Anders denken
Mein Französischlehrer lädt mich jeden Sonntag in sein Viertel ein, aber ich mag nicht gehen – das ganze kommt mir etwas sonderbar vor. Er wird langsam zutraulicher und präsentierte mir vergangene Woche erst seine Idee, eine Schule in seinem Viertel zu gründen – wofür ich mich durchaus hätte erwärmen können –, dann den Plan, im Fernsehen aufzutreten und Kommunikation in Entwicklungshilfe zu betreiben. Falls sie dazu Details wissen möchten, muß ich Sie enttäuschen: das hat sich mir noch nicht entschlossen, aber nachdem eine ausführliche Darlegung der finanziellen Bedürfnisse für diese Unterfangen Bestandteil unseres Gesprächs war, verdächtige ich ihn diverser Hintergedanken bei seinen Einladungen. Ein seit langem hier lebender Kollege belehrte mich schon vor Wochen, daß Kongolesen einen zumeist dann nach Hause einladen, wenn sie etwas wollen – das hier ist vermutlich so ein Fall. Letzte Woche fragte er (der Französischlehrer), ob mein Laptop nicht schon recht alt sei (da hat er Recht) und ich mir keinen neuen kaufen wolle (sehe ich nicht ein, da der alte noch funktioniert) – denn wenn, könne ich ihm ja vielleicht meinen alten Rechner abtreten? Anfangs konnte ich die Beschwerden meiner Kollegen, die Menschen hier hätten eine erstaunliche Erwartungshaltung in Bezug auf Großzügigkeit, Geschenke, Geldgaben, nicht nachvollziehen - inzwischen schon. Und mit jedem Tag mehr. Zu Hause würde man für eine solche Bitte den perfekten Moment abwarten und dann sehr vorsichtig eine Andeutung machen, sein Interesse an dem alten Gerät durchblicken lassen. Wohlwissend, daß ein Laptop ungeachtet des Alters ein teurer Wertgegenstand ist, daß man alte Sachen nicht wegwirft, es nie schadet, Altgeräte für Notfälle aufzubewahren, und sowieso niemand etwas zu verschenken hat.
Hier nicht. Ich würde meinen Französischlehrer gerne fragen, was er sich dabei denkt. Möglicherweise ist die finanzielle Kluft zwischen uns – ausgedrückt durch Kleinigkeiten, die für mich alltäglich sind, für ihn jedoch unerreichbarer Luxus: das Essen, die Wohnung – so groß, daß ihm nicht klar ist, daß ein Laptop auch für mich keine kleine Ausgabe ist. Möglicherweise denkt er auch gar nicht darüber nach, welche Wahrnehmung ich habe. Möglicherweise steckt aber eben auch genau jene Denkungsart dahinter, die meine Expatriate Kollegen beklagen: die Weißen sind ohnehin so reich, daß man nicht nur keine Bedenken haben muß, sondern geradezu das Recht hat, von ihnen ein Maximum an Großzügigkeit zu fordern.

Einen Abend vor der Laptop Episode war ich abends im Dunkeln in den Supermarkt um die Ecke gelaufen. Auf den hundert Metern Fußweg begegne ich jedes Mal Straßenjugendlichen, jungen Männer zwischen zehn und siebzehn, die um Geld betteln. Während ich mich normalerweise schwer tue, Bargeld zu geben, war ich an jenem Abend mit meinen Gedanken woanders und der Bengel des Tages sah so mager und bemitleidenswert aus, daß ich einen fünfhundert Francs Schein Wechselgeld (ein halber Dollar) aus der Hosentasche zog und ihm reichte. Schon waren sie zu zweit und ich erklärte, sie mögen das hübsch ordentlich teilen. Wie aus dem Nichts tauchten weitere drei, vier, fünf, sechs Jungs auf, die mir zwischen den parkenden Autos und dem überall herumliegend Schutt gar nicht aufgefallen waren. Sie seien so viele und fünfhundert Franc zu wenig. Ich war etwas eingeschüchtert von der plötzlichen Überzahl, weigerte mich und die Jungs wurden aggressiv, forderten nachdrücklich mehr Geld, griffen in meine Einkaufstüte, zerrten an meiner Handtasche. Ich setzte mich energisch zur Wehr, schubste und drängelte zurück, und nach einigen Metern, nahe der Haustür, gaben sie auf. Die ganze Angelegenheit war ein wenig beängstigend – vor allem das dahinter stehende Aggressionspotential. Wäre ich in einem Auto unterwegs gewesen, hätte es wütende Schläge auf die Motorhaube und den Kofferraum gesetzt, auch das ist hier ganz normal. Kein Tag, an dem nicht enttäuschte Straßenkinder (auch ganz kleine) zornig die passierenden Autos traktieren. Auch da spiegelt sich die Erwartungshaltung wieder, als Weißer müsse man etwas geben, und wenn nicht freiwillig, dann nehmen sie es sich. Oder versuchen es zumindest.

Bedauerlich - aus meiner absolut und zutiefst europäisch indoktrinierten Perspektive - ist, daß einem die Möglichkeit genommen wird, freiwillig und ungefragt großzügig zu sein. Bevor ich jemals dazu komme, Trinkgeld oder kleine Geschenke zu verteilen, wird immer schon eingefordert. Keine Frage, mein Gefühl, daß ein freiwilliges, nicht erbetenes Geschenk mehr wert ist als eines, das eingefordert wurde, mag deplaziert sein in dieser Kultur. Aber abgesehen davon, daß die Menschen hier vielleicht auch das Gefühl haben, nicht auf freiwillige Großzügigkeit warten zu können, weil die Not so groß ist, ist es beispielhaft für die klaftertiefen Gegensätze in der Mentalität und den moralischen Kategorien, die im Alltag zur Anwendung kommen. Ich will gar nicht werten, es ist wie es ist: nicht schlechter, nur anders.

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guenterkrass, Samstag, 5. September 2009, 19:53
Hochinteressante Schilderungen, die sie hier haben.
Ich kenne einiges aus eigener (Urlaubs-)Erfahrung und von den Erzählungen einer Freundin, die lange in Afrika gelebt hat.

Ihr Schreibstil gefällt obendrein.

arboretum, Samstag, 5. September 2009, 22:56
Ich erinnere mich noch an die Erzählung eines unserer Ethnologie-Professoren, der lange mit seiner Familie auf einer indonesischen Insel gelebt hatte. Bei ihrer Ankunft beobachteten die Dorfbewohner mit Staunen, wie sie aus ihren sechs Koffern und drei Aluminiumkisten lauter Dinge holten, mit denen die Familie ihr neues Heim einrichtete (was dort unüblich war, man hielt die Räume frei und holte seinen Besitz nur zu besonderen Anlässen aus dem Speicherhort).

Nach einer alten Überlieferung, verdankten die westlichen Menschen ihren Reichtum nämlich einem Raub, der sich vor langer Zeit ereignet hatte: In einem Dorf in der Umgebung hatte ein Mädchen einen Baum gepflanzt, der anstelle von Früchten alle Reichtümer dieser Erde trug. Seefahrer aus dem Westen hatten ihn aus weiter Ferne funkeln sehen, ausgegraben und in ihre Heimat gebracht.

Als die Dorfbewohner dann auch noch einmal ein deutsches 50-Pfennig-Stück zu sehen bekamen, geriet die Familie vollends in Erklärungsnot und sah sich mit massiven Forderungen konfrontiert.

pathologe, Sonntag, 6. September 2009, 10:34
Diese Art anders zu denken muessen Sie sich in anderen afrikanischen Laendern auch angewoehnen. Nigeria beispielsweise. Zwei Jahre war ich dort und habe aehnliche Erfahrungen gemacht. Es wird vorausgesetzt, dass man, als Oyinbo, als Weisser, Geschenke mitbringt. "What did you bring for me?" ist die Begruessung, die man hoert, wenn man wieder vor Ort ist. Und dabei werden dann Geschenke in Richtung Laptop, Digitalkamera oder Mobiltelefon erwartet. Bei den Mobiltelefonen dann allerdings auch die High-End-Geraete. Denn in Europa, so scheint die Meinung vorzuherrschen, sei ja alles billig und so ein Expat schwimme ja nur so im Geld. Anmerkung dazu ist, dass die Nigerianer annehmen (vielleicht auch wissen? Ich bin allerdings nicht in der Sparte unterwegs), dass ein Mitarbeiter einer Oelfirma monatlich etwa 15.000 US-Dollar verdient. Cash. Und da kann er ja schon was davon abgeben.
Es fehlt den Afrikanern auch an Wertmassstaeben, Vergleichsmoeglichkeiten, Sinn fuer Werte. So ist es in Nigeria beispielsweise "ueblich", wenn ein Nigerianer eine Freundin hat (und dabei kann er verheiratet sein), dass er der Freundin die Miete zahlt oder bei seinem Besuch mal so 150.000 Naira (etwa 700 Euro) als "Unterstuetzung" liegen laesst. Auch eine "Spende" an Familienangehoerige in Hoehe von 1000 US-Dollar ist "normal". Dabei verdient ein Polizist monatlich etwa 25.000 Naira (115 Euro), ein Fahrer ebenfalls. Ich kenne eine Chefsekretaerin, die verdiente 70.000 Naira (325 Euro) und war damit schon besser gestellt. Wenn man nun gegenueberstellt, dass sich wirklich "reiche" Nigerianer dann den Luxus einer Freundin leisten und der entsprechende Geldgeschenke machen koennen, fragt man sich, wie diese Jungs an das Geld kommen.

Aber generell gilt: wenn Sie was geben, dann ist da bestimmt noch mehr zu holen. Trick in Nigeria: immer nur ganz wenig Geld in der Tasche haben, das richtige Geld versteckt am Koerper. Dann kann man das wenige weggeben und sagen, dass da nichts mehr ist.

arboretum, Sonntag, 6. September 2009, 13:29
Meine ältere Schwester hatte bei einem ihrer früheren Arbeitgeber einen afrikanischen Kollegen, ich glaube, der war auch aus Nigeria. Er erzählte ihr, dass er gerne öfter in die alte Heimat fliegen und seine Familie besuchen würde, sich das aber wegen all der Geschenke, die von ihm erwartet würden, nur alle paar Jahre leisten könnte.

Auf der Schlangenfarm, auf der ich einst arbeitete, gab es einen Studenten aus Ghana. Der bestätigte das nach einem seiner seltenen Besuche daheim und erzählte mir, dass er schon bei der Einreise von den Zollbeamten abkassiert wurde. Da er an seiner aufgrund des längeren Deutschlandaufenthaltes blasseren Haut sofort als Heimkehrer aus Europa erkannt wurde, stiegen sofort die Zahlungsforderungen in die Höhe.

zampano, Sonntag, 6. September 2009, 20:52
Schön beschrieben.

Hier drüben in Asien sind die Verhältnisse in Bezug zur Erwartungshaltung Westlern gegenüber von Land zu Land sicherlich ziemlich unterschiedlich aber trotzdem rätsel auch ich immer wieder über "unkluges" Bettel- / Geschäftsverhalten:
Sicherlich müssten doch über die Jahre gesammelte Erfahrungen in der jeweiligen Gesellschaftsschicht zur Erprobung verschiedener Strategien geführt haben und diese je nach Ausbeute für mehr oder weniger gut befunden worden seien. Allzu dominant oder dreistes Einfordern von Geld würde dementsprechend nur kurzfristig lohnenswert sein und langfristig Probleme aufwerfen (Polizei durch Beschwerden aggressiver, Westler meiden Gegend, ignorieren Bettler...).

Aber vermutlich ist dies einfach zu betriebswirtschaftlich von-oben-herab gedacht. Während ich eher die Gruppe aller Bettler als großes Ganzes wahrnehme, ist das sicherlich für die einzelnen Personen wesentlich individualer empfunden.
Wenn mich der Hunger jetzt und hier drückt, wird jede sich bietende Chance wahrgenommen und kann nicht über langfristige Auswirkungen für die Bettlerbranche nachgedacht werden.

Ich erwisch' mich immer wieder in pseudo-erzieherischen Maßnahmen indem ich nur stillen, zurückhaltenden Menschen etwas Gebe und hoffe dass sich das über die Jahre vielleicht mal auswirkt. Was natürlich Unsinn ist, denn wenn alle Bettler auf einmal still und zurückhaltend wären würde sie vermutlich keiner mehr war nehmen und gar nicht mehr unterstützen. Aber was solls - irgendwelche Richtlininen muss man ja haben.

badschandex, Montag, 7. September 2009, 02:41
Ganz ähnliche Interaktionen gab es vor ca. 25 Jahren zwischen Ossis und Wessis (die damals noch nicht so genannt wurden).

Die Eltern einer Mitschülerin hatten einige Mühe, ihren Vettern im Osten zu erklären, dass sie, bei aller Freude am Packen von Westwarenpaketen, dennoch keine Isoliertapete für 60,-- DM pro Quadratmeter gen Osten schicken würden, denn das konnten sie sich auch für ihr eigenes Haus nicht leisten.

Später nach der Wende hat meine Familie mit unseren eigenen ostdeutschen Verwandten ähnliche Erfahrungen gemacht.

Vielleicht sind solche Geschichten eher eine Folge großer Einkommens- denn kultureller Unterschiede.

damenwahl, Montag, 7. September 2009, 11:27
Ich bitte um Verzeihung, Sonntags habe ich keinen Fahrer, kann daher nicht ins Büro, habe daher kein Internet.

Was soll ich sagen: das Wochenende bescherte gleich die nächste derartige Episode. Fahrer Nummer zwei hatte ich am Freitag Abend mit zwei Stunden Vorwarnung abgesagt, weil ein Freund mich direkt zum Abendessen abholen konnte. Am Samstag morgen forderte mein Fahrer dennoch Bezahlung - er habe ja auf mich gewartet und Sprit ausgegeben? Und wieder mal war ich zu verunsichert, um zu widerstehen und habe bezahlt. Zum Dank war er dann heute morgen 25 Minuten zu spät. Die ich vor der Haustür, an der Hauptstrasse gewartet habe. Mich rechtzeitig anzurufen kommt ihm nicht in den Sinn. Vielleicht ist es Zeit, ein weiteres Mal den Fahrer zu wechseln. Oder ich fahre gleich Schwarztaxi, würde ich da alle vier Wochen ausgeraubt, käme ich vermutlich auf etwa dieselben Kosten.

Vielen Dank für die Blumen, Herr Krass. Freut mich!

Frau Arboretum: schöne Geschichte mit dem Baum. Kann ich nachvollziehen. Und es ist tatsächlich so, daß viele Kongolesen unter den hiesigen Methoden noch mehr leiden als wir Expatriates. Es gibt einheimische Kollegen, die alle halbe Jahre in der Stadt umziehen - stets auf der Flucht vor der Familie. Und natürlich tun 1000 CF Bestechung bei kleinem Gehalt mehr weh, als bei unseren Löhnen. Es tröstet mich zumindest etwas, zu wissen, daß es anderen genauso geht. Völlig diskriminierungsfrei, gewissermaßen.

Herr Pathologe, vielleicht sollte ich stattdessen einfach versuchen, Geliebte eines Nigerianers zu werden? Dann bekäme ich endlich mal Geld, statt dauernd welches auszugeben. Im Ernst: natürlich spielen die fehlenden Maßstäbe - besonders beim Verlangen meines Französischlehrers nach einem Laptop - eine Rolle. Nehme ich an. Bin aber dennoch verwundert, immerhin hat er in Angola für die Franzosen gearbeitet, war in Europa auf Reisen... er sollte es eigentlich besser wissen, oder?

Sie haben, Herr Zampano, jene Frage auf den Punkt gebracht, die mich am meisten umtreibt: wie bescheuert - entschuldigen Sie die undamenhafte Ausdrucksweise - ist diese kurzfristige Denken, bitte? Ich versuche es mit denselben Erziehungsmethoden, mit demselben Mißerfolg. Aber man soll ja nie aufgeben. Vielleicht suche ich mir tatsächlich einen neuen Taxifahrer. Oder muß man diese Erziehungsmaßnahmen bereits als postkolonial-imperialistische, eurozentristische Denkweise verurteilen? Ach!

Herr/Frau (?) badschandex: Die Einkommensunterschiede haben ganz sicher erheblichen Anteil - aber das erklärt eben doch nicht alles. Dafür sind manche Begebenheiten einfach zu sonderbar.