Sonntag, 15. März 2009
Unaussprechliche Sehnsucht

Die Musik schliesst dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äussern Sinnenwelt, die ihn umgibt und in der er alle bestimmten Gefühle zurücklässt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben.
E.T.A. Hoffmann


An manchen Tagen habe ich doch ein bißchen Heimweh, nach irgendeinem Zuhause. Habe ja im Moment und in absehbarer Zukunft keines. An sentimentalen Tagen wie diesem wäre ich gerne seßhaft, um alle meine Habseligkeiten, Bücher, CDs, Möbel endlich wieder auspacken und um mich herum versammeln zu können. In Wien – ja, ausgerechnet da! – habe ich nichts mehr vermißt als meine Musik. Mein bestes Weihnachtsgeschenk letztes Jahr habe ich mir selber verehrt, eine kleine aber großartige externe Festplatte. Da paßt alles drauf, was mir lieb und teuer ist – leider waren die Weihnachtsfeiertage zu kurz, um alles zu überspielen, obwohl ich die gesamte Familie zur Mithilfe zwangsverpflichtet hatte. Immerhin, die dreihundert wichtigsten Aufnahmen sind mit mir in die Staaten ausgereist. Nun leide ich zwar unter der unsäglichen Tonqualität meins Notebooks (meine geschätzten ALR Jordan Boxen lagern ebenfalls im elterlichen Haushalt), aber das ist Jammern auf hohem Niveau.
Ich bin völlig närrisch nach Musik, schon immer gewesen. Als junges Mädchen schwärmte ich vor allem für Baßstimmen. Mit fünfzehn war ich entsetzlich verliebt in den Baßbariton am lokalen Opernhaus. Meine Schulfreundinnen trugen Fotos von Robbie Williams oder den Ärzten im Portemonnaie mit sich herum – ich wollte auch mittun und hatte ein Foto meines Lieblingssängers aus dem Jahresprospekt ausgeschnitten. Das Highlight jener Jahre war mein Schulpraktikum in der Oper – neben vielen ereignislosen Tagen im Kostümfundus über diversen Sortiertätigkeiten durfte ich einen Abend den Tontechniker begleiten – in die Zauberflöte und ins Zauberland der Technikkabine. In der Pause nahm der Techniker mich brav mit in die Kantine, wo ich mich verlegen und schüchtern im Türrahmen herumdrückte und die Objekte meiner Bewunderung aus nächster Nähe anstaunen durfte – bis fraglicher Baß eintrat und mich anlächelte. MICH anlächelte! Ich ging eine Woche lang auf Wolken... mindestens.*
Mittlerweile habe ich mich in meiner Narretei auf Tenöre verlegt. Heldentenöre, bevorzugt. Ich wäre vermutlich wahnsinnig genug, einen Tenor mit schöner Stimme vom Fleck weg zu heiraten, bei Musik verliere ich jegliche Kontrolle über meinen Verstand. Leider habe ich noch nie einen Antrag von einem Sänger erhalten – der Realitätstest steht also noch aus.

Mein Musikgeschmack ist wenig wählerisch: ich mag immer das am liebsten, was ich gerade höre. Lieblingsmusik gibt es nicht. Ungeliebte Musik auch nicht wirklich, wobei ich zugeben muß, daß mein Horizont bei Zwölftonmusik an seine Grenzen stößt.
Ich habe auch kein schlechtes Gewissen, Werke zwei- und dreifach zu erwerben. Meine erste Opern-Gesamtaufnahme war die Zauberflöte, mit sechzehn Jahren innigster Geburtstagswunsch, zusammen mit der passenden Partitur (NMA, natürlich). Aber dann erschien vor einigen Jahren die Aufnahme mit William Chr*stie und Les Arts Fl*rissants– leider in Preisklassen die sich bei studentischem Budget verbieten. Glücklicherweise kamen irgendwann bessere Zeiten und Gelegenheiten – in Form eines Saturn-Marktes zwischen meiner Wohnung und dem Fitneßstudio meiner Wahl. Immer wenn es an der rechten Motivation zum Sport mangelte (also oft) blieb ich im Saturn hängen, der eine erstaunlich große Auswahl an klassischer Musik bot. Ich kann stundenlang stöbern, in Aufnahmen reinhören, die Verkäufer mit immer neuen Wünschen in den Wahnsinn treiben, finde mich irgendwann mit vollgeladenen Armen in der Kassenschlange und begreife: ich kann nicht einfach einen dreistelligen Betrag für Musik auf den Kopf hauen, nicht mal als berufstätiger Steuerzahler. Also gehe ich zurück, ringe mit mir, überlege hin und her, und entscheide mich am Ende für zwei Aufnahmen, die nach utilitaristischen Kriterien den größten Nutzen stiften: eine ganz neue, teure Aufnahme von Werken, die ich schon lange begehre und ein oder zwei interessante Schnäppchen. Nach einem solchen Ausflug hatte ich natürlich erst Recht keine Lust mehr auf Sport, weil ich ja meine Neuerwerbungen hören wollte. Inzwischen sucht mich die Versuchung nicht mehr ganz so oft heim, weil es keinen Saturn mehr auf dem Weg zum Fitneßstudio gibt.
Neben der zweiten Zauberflöte konnte ich in fraglichem Saturn auch endlich eine Aufnahme von Verdis Don Carlos in französischer Sprache erstehen. Auf der Wunschliste seit 2003, und seit 2007 in meinem Besitz. Ha! Ich möchte nicht den Oberlehrer geben, aber: Die Oper wurde von Verdi ursprünglich für ein französisches Libretto als Grand Opéra für Paris komponiert, auch wenn sich historisch vor allem die gekürzte italienische Fassung durchgesetzt hat. Berechtigt insofern, als Verdi höchstselbst die Musik an das italienische Libretto anpaßte - aber ich mag die französische Fassung lieber.

Überhaupt Noten und Musik, da brennen bei mir regelmäßig die Sicherungen durch. Ein völlig irrationaler Haben-Wollen Reflex übernimmt die Steuerung und eine halbe Stunde später bin ich arm an Bargeld, aber reich an Neuerwerbungen. Bei antiquarischen Notenhandlungen muß man mich an die Hand nehmen und mit sanfter Gewalt weiterziehen, ansonsten versacke ich und ruiniere mich hoffnungslos. Ich liebe Noten, diese kleinen schwarzen Kullerchen, die für mich den Schlüssel zu tieferem Verständnis der Musik darstellen, jenseits der Grenzen meines unzureichenden Gehörs. Und ich will immer beides haben: die Partitur fürs Verständnis zum Hören und den Klavierauszug zum ausprobieren – bei Mozart komme ich zur Not auch mit der Partitur am Klavier noch zurecht, aber bei Verdi, nein, da mangelt es mir an den notwendigen Fertigkeiten.

Wenn ich könnte wie ich wollte, würde ich auch alle meine Noten und Sekundärliteratur (ganz besonders diese dicke Sammlung) mitnehmen bei meinen Ausflügen nach Übersee – leider wurden solche absurden Nöte von den Fluglinien nicht berücksichtigt bei Festlegung der Gepäckobergrenzen, und so begnüge ich mich vorübergehend mit Hören – und hänge an diesem tristen Sonntag meinem Heimweh nach.

http://scriptorium.lib.duke.edu/mazzoni/exhibit/librettos/D468.html
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Don_Carlo_poster.jpg


*Stelle gerade mit Hilfe von Google fest, daß der Mann immer noch sehr adrett ausschaut und leidlich Karriere gemacht hat - an meinem damaligen Geschmack ist also nichts auszusetzen, außer einer leichten Weltfremdheit.

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Schwarzes Schätzchen
An manchen Tagen überfällt mich das Heimweh; nach überhaupt irgendeinem Zuhause. Habe ja im Moment und in absehbarer Zukunft keines. An sentimentalen Tagen wie diesem wäre ich gerne seßhaft, um alle meine Habseligkeiten, Bücher, CDs, Möbel endlich wieder auspacken zu können. Meine erste Anschaffung, wenn ich irgendwann wieder ein Zuhause habe, wird ein Klavier sein.
Wir – ich sollte wohl sagen: meine Eltern – hatten im Laufe der Jahre viele Tasteninstrumente. Zeitweise sogar zwei. Das erste war ein häßliches braunes Klavier, mit einer noch scheußlicheren braunen Bank davor und einem mattgoldenen Lämpchen auf dem Deckel. Marke unbekannt, habe ich verdrängt.
Nach vier Jahren Unterricht bei einer Klavierstudentin der nahen Hochschule wechselte ich die Lehrerin. Ausführliche Erkundigungen in der Region führten zu zwei Namen von empfehlenswerten Damen der Zunft. Die erste wohnte zu weit weg, der zweiten wurde ich vorgestellt. Zehn Jahre alt, saß ich auf dem Sofa in einem kleinen Wohnzimmer, das ganz von einem großen Steinway Flügel und vielen, vielen Bildern von Musiker und Komponisten dominiert wurde. Ich weiß noch, daß ich mich bei einer Fleischbeschau wähnte, während meine Finger untersucht, verbogen und gezogen wurden. Dann mußte ich vorspielen – und wurde als Schülerin akzeptiert. Ein Jahr später wechselte auch meine Schwester und mit dem gestiegenen musikalischen Engagement wurde der erste Flügel angeschafft. Grotrian-Steinweg. Gebraucht gekauft, fürchterlich abgewrackt, mühsam aufgearbeitet und in mattschwarzer Lackierung hielt er Einzug in unserem Wohnzimmer. Und dominierte sofort die Szene wie auch unser aller Leben. Die Mechanik flüssig, der Widerstand beim Anschlag angenehm, die Pedale gerade richtig gängig. Im Klang war er ungewöhnlich warm und weich, eher ein bißchen wie Steinway, aber doch eigenwillig. Wieviele Stunden ich daran verbracht habe? Da muß ich rechnen... dreitausend, vielleicht auch mehr? Irgendwann wurde – mit nunmehr drei musikalisch aktiven Damen im Haus – noch ein weiteres Klavier angeschafft. Yamaha. Weiß. In meinem Zimmer. Bei aller Kulturbeflissenheit wollten meine Eltern doch abends irgendwann ihre Ruhe haben, ich jedoch üben. Das japanische Prunkstück wurde einige Jahre später ganz unsentimental abgestoßen, als kein Bedarf mehr bestand. Schon vorher jedoch mußte der Grotrian-Steinweg dem Spielerglück meiner Eltern weichen. Mehr aus Spaß hatten sie an der Hochschule auf einen alten Steinway Flügel aus einem der Überäume in einer Auktion mitgeboten – und den Zuschlag erhalten. Das neues Herzstück des Wohnzimmers war nicht mehr dezent-matt lackiert, sondern glänzte herrisch. Die Elfenbeintasten waren zugegebenermaßen ein Vergnügen, Mechanik und Klang einwandfrei – aber so richtig warm geworden sind wir nie. Wohl auch, weil ich damals schon ausgezogen war und sich nie die vertraute Nähe ungezählter miteinander verbrachter Übestunden einstellte. Angeschafft zu Gunsten meiner hochtalentierten Schwester, bin ich heute – nachdem wir alle nur noch sporadische Pensionsgäste im Hotel Mama sind – die einzige, die Klavierüben und Heimaturlaub nicht für einen Widerspruch hält. Und obwohl der Steinway fraglos ein fantastisches Instrument ist, vermisse ich immer noch das alte mattschwarze Schätzchen aus Braunschweig. So einen will ich wieder haben, das weiß ich bestimmt.



JM http://www.logodesignweb.com/stockphoto

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