Hemden. Ich selbst bezahle im Moment knapp zweihundert Euro im Moment für meinen Unterricht, und ich weiß von mindestens einer weiteren Schülerin, so daß er allein mit uns zweien schon nach lokalen Standards zu den Großverdienern gehört. Tatsächlich teilte er den ganzen Tag rechts und links kleine Scheine an unzählige Cousinen und Familienmitglieder aus. Die Kinder in seinem Viertel unterrichtet er offenbar weitgehend umsonst – dafür wurde er überall respektvoll mit eh, Prof! angesprochen. Umso mehr war ich von dem Zimmer überrascht, für das bescheiden wirklich noch ein Euphemismus wäre. Das hatte ich nicht erwartet.

In kürzester Zeit wurde ich unzähligen Menschen vorgestellt: Senegalesen, Kongolesen, Angolaner, dazwischen Einwanderer aus Mali und anderen westafrikanischen Staaten. Die Frauen waren fast immer mit irgendeiner Tätigkeit beschäftigt, die Männer trafen wir im gehen auf der Straße. In einer Straße trafen wir dann auf das, was man wohl technisch „Trauergesellschaft“ nennen müßte, aber keineswegs traurig war. Wenn alte Menschen sterben – wie die in Frage stehende Dame Maman M. – sei das kein Grund zur Trauer, wurde ich belehrt, sie habe schließlich ein erfülltes Leben hinter sich und sei nun als gute Katholikin auf dem Weg ins Paradies. Ganz im Gegenteil also ein Grund zum feiern. Auf der Straße waren etliche große Lautsprecher aufgestellt, eine dreiköpfige Band spielte angolanische Musik, unter mehreren weißen Zelten, wie sie auf deutschen Gartenparties vor einigen Jahren angesagt waren, saßen Menschen in ordentlichen aufgereihten Plastikstühlen. Überall wuselten Menschen herum. Die Männer tragen meistens westliche Kleidung, an einem feierlichen Anlaß wie diesem oft Anzüge oder Kombinationen. Ein winziger, gebeugter alter Herr trug mit großer Würde einen kamelfarbenen Trenchcoat mit Hut. Die Frauen hingegen sind zumeist in lokaler Tracht. Man kann hier überall auf der Straße für wenig Geld einige Meter buntbedruckten Stoff kaufen, gerne mit umlaufender Textkante oder bunten Plaketten: L’indépendance du RDC oder Jésus est mon saveur. Der Stoff wird zu knöchellangen Röcken, bevorzugt in figurschmeichelnder Godet-Form geschnitten, die Oberteile kommen in allen Variationen von hochgeschlossen bis schulterfrei, ärmellos bis glockig, verziert, belitzt und berüscht, wie es die Trägerin wünscht. Überhaupt halten die Menschen sich unglaublich gerade, und besonders die Frauen habe eine ganz eigene Eleganz, wenn sie in oftmals hohen Absätzen über die lebensgefährlich unebenen Straßen schreiten. Mehr als einmal hätte ich von der Figur und Bewegung auf eine junge Frau geschlossen und war überrascht, im Gesicht unendlich viele Linien zu sehen: ich kann nicht sagen, ob dies nun alte Frauen von jugendlicher Anmut waren, oder junge Frauen mit früh gezeichneten Gesichtern. Lokale Trachten entfalten in meinen Augen ohnehin immer eine ganz eigene Eleganz außerhalb europäisch-optischer Maßstäbe. Darüber hinaus bin ich immer wieder verblüfft, wie es den Menschen – vor allem Männern – hier gelingt, westliche Kleidung in Kombinationen, die jede Person zu Hause unweigerlich der totalen Lächerlichkeit preisgeben würden, mit Würde und Eleganz zu tragen. Mir fällt die Zusammenstellung auf, aber ich finde es nicht lächerlich oder unpassend.

Gegenüber einem der Zelte wurden drei Stühle etwas abseits für uns aufgestellt, ich in der Mitte, zur rechten Jadot und zur linken wechselnde Freunde von ihm. Jadot schlug vor, eine Handvoll Erdnüsse zu kaufen und wehrte meinen Versuch, zu bezahlen ab: C’est l’homme qui paie. In solchen Momente wünschte ich, ein Mann zu sein, dann bliebe mir wenigstens eine Dimension potentieller Verwicklungen erspart. Die Menschen tanzten auf der Straße, tanzen gehört quasi zum Lebensstil, selbst die ganz kleinen Mädchen schwingen schon die Hüften. Ungefähr zwanzig vorwiegend jüngere Menschen – Männer wie Frauen – waren alle einheitlich mit dem gleichen Stoff bekleidet. Viele Jungs trugen nur einen Meter umhangartig um die Schultern geschlungen, andere sauber genähte Hemden, die Mädchen zum Teil simple Wickelröcke, zum Teil jedoch aufwendig genähte Oberteile. Bei den einheitlich gewandeten Personen handelt es sich um Enkelkinder der Verstorbenen – einundvierzig an der Zahl, die sich durch die spezielle Kleidung von der Masse absetzen. Traditionell müssen die Verwandten der ersten Generation eine bestimmte Summe Geldes an die Enkel zahlen, um diese zu möglichst ausdrucksvollem Tanzen, sowohl vor und nach der Beisetzung als auch während des Geleitzuges zu motivieren. Im Gegenzug wird von sämtlichen Enkeln erwartet, daß sie mit zum 30 km entfernten Friedhof fahren und die jungen Männer den Sarg tragen.
Ich nehme an, daß ein Tod folglich eine teure Angelegenheit ist: Kleider kaufen und nähen lassen, Musikanten bezahlen, Sarg, Begräbnis und Beisetzung plus die Feier und die Bezahlung der Enkel. Sterben scheint ein teures Vergnügen zu sein. Dafür schienen alle großen Spaß zu haben. Viele Menschen saßen einfach nur da, sehen und gesehen werden. Nach ungefähr einer Stunde verkündeten die Enkel unter großem Hallo ihre Forderung von 500 USD für ihre Dienste. Es folgten Verhandlungen auf der Straße, Menschen liefen hin und her, am Ende wurden die fünfhundert akzeptiert. Eine zehnköpfige Blaskapelle hob an – damit alle zusammen gehen können, wurde ich belehrt – und der Sarg wurde herausgetragen. Während dieser überaus fröhliche Trauerzug eine Runde durchs Viertel drehte, erfolgte die Zahlung der älteren an die jüngeren Verwandten und auf der Hauptstraße fuhr der Leichenwagen vor.

Nach dem Abzug der Begräbnisgesellschaft versammelte sich der Rest des Viertels wieder unter den Zelten, ich folgte Jadot und einigen anderen Grüppchen in eine Bar. In einem Innenhof unter zwei Bäumen standen umgedreht Bierkisten und Stühle um mehrere Tische, auf einer Bühne widmeten sich Musiker dem Techniktest. Jadots Mutter wolle mich zu einem Bier einladen, erklärte mein Gastgeber – das schien mir etwas sonderbar, weil sie keineswegs mit uns gehen wollte. Nachdem ich früher schon belehrt worden war, der Mann müsse zahlen, löste ich die Geldprobleme, indem ich Jadot kurzerhand zehn Dollar zuschob und erklärte, jetzt möge er alles bezahlen. Mich verunsichern solche Situationen unendlich: einerseits möchte ich die Großzügigkeit anderer Menschen mit deutlich weniger Mitteln nicht ausnutzen, andererseits möchte ich ihre Generosität auch nicht durch unangemessene Geldangebote entwerten. Diesmal hatte ich offenbar das richtige getan, Jadot schien erfreut und schlug vor, einen Blick auf die angebotenen Speisen zu werfen. Auf einem Tisch standen zwei Töpfe und einige in Bananenblätter eingewickelte Würste Fufu. Der eine Topf enthielt Schweinefüße - ganz einwandfrei als solche erkennbar – in Brühe, der andere gebratene (?) - gekochte (?) Schmetterlingsraupen. Die Raupen waren von schwarz-scheckiger Farbe, sahen etwas verkohlt aus und schwammen in einem Sud bräunlicher Brühe. Ich kann nunmehr vermelden: sie schmecken nicht sehr appetitlich. Die Konsistenz ist zäh wie Gummi, ähnlich wie zu lange gekochtes Fleisch, und der Geschmack war ganz anders als Hühnchen, schlicht undefinierbar mit einem Hauch Steinkohle. Obwohl ich beherzt zugegriffen hatte, fühlte ich mich bei der zweiten Raupe in meine Kindheit zurückversetzt, wo ich den Würgereiz gewaltsam niederkämpfen mußte, wenn meine Mama mir bestimmte Lebensmittel aufzwingen wollte. Dankenswerterweise war Bier zum runterspülen zur Hand. Von weiteren Raupen habe ich dann abgesehen und war sehr erleichtert, als Jadots Mama sich der Reste annahm – Raupen zählen offenbar zu ihren Lieblingsgerichten. Fortsetzung folgt, Jadot möchte mich gerne bei seiner Mutter zu traditionellem kongolesischen Essen einladen. Die nächste Herausforderung für meinen solide europäisch geprägten Appetit ist also schon in Aussicht.

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jean stubenzweig, Mittwoch, 26. August 2009, 14:48
So ist das eben, wenn man von Einheimischen durch deren Einheimisches geführt wird: es wird farbenfroher, abwechslungsreicher – Dank an alle Beteiligten. Ich harre der Fortsetzung.

damenwahl, Mittwoch, 26. August 2009, 20:23
Die kommt hoffentlich bald. Ich bin ja selbst durchaus gespannt. Meine Kollegen sagen, Kongolesen laden sehr selten zu sich nach Hause ein - meistens dann, wenn sie etwas wollen. Ich bin selber gespannt, ob es eine Fortsetzung geben wird.

Gestern jedenfalls war ich mit einem ganz anderen jungen Mann essen. Im Ausland studiert und gearbeitet, eigenes Auto (Geländewagen, natürlich), ambitioniert, kritisch, gebildet. Spannend. In dieser Stadt liegen unterschiedliche Welten so ungemein nah beieinander - und berühren sich doch so selten.