Mittwoch, 20. Oktober 2010
Tag 20 – Das beste Buch, das du während der Schulzeit als Lektüre gelesen hast
Die Lektüre meiner Schulzeit entsprach im großen und ganzen den allgemeinen Standards: Effi Briest, Der Tod in Venedig, Faust. In der Oberstufe wagte ein Lehrer etwas Neues, las mit uns "Der Nazi und der Friseur", was mir durchaus gefiel, noch mehr im Gedächtnis geblieben ist mir jedoch Frank Baers "Magermilchbande".

Fünf Kinder werden mit der Kinderlandverschickung aus Berlin evakuiert und machen sich irgendwann alleine auf den Rückweg, gegen alle Widerstände. Authentisch im Tonfall (Kriegsverletzte haben "abbe Arme und Beine") und sorgfältig recherchiert berichtet der Autor von großen und kleinen Begebenheiten und Abenteuern, eingebettet in die Geschichte der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Die Intensität meiner Erinnerung hat vermutlich weniger mit dem Buch selbst zu tun (obwohl es wirklich sehr gut ist!), sondern vor allem mit der Anleitung durch unseren Lehrer. Immer mit Bleistift lesen, Anmerkungen, Unterstreichungen, und dann wurde diskutiert: über Begrifflichkeiten, Formfragen, die künstlerische Komposition, Interpretation und Bedeutung bestimmter Ereignisse oder Wendungen. Alles war erlaubt, solange man es nur begründen konnte.

Besonders gut erinnere ich mich an folgende Episode: die Kinder sind in einem Güterwaggon gen Osten unterwegs, es gibt kein Toilettenpapier, die Fahrt dauert schier endlos. Der Streber-Bengel der Gruppe hat ein Buch dabei und angesichts der Notdurft der Gruppe (der Waggon ist rappelvoll mit Kindern) reißt er die gelesenen Seiten heraus und gibt sie an die Mitschüler weiter. Der Junge liest, und liest, und liest, im Wettlauf mit den Bedürfnissen der anderen, um immer mehr Papierblätter zur Verfügung stellen zu können.
Lange haben wir damals in der Schule über jenes Kapitel diskutiert, über den Wert von Büchern, und ob er im Inhalt liege oder im gebundenen Papier. Wie wir uns in solcher Situation verhalten würden, was uns Bücher bedeuten und wie Notsituationen die Prioritäten ändern.

Auch wenn ich das haptische an Büchern mag und Bibliotheksbücher manchmal nachträglich kaufe, weil ich sie besitzen will: dieses Buch, diese Episode und diese Diskussion sind mir als Mahnung an die Vergänglichkeit aller Dinge im Gedächtnis geblieben.

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