Unaussprechliche Sehnsucht

Die Musik schliesst dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äussern Sinnenwelt, die ihn umgibt und in der er alle bestimmten Gefühle zurücklässt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben.
E.T.A. Hoffmann


An manchen Tagen habe ich doch ein bißchen Heimweh, nach irgendeinem Zuhause. Habe ja im Moment und in absehbarer Zukunft keines. An sentimentalen Tagen wie diesem wäre ich gerne seßhaft, um alle meine Habseligkeiten, Bücher, CDs, Möbel endlich wieder auspacken und um mich herum versammeln zu können. In Wien – ja, ausgerechnet da! – habe ich nichts mehr vermißt als meine Musik. Mein bestes Weihnachtsgeschenk letztes Jahr habe ich mir selber verehrt, eine kleine aber großartige externe Festplatte. Da paßt alles drauf, was mir lieb und teuer ist – leider waren die Weihnachtsfeiertage zu kurz, um alles zu überspielen, obwohl ich die gesamte Familie zur Mithilfe zwangsverpflichtet hatte. Immerhin, die dreihundert wichtigsten Aufnahmen sind mit mir in die Staaten ausgereist. Nun leide ich zwar unter der unsäglichen Tonqualität meins Notebooks (meine geschätzten ALR Jordan Boxen lagern ebenfalls im elterlichen Haushalt), aber das ist Jammern auf hohem Niveau.
Ich bin völlig närrisch nach Musik, schon immer gewesen. Als junges Mädchen schwärmte ich vor allem für Baßstimmen. Mit fünfzehn war ich entsetzlich verliebt in den Baßbariton am lokalen Opernhaus. Meine Schulfreundinnen trugen Fotos von Robbie Williams oder den Ärzten im Portemonnaie mit sich herum – ich wollte auch mittun und hatte ein Foto meines Lieblingssängers aus dem Jahresprospekt ausgeschnitten. Das Highlight jener Jahre war mein Schulpraktikum in der Oper – neben vielen ereignislosen Tagen im Kostümfundus über diversen Sortiertätigkeiten durfte ich einen Abend den Tontechniker begleiten – in die Zauberflöte und ins Zauberland der Technikkabine. In der Pause nahm der Techniker mich brav mit in die Kantine, wo ich mich verlegen und schüchtern im Türrahmen herumdrückte und die Objekte meiner Bewunderung aus nächster Nähe anstaunen durfte – bis fraglicher Baß eintrat und mich anlächelte. MICH anlächelte! Ich ging eine Woche lang auf Wolken... mindestens.*
Mittlerweile habe ich mich in meiner Narretei auf Tenöre verlegt. Heldentenöre, bevorzugt. Ich wäre vermutlich wahnsinnig genug, einen Tenor mit schöner Stimme vom Fleck weg zu heiraten, bei Musik verliere ich jegliche Kontrolle über meinen Verstand. Leider habe ich noch nie einen Antrag von einem Sänger erhalten – der Realitätstest steht also noch aus.

Mein Musikgeschmack ist wenig wählerisch: ich mag immer das am liebsten, was ich gerade höre. Lieblingsmusik gibt es nicht. Ungeliebte Musik auch nicht wirklich, wobei ich zugeben muß, daß mein Horizont bei Zwölftonmusik an seine Grenzen stößt.
Ich habe auch kein schlechtes Gewissen, Werke zwei- und dreifach zu erwerben. Meine erste Opern-Gesamtaufnahme war die Zauberflöte, mit sechzehn Jahren innigster Geburtstagswunsch, zusammen mit der passenden Partitur (NMA, natürlich). Aber dann erschien vor einigen Jahren die Aufnahme mit William Chr*stie und Les Arts Fl*rissants– leider in Preisklassen die sich bei studentischem Budget verbieten. Glücklicherweise kamen irgendwann bessere Zeiten und Gelegenheiten – in Form eines Saturn-Marktes zwischen meiner Wohnung und dem Fitneßstudio meiner Wahl. Immer wenn es an der rechten Motivation zum Sport mangelte (also oft) blieb ich im Saturn hängen, der eine erstaunlich große Auswahl an klassischer Musik bot. Ich kann stundenlang stöbern, in Aufnahmen reinhören, die Verkäufer mit immer neuen Wünschen in den Wahnsinn treiben, finde mich irgendwann mit vollgeladenen Armen in der Kassenschlange und begreife: ich kann nicht einfach einen dreistelligen Betrag für Musik auf den Kopf hauen, nicht mal als berufstätiger Steuerzahler. Also gehe ich zurück, ringe mit mir, überlege hin und her, und entscheide mich am Ende für zwei Aufnahmen, die nach utilitaristischen Kriterien den größten Nutzen stiften: eine ganz neue, teure Aufnahme von Werken, die ich schon lange begehre und ein oder zwei interessante Schnäppchen. Nach einem solchen Ausflug hatte ich natürlich erst Recht keine Lust mehr auf Sport, weil ich ja meine Neuerwerbungen hören wollte. Inzwischen sucht mich die Versuchung nicht mehr ganz so oft heim, weil es keinen Saturn mehr auf dem Weg zum Fitneßstudio gibt.
Neben der zweiten Zauberflöte konnte ich in fraglichem Saturn auch endlich eine Aufnahme von Verdis Don Carlos in französischer Sprache erstehen. Auf der Wunschliste seit 2003, und seit 2007 in meinem Besitz. Ha! Ich möchte nicht den Oberlehrer geben, aber: Die Oper wurde von Verdi ursprünglich für ein französisches Libretto als Grand Opéra für Paris komponiert, auch wenn sich historisch vor allem die gekürzte italienische Fassung durchgesetzt hat. Berechtigt insofern, als Verdi höchstselbst die Musik an das italienische Libretto anpaßte - aber ich mag die französische Fassung lieber.

Überhaupt Noten und Musik, da brennen bei mir regelmäßig die Sicherungen durch. Ein völlig irrationaler Haben-Wollen Reflex übernimmt die Steuerung und eine halbe Stunde später bin ich arm an Bargeld, aber reich an Neuerwerbungen. Bei antiquarischen Notenhandlungen muß man mich an die Hand nehmen und mit sanfter Gewalt weiterziehen, ansonsten versacke ich und ruiniere mich hoffnungslos. Ich liebe Noten, diese kleinen schwarzen Kullerchen, die für mich den Schlüssel zu tieferem Verständnis der Musik darstellen, jenseits der Grenzen meines unzureichenden Gehörs. Und ich will immer beides haben: die Partitur fürs Verständnis zum Hören und den Klavierauszug zum ausprobieren – bei Mozart komme ich zur Not auch mit der Partitur am Klavier noch zurecht, aber bei Verdi, nein, da mangelt es mir an den notwendigen Fertigkeiten.

Wenn ich könnte wie ich wollte, würde ich auch alle meine Noten und Sekundärliteratur (ganz besonders diese dicke Sammlung) mitnehmen bei meinen Ausflügen nach Übersee – leider wurden solche absurden Nöte von den Fluglinien nicht berücksichtigt bei Festlegung der Gepäckobergrenzen, und so begnüge ich mich vorübergehend mit Hören – und hänge an diesem tristen Sonntag meinem Heimweh nach.

http://scriptorium.lib.duke.edu/mazzoni/exhibit/librettos/D468.html
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Don_Carlo_poster.jpg


*Stelle gerade mit Hilfe von Google fest, daß der Mann immer noch sehr adrett ausschaut und leidlich Karriere gemacht hat - an meinem damaligen Geschmack ist also nichts auszusetzen, außer einer leichten Weltfremdheit.

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jean stubenzweig, Montag, 16. März 2009, 11:59
Die Sopranösen hatten und haben mir's immer angetan. Das ist möglicherweise naheliegend. Aber nicht nur, weil die sich nicht einfach aufmachen in eine andere Stimmlage, sondern meist einfach reifer werden. Und bei manch einer glitt meine Verliebtheit über in Liebe. Aber heiraten? Das muß nicht sein. Die Distanz hält so manches aufrechter und höher.

Der Hinweis auf den französischen Don Carlos nehme ich dankend entgegen.

Was ich suche: Wo ist denn die wunderschöne Schilderung der Klavierspielereien hin?!

Was mir nicht so recht einleuchtet: Namen von Interpreten verfälschen Sie, die von (zudem großen, allzu großen) Händlern aber nicht? Es gibt doch großartige kleinere Ladengeschäfte. Und für die anderen kostenloste Werbung?

damenwahl, Montag, 16. März 2009, 16:10
Ich bin halt naerrisch... und hoffnungslos romantisch.
Der Grosshaendler, ja mei, ich habe ganz einfach nicht drueber nachgedacht und war ein bisschen faul - aber Sie haben voellig recht, werde das bei Gelegenheit aendern.

[Das mit dem Klavier fand ich im Nachhinein nicht mehr so gelungen... aber wenn Sie meinen - bitte sehr, wieder online.]

zonebattler, Montag, 16. März 2009, 15:30
Grüß Gott, gnä' Frau! In Sachen Tonträger-Beschaffung zum Schnäppchenpreis möchte ich Ihnen einen praxiserprobten Vorschlag von mir unterbreiten, der zur erfolgreichen Umsetzung nur ein wenig Geduld erfordert:

http://www.zonebattler.net/2009/02/13/den-euro-umgedreht-4/

Ist schon erstaunlich, was manche Leute mangels Zugang zur Materie schnell wieder loswerden wollen, wobei man sich natürlich fragen kann, wie das betreffende Kulturgut überhaupt in ihren Besitz gelangt ist. Aber egal, gerade Klassik wird oft mit enormen Abschlägen verramscht, weil vielen Anbietern die Maßstäbe fehlen. Probieren Sie es doch einfach mal aus!

damenwahl, Dienstag, 17. März 2009, 04:08
Jaha, da schaue ich regelmäßig hinein. Aber bei Büchern und Musik bin ich eher ein Spontankäufer, der "ich-jetzt-sofort-haben-wollen" Effekt ist bei mir sehr ausgeprägt.

arboretum, Montag, 16. März 2009, 18:16
Nach einem solchen Ausflug hatte ich natürlich erst Recht keine Lust mehr auf Sport, weil ich ja meine Neuerwerbungen hören wollte. Inzwischen sucht mich die Versuchung nicht mehr ganz so oft heim, weil es keinen Saturn mehr auf dem Weg zum Fitneßstudio gibt.

Hmm, die Ausrede zieht eh nicht, denn man kann diese tollen CDs auch auf MP3-Player packen und dann beim Sport hören. ;-)

Ian Bostridge ist leider schon verheiratet - sonst hätte ich ihm vielleicht an jenem Abend spontan einen Antrag gemacht.

damenwahl, Dienstag, 17. März 2009, 03:19
Wunderbare Beschreibung, vielen Dank! B*ostridge habe ich noch nie gehört - dafür Christian Gerh*her, zwar Bariton, aber auch ein Traum.
Die konfligierenden Interessen zwischen Kunst und Sport haben sich ja inzwischen ohnehin erledigt. Wobei Sport und Hausputz die zwei Gelegenheiten sind, bei denen ich auch Popmusik höre - motiviert mich irgendwie mehr.