Eine Frage der Perspektive
Hätte mir jemand vor zehn Jahren prophezeit, ich würde heute in Afrika leben, ich hätte ungläubig den Kopf geschüttelt, laut gelacht, oder beides. Ich bin immer gerne gereist und war neugierig genug für mein Alter, aber Afrika war jenseits meiner Vorstellungskraft. In dem Provinznest, in welchem ich die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens verbracht habe, stand am Eingang ein Schild: Partnerstadt von Kalemie, Zaire. Darunter eine Landkarte und Werbung für ein Waisenhaus. Damals war ich zehn Jahre alt und hatte keinerlei Vorstellung von Zaire, außer einer gewissen Faszination für dieses klangvolle Wort. Heute horche ich immer auf, wenn jemand hier in Kalemie war und würde gerne selbst hinfahren, aus purer Nostalgie. Leider liegt Kalemie am anderen Ende des Landes und Städtetrips sind bei den örtlichen Reiseagenturen nicht im Angebot.
Wenn ich mich in meinem Umfeld zu Hause anschaue, bin ich leider ein Verlierer. Eine Bekannte reicht gerade ihre zweite Dissertation ein. Eine ehemalige Freundin schmückt ihre Visitenkarten inzwischen mit dem Titel Vice President Global Derivates Junk - oder so ähnlich – bei einer großen Pleitierbank, die kurz vor der Zerschlagung steht. Für ein Paar Stiefel gibt sie mehr Geld aus, als ich zuletzt in Deutschland für die monatliche Miete. Meine ehemaligen Kollegen dürfen sich inzwischen immerhin alle Assistant Manager nennen. Einer der letzten verbliebenen Freunde in der Provinz ist seit kurzem stolzer Besitzer eines Eigenheims. Eine andere Freundin hat alle ihre Karriereziele bereits jetzt erreicht und einen von-und-zu-mit-Schlößchen geheiratet. Ich hingegen bin Consultant und auf meiner Visitenkarte steht nur mein Name, weil ich im vergangenen Jahr sechs verschiedene Telefonnummern in fünf verschiedenen Ländern hatte. Ich teile das Wohnzimmer mit einem bindungsunfähigen Briten Ende Dreißig, die Küche mit einer Familie Kakerlaken und im Schlafzimmer leistet mir allenfalls ein Gecko Gesellschaft. Mein Vertrag wird heute für eine Woche verlängert und morgen für zwei Wochen verkürzt, das weiß ich immer erst genau, wenn es soweit ist. Gemessen an den Maßstäben meines heimatlichen Umfelds habe ich allenfalls in Entfernungskilometern weit gebracht.
Allerdings erlebe ich jeden Abend den schönsten Sonnenuntergang der Welt und kein Tag ist wie der vorherige. Das ist immerhin etwas.

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arboretum, Mittwoch, 4. November 2009, 17:34
Ach, in die Dissertation ist schon so mancher vor der Arbeitslosigkeit geflüchtet. Und wer weiß, ob ihre ehemalige Freundin nicht so manchen teuren Kauf aus Frust tätigt und wie glücklich und zufrieden die Assistant Manager tatsächlich mit ihrem Dasein sind. Wie alt ist denn der von-und-zu und wie gut funktioniert die Heizung im Schlösschen? Womöglich ist da irgendwo der Schwamm drin oder gar im Mann. Ein gemeinsamer Hausbau oder -kauf hat übrigens schon so manche Ehe ruiniert, mir sind einige Beispiele persönlich bekannt.

Sie aber erleben mehr als all die zusammen und sehen Abend für Abend den schönsten Sonnenuntergang der Welt.

damenwahl, Mittwoch, 4. November 2009, 17:44
Hach - Danke! ... da haben Sie im Rundumschlag einmal alle abqualifiziert. Wunderbar, genau das wollte ich hören. Sie haben natürlich recht, ich bin ziemlich sicher, daß Miss Superstiefel nur so halb glücklich ist und den Herrn mit Großbesitz würde ich geschenkt nicht haben wollen, weil er entsetzlich dumm sein muß, wenn er es mit der Frau aushält.
Ohne direkt unzufrieden zu sein stelle ich nur gelegentlich fest, daß ich mit den Statussymbolen des gemeinen Arbeitnehmers nicht sehr üppig ausgestattet bin. Und möchte dann von jemandem bestätigt bekommen, daß es darauf nicht ankommt.

arboretum, Mittwoch, 4. November 2009, 17:59
Abqualifizieren wollte ich die anderen nun nicht direkt, sondern lediglich zu bedenken geben, dass von außen betrachtet der Schein oft schöner ist als das Sein.

Der Mangel an Statussymbolen ist auch gar nicht so schlimm, es lebt sich doch recht gut ohne. Blöder ist, dass das zumeist einhergeht mit fehlender oder mangelhafter Altersvorsorge. Aber über die muss sich womöglich Ihre Freundin von-und-zu auch Gedanken machen - es ist ja nicht sicher, ob der Herr mit dem schwammigen Hirn sie nicht eines Tages gegen eine jüngere Gattin austauscht. Die Herren von-und-zu mit Schlösschen schließen aber auch ganz gerne Eheverträge ab. Heutzutage haben die Blaublüter ja auch nicht mehr so viele Schlösser, wohin sie die Ex-Frauen verbannen können.

damenwahl, Mittwoch, 4. November 2009, 18:09
Sie haben jedenfalls den schönen Schein relativiert.

Manchmal komme ich mir in Gesellschaft der alten Kommilitonen und Kollegen so schäbig vor und befürchte, daß sie mich bestenfalls für einen reichlich komischen Vogel halten und schlechtestenfalls innerlich lachen, wenn sie mein leeres Visitenkärtchen sehen und ich auf die Frage "Und wie lange bleibst Du dort?" immer sagen muß: "weiß nicht, Vertrag für x Monate". Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, aber an schlechten Tagen ist es sehr leicht, mich kleinzumachen.

Mit den Schlössern haben Sie natürlich recht. Eine Bekannte meiner Eltern steht mit nichts als den Kleidern auf ihrem Leib auf der Straße - das ist auch kein schönes Schicksal.

ilnonno, Mittwoch, 4. November 2009, 19:39
Ihr Weg zeugt von einer erheblichen Portion Mut. Dafür meine Hochachtung. Mutige Frauen sind selten.

mmmb, Mittwoch, 4. November 2009, 19:39
Mir scheint es so, als würden Sie das machen, was Ihnen Freude bereitet - und das ist mit keinem Geld der Welt zu bezahlen!
Die Personen, die die Nase darüber rümpfen, haben nach meiner Erfahrung einfach nicht den Mut das zu tun, was ihnen wirklich Freude bereiten würde.

Von den VPs diverser Finanzinstitutionen kenne ich ein paar und ich bleibe dabei: Das Gehalt ist natürlich nett, aber ich würde mit KEINEM von denen tauschen wollen. Aus meiner Sicht macht man was falsch im Leben, wenn man zwar VP bei den Goldmännchen im Big Apple ist, gleichzeitig aber die Partnerin, die als leitende "Schlüsselkundenbetreuerin" bei einem großen US-Konsumgüterhersteller auch keine Freizeit hat, mit dem Nachwuchs weiter in FFM wohnt und man Frau und Tochter maximal 4x im Jahr für ein Wochenende sowie für höchstens 2 Wochen gemeinsamen Urlaub sieht. Ach ja, man hört, die Eltern suchten direkt für die Einschulung des Kindes im nächsten Jahr ein elitäres Internat im Ausland. Die Kurze hat mein zutiefst empfundenes Mitleid...

Meine Ex (die Schwester der oben genannten Dame) hingegen hat sich überlegt, dass ihr meine mangelnde Bereitschaft mich o.g. Lebensbedingungen zu unterwerfen oder zumindest meine Seele an McK, BCG, etc. zu verkaufen, arg missfällt. Daher hat sie sich inzwischen zwar keinen Von-und-zu, dafür aber den jüngsten Spross einer bekannten Unternehmerfamilie geangelt. Nun, ich kenne beide Personen, ebenso wie seinen älteren Bruder, und ich kann -wirklich völlig ohne Groll- zwei Dinge sagen: 1. Die beiden haben sich verdient. 2. Bei dem Ehevertrag, den ihr künftiger Schwiegervater seinem Ruf nach diktieren wird, würde sie nach einer Scheidung ebenfalls nur im Hemd dastehen.

Dagegen mache auch ich das, was mir Freude bereitet: Ich bin noch eine Weile an der Uni geblieben, was natürlich im Vergleich zu obigen Tätigkeiten weniger gut entlohnt wird. Dafür stricke ich mit Freude an meiner Diss, darf nebenbei ein paar spannende Praxisprojekte durchführen, weiterhin eine der schönsten Städte Deutschlands genießen und immer wieder herzlich lachen, wenn ich auf die ganzen Poser aus dem Alumniclub meiner Alma mater treffe. Nur wirklich jeden Abend atemberaubende Sonnenuntergänge - die habe ich hier leider nicht... :-)

damenwahl, Mittwoch, 4. November 2009, 20:49
Ich bin ja immer wieder begeistert von meinen Lesern (und gerade vom Internet bei mir zu Hause - läuft - ein Novum). Ich brauchte heute einfach ein bißchen nette Bestätigung und daß das so prompt geliefert wird - wunderbar!
Ilnonno, ich kenne eine ganze Reihe Damen, die genauso ticken wie ich - wobei ich noch nicht verstanden habe, was uns treibt. Aber es gibt sie in Massen - im Kongo. Dennoch danke für die Blumen.

Natürlich, mmmb, ist Freude an der Arbeit das Wichtigste, und die habe ich. Was das Arbeitspensum betrifft muß ich mich zwar nicht verstecken vor den Beraterkollegen, aber das Umfeld ist ganz anders - und ein stetiger Quell der Freude. Davon abgesehen kann ich Sie gut verstehen, ich würde mit den IB-Hanseln auch nicht tauschen wollen und die Fachidioten, die meine Alma mater in die Welt entläßt, interessieren mich auch männertechnisch nicht die Bohne.
Nur aus Neugier: welches ist denn Ihre "schönste Stadt"?

mmmb, Donnerstag, 5. November 2009, 01:46
Sehen Sie es als kleines Dankeschön für die Freude, die Ihre Seite den Lesern bereitet. Ich tummle mich hier sehr gerne, weil mich immer wieder das Fernweh packt und ich selbst aber zumindest bis zum Abschluss der Promotion örtlich gebunden bin.
Meine schönste Stadt? Nunja, obwohl ich sie immer wieder als recht farbenfroh erlebe, sagt der Volksmund, sie sei schwärzer als schwarz, aber noch nicht so schwarz wie Paderborn. ;-)

conma, Donnerstag, 5. November 2009, 09:41
Liebe Frau Damenwahl. Auch ich möchte Sie ein wenig bestärken in Ihrem Weg. Heimlich oder auch unheimlich beneidet Sie doch zumindest die Fangemeinde Ihres Blogs.
Gestern habe ich ein interessanten Artikel über einen Wissenschaftler gelesen, der sich mit hochauflösenden Lichtmikroskopen beschäftigt. Während seiner Disssertation vor ca. 20 Jahren (ob er damit der Arbeitslosigkeit entfliehen wollte, weiß ich nicht) kam er zu dem Thema und es ließ in nicht mehr los. Da dieses Gebiet nicht zu den Kerngebieten seines Doktorvaters gehörte, konnte er nach dem Abschluss dort nicht bleiben. Er bekam ein Stipendium bei einem europäischen Forschungsinstitut in Deutschland, konnte aber, weil es kein deutsches Institut war, nicht von der DFG gefördert werden. Er suchte sich "Dummy"-Profs an Unis und bekam eine Zeitlang DFG-Förderung. Als die DFG auf diesem Gebiet einen Sonderforschungsbereich eröffnete, durfte er nicht mitmachen, weil er in der Community als Spinner bekannt war. Er ging dann mehrere Jahre nach Finnland und forschte dort weiter. Um es kurz zu machen, heute ist er der Experte auf dem Gebiet, hat zahlreiche Rufe auf Professorenstellen, u.a. in Harvard, abgesagt und ist jetzt Chef eines Max-Planck-Instituts. Auf die Frage, was ihn zum Durchhalten ermuntert hat antwortete er: "Es hat mir Spaß gemacht, sonst hätte ich das nie geschafft".

damenwahl, Donnerstag, 5. November 2009, 14:02
mmmb, schwärzer als Paderborn? Schwer vorstellbar...
Solche Geschichten, conma wärmen mir immer das Herz. Dann besteht ja vielleicht doch noch Hoffnung, daß aus mir was wird. Andererseits: ich würde kein anderes Leben haben wollen, so wie es ist, ist es immerhin spannend. Zu beneiden hingegen bin ich im Moment nicht, mein Chef ändert stündlich meinen Vertrag, bis zum 28.11., dann bis zum 18.12., dann waren wir bei 15.12., gestern bei 21.11., danach bei 06.12. - mal sehen, was er nach dem Mittagessen meint. Anstrengend, um nicht zu sagen: nervenaufreibend.

mmmb, Donnerstag, 5. November 2009, 18:15
Nicht ganz: Die Stadt liegt mittig im Dreiklang "schwarz < ... < Paderborn", räumlich ca. 80-90 km nordwestlich von Paderborn und dient als Namensgeber für die ganze Region. Auch hat die Stadt ihren eigenen Bischof - sollen die Paderborner ihren behalten. :-)

damenwahl, Freitag, 6. November 2009, 09:28
Aha. Ich war da noch nie, soweit ich mich erinnere, bin aber unsicher, ob das Paderborner nachtschwarz zu überbieten ist. Aber: hübsch!

miner, Donnerstag, 5. November 2009, 14:16
die oben beschriebenen geradlinigen „einheitsgestalten“ laufen zu millionen rum. somit sind sie als inflationär und eben drum als nicht begehrenswert zu betrachten ;-)
sei einfach froh, dass Du da nicht ein teil von bist.

ich habe da ein passendes gedicht, ist eines meiner liebsten. wahrscheinlich kennst Du´s schon. wenn nicht, dann lernst Du es eben jetzt kennen:

http://www.bartleby.com/119/1.html

viele güsse aus dem herbst

damenwahl, Donnerstag, 5. November 2009, 17:18
Schönes Gedicht. Kannte ich, aber immer wieder lesenswert.
Und natürlich, die geradlinigen Gestalten sind so langweilig, daß ich davon nicht mal zuviele in meinem Freundeskreis haben möchte, geschweige denn selber einer sein.